E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Gerlach Der Haifischmann
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95824-213-5
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-95824-213-5
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Gunter Gerlach, Jahrgang 1941, studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Er schreibt Hörspiele, Rundfunkserien, Kurzprosa und außergewöhnliche Krimis, für die er u. a. 1995 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Gunter Gerlach zählt zu den am häufigsten mit dem renommierten Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichneten Autoren, lebt in Hamburg. Bei dotbooks erscheinen Gunter Gerlachs Romane »Herzensach«, »Das Jahr, in dem ich beschloss, meinen Großvater umzubringen«, »Ich bin der andere«, »Der Haifischmann« und die Allergie-Trilogie »Kortison«, »Katzenhaar und Blütenstaub« und »Neurodermitis«, sowie der Kurzgeschichtenband »Melodie der Bronchien« und die Literatur-Quickies »Gold im Gebirge« und »Vorlieben«.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Sagen wir mal, ich bin ein Außerirdischer
Seit Tagen läuft nachts ein Mann in einem Haifischkostüm durch die Stadt und jagt Frauen. Die Zeitungen sind voll davon. Ein Räuber, ein Mörder soll er sein. Fast jeder Überfall wird mit ihm in Verbindung gebracht.
Ich habe mehrere Hai-Schlüsselanhänger, einen Hai-Korkenzieher, linksrum, einen Hai als Kugelschreiber. Am Kühlschrank klebt ein Hai-Kopf als Magnet. Im Wohnzimmer liegt ein Hai-Feuerzeug, leer. Im Regal steht ein Hai als Blechspielzeug. Ich öffne sein Maul, ziehe eine Reihe kleiner Fische heraus. Ich lasse los, und er verschlingt sie wieder. Dann ein Buch mit Hai-Comics und zwei Haie als Keramikfiguren. Ich besitze zwei Tüten Weingummi »Kleine Haie«, drei Postkarten mit Hai-Motiven, einen Hai-Bleistiftanspitzer. Im Bad hängt eine Hai-Tauchermaske zur Dekoration. Sie ist mir zu klein. Ich sammle, was Hai ist, in einem Schuhkarton. Ich muss das für eine Weile loswerden.
Ich nehme also die Schlüssel für den Dachboden vom Haken. Ich wohne seit sieben Jahren in dem alten Mietshaus. Seit Julia. Doch mancher Mieter grüßt mich nicht, weiß immer noch nicht, dass ich sein Nachbar bin, hält mich vielleicht für den Haifischmann. Darum lausche ich an der Wohnungstür, ob jemand im Treppenhaus ist. Alles frei.
Ich gehe leise mit meinem Karton die Treppe hinauf. Eine Stufe knackt laut. Ich bleibe stehen. Nichts geschieht. Ich stecke den Schlüssel in die eiserne Tür, versuche geräuschlos zu öffnen. Mit dem Fuß schiebe ich den Holzkeil unter die Tür. Der Dachboden ist durch Maschendraht unterteilt. Jeder Mieter hat seinen Käfig, mit einer Tür aus Draht und einem Vorhängeschloss. Ich beuge mich in den halbdunklen Raum, halte den Atem an und lausche. Höre nur meinen Herzschlag. Ich schrumpfe. Hier oben bin ich wieder acht Jahre alt:
– Luca, geh mal auf den Boden.
– Luca, hol den Karton vom Dachboden.
– Luca, bring bitte den Koffer auf den Dachboden.
Und immer sind da Gestalten. Männer, die sich dicht an die Wand drängen, die an Haken hängen, erhängt, oder lauernd hinter einem Karton hocken. Manchmal nur Schatten. Meist war es einer meiner älteren Brüder. Vorausgeschlichen, um mich zu erschrecken. Spaß macht Angst. Umgekehrt nie.
Ab dreißig sollten die Kinderängste Puppenkleider tragen.
