Gerlach | Ein falsches Wort und du bist tot | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 216 Seiten

Gerlach Ein falsches Wort und du bist tot


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95988-197-5
Verlag: Literatur Quickie Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 216 Seiten

ISBN: 978-3-95988-197-5
Verlag: Literatur Quickie Verlag
Format: EPUB
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''Wenn ich schreibe', so sagte Gunter Gerlach einmal, 'verschwinde ich in meinen Büchern. Ich lebe in einer Welt, die ich selbst geschaffen habe. Das ist das Paradies.' In dieses Paradies können wir dem Autor folgen und uns an seinen höchst eigenwilligen, verschmitzt-absurden Geschichten erfreuen. Zu Recht wurde Gerlach als Meister des Grotesken bezeichnet; in seinen mehrfach preisgekrönten Kurzgeschichten ebenso wie in seinen Romanen, wie etwa Irgendwo in Hamburg, Der Haifischmann oder Ich bin nicht, hat er sich zudem als Meister eines knappen, lakonischen Stils erwiesen. Eine grausame Krankheit hat uns den lieben Freund und geschätzten Kollegen geraubt. In den hier versammelten Stories kommt er uns noch einmal entgegen.' Regula Venske, Autorin und Präsidentin des PEN Zentrum, Deutschland, April 2021

Gunter Gerlach wurde 1941 in Leipzig geboren. Er absolvierte eine Ausbildung an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, arbeitete als Texter und Fotograf. Er veröffentlichte mehrere Romane und Krimis und gewann einige Literaturpreise - unter anderem den Deutschen Krimi Preis und mehrmals den Friedrich-Glauser-Preis.

