E-Book, Deutsch, 695 Seiten
Gerling Eine bessere Welt ist möglich
2. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8197-5644-3
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 695 Seiten
ISBN: 978-3-8197-5644-3
Verlag: epubli
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lebte in Köln, Berlin, Hamburg und Itzehoe und zurzeit wieder in Köln; Buchhändlerlehre, Studium (Germanistik, Anglistik, Geschichte in Köln; Politikwissenschaft, Verwaltungswissenschaften, Soziologie in Hagen); hat gearbeitet als Arbeitsvermittler, Bäckereiverkäufer, Buchhändler, Datenqualitätsmanager, Dozent für Deutsch, Englisch und Geschichte, Kellner, Konzeptioner, Putzkraft, Texter, typografischer Gestalter ... und die ganze Zeit über geschrieben
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Verlorene Illusionen
Bei der Wohnungsbesichtigung hatten sie ihren Spaß. Der Zufall (=die Schicksalsgöttin) bescherte ihnen einen Makler, der jung war, und dies vielleicht seine erste Durchführung eines Besichtigungstermins. Ohne sich abgesprochen zu haben, zogen sie eine Show ab, die ihn sichtlich beeindruckte. Sie waren sich unabhängig voneinander bewusst, dass sie eine Erscheinung boten, so wie sie dort auftauchten, kurz vor Ende des angegebenen Zeitfensters: der große, exotische Mann im Werberkostüm, flankiert von zwei schönen Frauen, apart und im weißen Kleid die eine, hell und voller Energie die andere. Unter den immer noch zahlreichen Leuten, die sich in der Wohnung aufhielten, fielen sie sofort auf und wurden mit teils bewundernden, teils kritischen Blicken bedacht. Sie machten alle drei den Eindruck, als sei ihnen der Termin lästig, als erwiesen sie dem Makler eine Gnade, würden sie sich für die Wohnung entscheiden.
Harriet war ganz upper class. Hollmann, sagte sie in dem Ton, der ihm bedeuten sollte, er begreife hoffentlich, wen er da vor sich habe, und als sie sah, er wusste es, stellte sie ihm nur noch Fragen, die er nicht beantworten konnte (»Ach so, das wissen Sie nicht. Eine Biotonne wäre uns natürlich schon wichtig. Sie machen das hier noch nicht so lange, oder? Fragen Sie doch mal eben Ihren Chef. – Der arbeitet samstags nicht? Na!«). Elli bewegte sich durch die Wohnung, als sei schon klar, dass sie einziehen würde. Mit entschlossenen Schritten ging sie von Zimmer zu Zimmer, kritisch betrachtete sie einen dunklen Fleck auf dem Boden unter der Gastherme (»Dat kommt aber noch weg, oder? Jeht dat Ding überhaupt richtig?«). Julien sah ihr an, wie aufgeregt sie war, und dass sich zwischendurch ihr Blick verdunkelte, vielleicht weil sie sich vorstellte, dass ihre Möbel hier noch schäbiger wirken würden, und dass das überhaupt nicht ging. Sie war begeistert von den hellen Zimmern und dem Laminat, das fast aussah wie echtes Parkett, kein Vergleich zu ihrem fiesen Teppich.
Als sie an einem der bodentiefen Fenster stand und auf die Bäume und benachbarten Rotklinkerhäuser schaute, trat Julien neben sie und legte den Arm um ihre Schulter.