Der Dachboden hat eine einzige Glühbirne. Am Eingang. Sie brennt nur so lange wie die Treppenhausbeleuchtung: zweieinhalb Minuten. Das reicht selten. Mein Dachbodenkäfig liegt ganz am Ende, um die Ecke. Aber dafür habe ich eine der beiden Dachluken. Tageslicht. Und diesmal werde ich es in zweieinhalb Minuten schaffen: nicht nach rechts oder links gucken, das Vorhängeschloss öffnen, meine Haifischsammlung in den alten Kleiderschrank stellen, wieder abschließen und zurück. Zweieinhalb Minuten. Das schaffe ich.
Ich gehe in Startposition. Ich drücke den Lichtknopf. Die Glühlampe brennt dunkler als sonst. Jemand atmet hinter mir. Ich spüre es am Hals. Es ist nur der Luftzug vom Treppenhaus. Los geht's. Die Holzbohlen röcheln. Mit festen Schritten vorbei an allen anderen Käfigen, um die Ecke rum. Ich erstarre. Jemand sitzt im Schneidersitz in meinem Dachbodenabteil.
Eine Täuschung.
Ich gehe einen halben Schritt rückwärts, stoße mit dem Rücken gegen eine Dachstrebe.
Es ist ein Mann. Er sieht mich an. Das darf nicht sein. Da darf niemand sein. Es sieht nur so aus. Eine optische Täuschung.
Das Licht fällt von der offenen Dachluke von hinten auf etwas, das aussieht wie ein kahl geschorener Schädel. Er bewegt sich. Er hebt den Kopf. Das kann nicht sein. Er sieht mich an. Er kann nicht wirklich da sein. Nur ein Sack. Der Sack mit den alten Kleidern. Ein Kleiderbündel.
Er bewegt sich.
Er lebt.
Ich kann mich nicht bewegen.
Benk sagt immer, mein Leben würde ohne große Höhepunkte verlaufen, unauffällig, ohne Überraschungen. Und Benk weiß alles. Und jetzt das. Und das mir. Und gerade jetzt. Ich trage meinen Panzer nicht, meinen Schutz. Den berühmten Buda-Panzer, der Unheil fern hält. Ich starre den Mann an und kann mich nicht bewegen. Mein Freund Benk sagt, ich würde ein Leben wie Millionen anderer Menschen führen. Ohne große Gefahren, Aufregungen, Veränderungen. Und jetzt das.
Wie geht das: weglaufen?
Ich spüre, wie sich der Karton mit meiner Haifischsammlung unter meinem Arm zusammenpresst. Ich kann ihn im Gegenlicht der Dachluke nicht richtig erkennen. Sein Schädel saugt alles Licht auf. Er muss über das Dach hereingekommen sein. Wahrscheinlich liegt in seinem Schoß eine Axt. Er wird mich zerstückeln. Davor hatte ich schon mein ganzes Leben lang Angst. Jetzt ist es so weit. Ich muss mich zerstückeln lassen. Alle anderen Reaktionen von mir wären Demonstrationen meiner Angst. Also zerstückeln lassen.
Benk weiß eben doch nicht alles.
Der Mann erhebt sich langsam. Kein Haifischkostüm. Ein Handtuch über den Schultern. Dunkelrot. Wenn der eine Axt darunter hat, ist der Käfigdraht mit einem Schlag durch. Ein Schlag, der mir gleichzeitig in die Schulter fährt oder den Arm abhackt. Irgendwo muss er ja anfangen mit dem Zerstückeln. Und ich stehe da ohne meinen Panzer. Es musste ja so kommen. »Luca Buda tot. Der berühmte Buda-Panzer rettete seinen Erfinder nicht.«
Das Licht geht aus. Zweieinhalb Minuten sind rum. Der Kerl erhebt sich, wächst. Übergröße. Ein Riese. Er nimmt den Kopf zurück. Das Tageslicht fällt zur Hälfte auf sein Gesicht. Einer meiner Brüder ist es nicht. Das wusste ich schon. Die sind weit weg.
Der Mann lächelt. Er sieht aus wie der Dalai Lama. Nur jünger und länger. Wenig Haar. Vielleicht so alt wie ich. Dreißig. Das Tibetanische kommt von dem Faltenwurf des roten Handtuchs über seiner Schulter.
So sehen also Mörder aus.