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DER CHEF
Ich bin ihr auf einer der Felstreppen zum Oberland begegnet. Ich kam von unten. Zuerst gerieten nur ihre nackten Füße in meinen Blick. Ihre Zehen waren kleine Würmer. Mit hoher Beweglichkeit wuchsen sie aus einem breiten Knochen. Schnell senkte sie den Vorhang ihres Rocks. Bleiches Blau. Sie ging vorbei und drehte sich um. Ihre Augen ein bleiches Blau. Meine Hand verfehlte das hölzerne Geländer, griff ins Leere. Ich stürzte, überschlug mich und lag am Ende der Treppe mit schmerzenden Knien und Ellbogen vor ihr. Die von den Baugerüsten gestohlenen Schrauben für unser Bohrgestänge hüpften aus meinen Taschen, sprangen um mich herum. Flöhe. Sie lachte und stieg über mich hinweg. Wir sind fünf. Wir bohren nur montags. Wir sind sicher, dass es der richtige Tag ist. Mit einem Montag hat die Welt angefangen. Von morgens bis abends bohren wir ein Loch in einer schmalen Senke. Diese Arbeit haben wir uns selbst ausgedacht. Je nach unserer Tätigkeit haben wir uns neue Namen gegeben: Drehwurm, Klopfer, Schmierer und Schrauber. Ich heiße Dieb. Ich besorge die notwendigen Werkzeuge. Unsere Idee ist, so lange zu bohren, bis uns der Chef nicht mehr übersehen kann. Wir glauben, er kommt nur an einem Montag. Wir können uns nicht vorstellen, dass er an einem anderen Tag seine Kontrolle macht. Wenn er vor uns steht, wollen wir ihm unsere Fragen stellen. An den ersten Montagen hat sich niemand um uns gekümmert. Heute steht plötzlich ein Bauer am Rand der Senke und sieht uns zu. Nach einer Weile stemmt er die Arme in die Hüften und zieht den Schleim durch die Nase hoch. „Was macht ihr da?“ „Ach, wir bohren“, sagt Drehwurm. „Nur so.“ Drehwurms Kopf schaukelt auf seinem Hals wie bei einem gefangenen Tier. Der Bauer nickt. Schmierer wirft mir einen Blick zu. „Es funktioniert“, murmelt er. Der Bauer geht wieder. Vielleicht holt er den Chef. Doch den ganzen Tag kommt niemand mehr. Manchmal fürchten wir, der Chef ist tot. So lange haben wir nichts mehr von ihm gehört. Am Nachmittag balanciert ein alter Mann am Rand entlang. „Gut macht ihr das“, sagt er. Wir stellen uns vor, wenn wir tief genug gebohrt haben, bricht Licht aus unserem Bohrloch. Dann muss der Chef kommen. Das kann er nicht zulassen. Jeden Montag gehe ich bei meiner Suche nach Metallteilen zweimal zur Treppe zum Oberland. Wenn jemand kommt, tue ich so, als würde ich die Stufen kontrollieren. Erst am dritten Montag begegne ich ihr wieder. Ich blicke nur auf den Vorhang vor ihren Füßen. Er hebt sich nicht. Er fegt die Stufen. „Nicht fallen“, sagt sie. Ich schüttle den Kopf und bleibe stehen. Sie tritt auf den Saum des Vorhangs, schwankt, krallt eine Hand in meine Schulter. Trotzdem will sie fallen. Ich greife nach ihrer Hüfte. Ihre Haut hat sich gerötet. Wir sitzen gemeinsam auf der untersten Stufe. „Die Füße“, sage ich. „Ich möchte deine Füße sehen.“ Sie neigt sich, zupft an ihrem Rocksaum, dehnt den Stoff. „Nein. Sie sind hässlich.“ „Sie sind hübsch.“ „Nein“, sagt sie. „Aber ich hab doch etwas gut.“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich bin die Frau des Chefs!“ Schmierer gießt Wasser in das Bohrloch. Dann hebt er den Kopf, schnuppert unter seinem Arm. „Wenn der Chef nah ist, dann hat er uns wahrscheinlich gerochen“, sagt er. „Wir stinken.“ „Wir müssen schneller bohren“, sagt Drehwurm. Er zieht mit aller Kraft an dem Seil, das um die Bohrstange gewunden ist. Der Bohrer dreht sich, knirscht. Klopfer steht oben auf einem Baumstamm, der von einer Seite der Senke zur anderen reicht. Rhythmisch schlägt er mit einem Hammer auf die Bohrstange. Der Bohrer bleibt stecken. „Wenn er uns bemerkt hat, könnten wir doch aufhören“, sagt Schrauber. Er rüttelt an der Bohrstange, bis sie wieder frei ist, und zieht sie heraus. Ich fädele den Messfaden in das Loch. Er hat als Gewicht einen kleinen Stein und in Abständen von einem Meter einen Knoten. Fünf Komma Fünf. „Woher weißt du überhaupt, dass der Chef in der Nähe ist?“, fragt Klopfer. Ich hebe die Schultern. „Nur ein Gefühl“, sage ich. Wenn ich ihnen die Wahrheit sage, würden sie am nächsten Montag mitkommen wollen, um die Frau des Chefs zu sehen. „Ich will ja nur“, sage ich, „dass ihr euch eure Frage überlegt.“ Jeder hat nur eine Frage an den Chef. Man trägt sie sein Leben lang mit sich – bis er kommt. „Nicht schon wieder die Füße“, sagt die Frau des Chefs. Es ist Montag, sie hat auf mich gewartet, sitzt auf der unteren Stufe der Treppe. Der Rock wirkt länger, er schleift auf dem Boden. „Wo ist der Chef?