»Gefällt’s dir?«
»Ja«, sagte sie aus tiefstem Herzen. »Aber jlaubst du, ich hab eine Chance? So viele Leute, Juli! Und die haben bestimmt alle ein Superjob und Bausparvertrag und so.«
»Kriegen wir hin«, sagte er. Hier konnte er sich seine Schwester vorstellen, in einer vernünftig ausgestatteten Wohnung, mit noch nicht ganz versnobten Nachbarn, in einer Gegend, in der sie keine Angst haben musste. Sie hatte das verdient, mehr als jeder der Medizinstudenten mit Elternbürgschaft und Mini vor der Tür, und schon dreimal mehr als die überheblichen Doppelverdiener, die sich schon während der Besichtigung in die Haare kriegten. Nachdem er sich alle Räume in Ruhe angesehen hatte, maßvollen Schrittes, die Hände auf den Rücken gelegt und mit unbewegtem Gesichtsausdruck jedes Detail erfassend, ging Julien zu dem Makler, der die Auskunftsbögen ausgab und einsammelte. Er würde seiner Schwester die Wohnung verschaffen, und dazu musste er das Maximum bieten. Er war weder Beamter im gehobenen Dienst wie Henning, noch verfügte er über Siegfrieds angeborene Seriosität (und dessen unbefristeten, ebenso seriösen Arbeitsvertrag), und er war schon gar nicht Harriet, die zwar kein festes Einkommen zu bieten hatte, dafür Vermögen und einen Namen, verbunden mit einer Herkunft und dem entsprechenden Auftreten. Er war aber immer noch der Juli: ehrgeizig, willensstark und fest entschlossen, sich zu holen, was ihm zustand, egal wie (außer durch Hinlegen). Und im Gegensatz zu damals, als er seine eigene Wohnung an der Elbe anmietete, fürchtete er nicht mehr, erkannt zu werden als der, der er war, im Gegenteil. Falls ihn der andere für unseriös hielt, na und? Julien nahm einen der Bögen und überflog ihn, dann begann er ein Gespräch mit dem Mann. Mit Blödsinn wie Arbeitsverhältnis und Schufa-Auskunft hielt er sich gar nicht erst auf, sondern sagte, er wolle die Wohnung für seine Schwester anmieten, die nun aus Köln hierher komme, um zu studieren. Er reichte dem Mann seine Karte, nannte ihm sein Jahreseinkommen (wie es inklusive des Auftrags von Von de Vos & Siemssen ausgesehen hätte) und sagte, seinetwegen könne er die Miete auch gleich für zwei Jahre im Voraus bezahlen. Auf den irritierten Blick des Maklers hin lächelte er und meinte, er wisse ja, dass manche Eigentümer lieber einen Mieter mit unbefristetem Vertrag im höheren Dienst hätten statt eines freien Kreativen. An Sicherheit solle es nicht scheitern! Während der Makler auf die Visitenkarte schaute, dachte Julien, dass er eben einen Kredit aufnehmen würde, sollte der Vermieter darauf eingehen, aber den würde er schon irgendwie bekommen. In der Zwischenzeit trat Harriet zu ihnen, nahm seinen Arm und sah ihn ein bisschen leidend an.
»Und, was denkst du, mon ami?«, sagte sie und drückte ganz leicht seinen Arm. »Ist das das Richtige für Gabrielle?«
Er tat ebenso skeptisch, zuckte mit den Schultern und sah sich um. »Tja, soweit – eigentlich nicht verkehrt. Die Küche, da müsste noch das eine oder andere behoben werden. Aber sonst.«
»Behoben, was meinen Sie?«, fragte der Makler.
Die Küche war exklusiv ausgestattet, fast wie Juliens eigene, nicht neu, aber ähnlich ungenutzt. Ohne den Mann anzusehen, sagte Julien: »Ich meine die Gebrauchsspuren.«
Er ging in die Küche und winkte den Makler zu sich. Seine scharfer Blick fürs Detail hatte ihn die kleinsten Zeichen der Abnutzung finden lassen, an den Ecken, auf den Arbeitsflächen und dem Induktionsfeld, und natürlich, der Fleck auf den Fliesen, sowas sei absolut unmöglich bei dem Preis.
»Also der Preis … für die Lage, und die Ausstattung—« warf der Makler schüchtern ein, Julien winkte ab.
»Da haben wir ganz andere Angebote«, unterbrach er unwirsch, »außerdem kann ich wohl grundsätzlich erwarten, dass ich für mein Geld bekomme, was in der Anzeige abgebildet war. Oder seh ich das falsch? Beim Einsatz von Photoshop muss man schon ein bisschen aufpassen.« Er sah aus dem Augenwinkel, wie Harriet im Türrahmen ein Lächeln unterdrückte und sich abwandte.
»Nein, natürlich, da haben Sie natürlich recht – also ja, da müsste man dann—«
Julien nickte. »Sie kümmern sich. Gut.«
Und dann kam Elli aus dem Bad. Ohne zu wissen, dass sie Gabrielle war und demnächst studieren würde, sagte sie, und so akzentfrei hatte Julien sie noch nie sprechen gehört: »Ja also von mir aus – ich könnte mir das ganz gut vorstellen«, als habe sie allein es in der Hand.
Sie verwickelten den Makler noch weiter ins Gespräch und ließen sich auch von zwischenfragenden Interessenten nicht stören, so lange, bis sie schließlich die Letzten waren. Der junge Mann schien mittlerweile breitgequatscht und willens, ihnen die Wohnung sofort zu geben. Julien machte noch ein bisschen auf dicke Hose und füllte den Bogen aus reiner Großzügigkeit aus: Nötig habe er das nicht, sagte sein Blick. Er stand schon mit Harriet im Treppenhaus, da sah er Elli noch mit dem Makler reden. Der machte ein überraschtes Gesicht, dann lächelte er, Elli zwinkerte ihm zu und ließ ihn stehen.
»Was hast du dem Typen eigentlich gesagt?«, fragte Julien, als sie danach bei einem Kaffee in der Sonne saßen.
»Nix.« Sie machte sich eine Zigarette an, zufrieden schaute sie auf die Straße.
»Für nix war der aber janz schön selig«, sagte er misstrauisch. Nicht dass sie die familiäre Tradition des zweckorientierten Sichhinlegens fortführen wollte, wo er selbst jetzt endgültig damit aufgehört hatte! Aber eigentlich traute er ihr das nicht zu.
»Und, was meint ihr? Bekommt ihr die Wohnung?«, fragte Harriet. »Ich fand sie sehr schön. So hell.«
»Mit gefällt sie auch. Aber der Typ ist ein Lappen. Wahrscheinlich hat Elli doch Recht und die geht an so einen reichen Sohn. Der eine Vater hatte bestimmt ordentlich Schmiergeld in der Tasche. – Ejal, wir finden schon wat.«
»Abwarten«, sagte Elli vergnügt. »Auf jeden Fall stimmte dat, Harriet. War echt lustig, sowat mal mitzumachen.«
Auch später, als sie bei offener Balkontür auf dem Sofa lagen und sich das Spiel der Franzosen gegen Argentinien ansahen, fragte er sie nochmal, was sie gesagt hatte, aber sie schwieg beharrlich. Sie lag in seinem Arm, den Kopf an seine Brust gelehnt, und ob sie es aus Reflex tat oder weil sie ihn ablenken wollte, öffnete ihre Hand zwei Knöpfe seines Hemds und verschwand in seinem Ausschnitt. Sie streichelte ihn wie früher, dabei schaute sie auf den Fernseher. Das tat gut, und obwohl das Spiel hochdramatisch war, legte er den Kopf zurück und schloss die Augen.
»Dat verlieren die«, sagte sie, »die Franzosen.«
»Blödsinn. Die werden Weltmeister.«
»Meinst du?«
»Die müssen«, sagte er, immer noch mit geschlossenen Augen, er dachte an Henning und daran, dass es eigentlich scheißegal war, wer gewann. Dann fiel ihm Ellis Reaktion auf seine Bemerkungen über Henning ein, und wieder der Makler, und er war zurück in der Gegenwart.
»Hör mal«, sagte er, »du baust aber keinen Scheiß, oder?«
»Wie, wat meinst du?«, fragte sie erstaunt.
»Ja wegen dem Makler.«
Sie sah ihn an mit Véroniques Blick, sie lächelte und sagte: »Keine Angst, Jung. Auf sowat würd ich nie kommen«, als ob sie nicht nur ahnte, was er gerade meinte, und ihn beschlich wieder der Verdacht, dass sie doch mehr wusste, als sie sagte. Er schwieg...