“, frage ich. „Ich bin die Frau des Chefs.“ Das ist ihre ständige Antwort. „Dann die Füße“, sage ich. „Ich möchte sie in die Hand nehmen.“ „Du bist verrückt.“ „Dies ist der richtige Tag dafür“, sage ich. Wir gehen spazieren. Im Wald. Niemand kann uns sehen. Sie fegt den Weg mit dem blassblauen Stoff. Aber immer wenn sie einen Schritt macht, gucken mich für einen Moment ihre Zehen an. Sie sind aufgeregt. Schließlich setzt sie sich auf einer Lichtung ins Moos. „Gut“, sagt sie. „Hol sie dir.“ Ich greife unter den Rock. Die Zehen in meinen Händen laufen durcheinander. Dann habe ich den ganzen Fuß in meiner Hand. Die Frau des Chefs kichert. Am nächsten Montag hat das Bohrloch neun Meter Tiefe. Es geht plötzlich schnell. Schrauber kommt kaum noch nach. Er schlägt und schraubt die Rohre zusammen, erneuert die Bohrklingen. Weiter. Zehn Knoten. Plötzlich nagt der Bohrer am Fels, beißt in den Stein, bewegt sich nicht mehr. Drehwurm wirft sich ins Gras, atemlos. Seine Augen sind geschlossen. „Meine Frage“, sagt er. „Ich hab sie vergessen.“ Schrauber kommt heran, rüttelt an der Bohrstange. „Meine Frage“, sagt er. „Sie lautet: Warum wird ...“ Dann lacht er und tippt mit einem rostigen Finger an meine Stirn. Man darf seine Frage nur dem Chef stellen. Niemand darf sie vorher wissen. Die Frau des Chefs kichert. Meine Hände sind Sandpapier. Ich kenne ihre Füße. Ich kenne sogar ihre Knie. „Wie ist der Chef?“, frage ich. „Warum kommt er nicht?“ Sie schweigt. Dann zieht sie tief die Luft ein. „Du weißt doch ...“ Sie erzählt noch einmal die ganze Prozedur. Wenn der Chef alt wird, wählen die jungen Frauen unter sich eine neue Frau für ihn. Dadurch wird der Chef wieder jung. „Das weiß ich alles“, unterbreche ich sie. Dann fällt mir ein, was sie sagen will. „Du bist ihm noch nicht begegnet?“ Ich stottere ein wenig. „Doch“, sagt sie. „Er wollte dich nicht?“ „Ich, ich muss ihn wollen“, sagt sie. Sie steht auf, reibt ihre Fußsohlen auf dem Moos. Sie hat keine Angst mehr, dass ich ihre Füße sehen könnte. „Warte“, sage ich. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht so viele Fragen stellen.“ Ich fange mich in ihren Armen. Eine Woche später schmatzt das Bohrloch. In einen solchen Untergrund haben wir noch nie gebohrt. Er ist wie Klebstoff. Eine gelbe zähe Masse hängt am Bohrer. Drehwurm braucht meine Hilfe. Und plötzlich quillt Wasser aus dem Bohrloch, drückt den Bohrer heraus. „Wir sind durch“, sagt Klopfer. „Nein“, sagt Schmierer. „Es ist bloß das Wasser, das ich die ganze Zeit hineingegossen habe. Es kommt zurück.“ Aber es hört nicht auf zu sprudeln. Nach und nach füllt sich der Boden der Senke. Wir bringen unsere Werkzeuge an den Rand. „Wir sind durch“, sagt Schrauber. „Jetzt wird er kommen.“ „Und was ist, wenn es nicht aufhört? Wenn immer weiter Wasser herauskommt? Und was ist, wenn er nicht kommt?“ „Bist du verrückt?“, sagt Drehwurm. Ich finde die Frau des Chefs auf der Lichtung. Sie hat Moos zusammengetragen. Eine Fläche groß wie ein Bett. „Aber du bist die Frau des Chefs“, sage ich. „Ja“, sagt sie. Ich berichte von unserem Bohrloch. Von unserem Erfolg. Wir sind am Ziel. Der Chef wird kommen. Sie senkt die Lider, sieht mich nicht an. „Ja“, sagt sie. „Er ist schon da.“ „Bist du sicher?“ Sie nickt stumm. Ich sage, sie soll warten, und laufe zurück zu unserem Bohrloch. Die ganze Senke ist bis zum Rand voll. Jeden Augenblick wird das Wasser überfließen. Drehwurm und Klopfer sitzen in den Zweigen einer Weide. Große Vögel mit nassen Füßen. Schrauber hat unsere Rohre gesammelt. Sie liegen auf dem Boden. Schriftzeichen. Vom Himmel aus wird man sie lesen können. „Komm herauf“, ruft Klopfer, „sonst kriegst du nasse Füße.“ „Wo ist Schmierer?“ „Er guckt, wo das Wasser abfließen kann.“ „Der Chef kommt nicht“, sagt Drehwurm. „Das Loch ist zu klein.“ „Doch. Er kommt. Die Frau des Chefs ist schon da.“ Drehwurm fällt aus dem Baum. Er springt auf, humpelt im Kreis: „Meine Frage, ich habe meine Frage vergessen.“ Die Frau des Chefs liegt auf dem Moosbett der Lichtung. Sie hat gewartet. Sie schläft. Ich knie mich vor sie. Zwei Sonnenflecken streicheln ihren Körper. Ein kleiner Windstoß bewegt die Zweige über uns. Einer der Lichtflecke huscht über ihr Gesicht. Sie öffnet die Augen. Bleiches...



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