»Würdest du mir bitte aufschließen.« Er spricht Deutsch. Nein, bloß nicht rauslassen aus dem Drahtkäfig. Wie ist er da reingekommen?
»Wie sind Sie da reingekommen?«
»Von oben.« Er dreht sich in der Hüfte. »Durch die Luke.«
Na klar, von oben. Übers Dach. »Dass ich darauf nicht selbst gekommen bin.«
Er lächelt. »Sie war offen.« Er hebt die Hände. »Es tut mir Leid, dass ich bei dir gelandet bin.«
»Oh«, sage ich, »ich lasse die Luke immer offen. Es kommen heutzutage sehr viele Menschen übers Dach.«
Er tritt einen Schritt zurück. Ein müder Bär. Licht fällt über sein Gesicht. »Ich bin leider kein richtiger Mensch.«
»Ach, nehmen Sie es nicht tragisch.«
Er bückt sich, nimmt einen Gitarrenkoffer auf. Der war vorher doch nicht da? Und ist er nicht viel zu groß, um durch die Dachluke zu passen? Da drin könnte das Haifischkostüm sein.
»Sagen wir mal, ich bin ein Außerirdischer.«
Eine schöne Lüge. »Na, klar. Und da in Ihrem Koffer ist Ihr Raumschiff.«
»Nein, meine Gitarre. Genau genommen ist es ein Bass.«
»Und ich soll Sie da rauslassen. Ist es nicht besser, Sie bleiben eingesperrt?«
»Ich bin vollkommen harmlos.«
»Das sagen alle.«
Er nickt. Dann setzt er sich wieder auf den Boden. Wenn in dem Gitarrenkoffer wirklich eine Gitarre ist, kann er nicht so böse sein. Ich weiß nicht, was ich tun soll. »Wenn ich gehe, was machen Sie dann?«
»Ich warte.«
»Worauf?«
»Auf deine Entscheidung.«
Er ist mein erster Außerirdischer. Ich finde, er ist nett, menschlich. Was soll ich machen?
Benk wüsste, was zu tun ist. Er weiß, wie alle Dinge ausgehen. Manchmal weiß ich das auch. Aber wer weiß, ob sich Außerirdische nach meinen Prognosen richten. Oder Haifischmänner. Das weiß niemand.
Er schwankt mit dem Oberkörper hin und her. »Ich nenne dir einen vernünftigen Grund.«
»Wofür?«
»Mich rauszulassen.«
»Okay.«
»Ich bin gekommen, um gegen die Inflation des Lachens zu kämpfen.«
Das überzeugt mich.
Ich öffne das Schloss.
Katharina, was sagst du dazu? Deine Therapie hat geholfen. Meine Angst ist weg. Fast.
Ich stelle mich hinter die Tür. Wenigstens das Drahtgitter ist zwischen uns. Er verbeugt sich, geht an mir vorbei. Im gleichen Moment denke ich, dass es auch das Argument des Haifischmanns sein kann. Nachts als Haifisch durch die Stadt zu laufen, ist nicht zum Lachen. Vielleicht doch. Es kommt auf die Art des Kostüms an.
»Und wie geht das?«, frage ich.
Er hält inne, dreht seinen Kopf. »Ich gehe mit gutem Beispiel voran.« Kein Lächeln folgt. Er geht. Ich höre seine Schritte auf der Treppe. Schnell stelle ich meinen Karton mit der Haifischsammlung in den alten Kleiderschrank. Da sind noch Julias Hinterlassenschaften drin. Der blaue Sack mit den Kleidern ihrer Theatergruppe. Ich sollte ihn wegwerfen. Sie wollte nicht mehr spielen. Nie mehr. Ich fürchte, sie würde mich auslachen, wenn sie wüsste, dass ich ihn noch habe. Ich schiebe eine Kiste an das Dachfenster, ziehe mich hoch. Kein Raumschiff. Wo ist er nur hergekommen? Vielleicht kommen noch mehr, oder sie kommen, um ihn abzuholen? Ich lasse die Dachluke einen Spalt offen, aber verschließe den Dachboden.
Ich könnte die Polizei rufen. Wenn ich nicht so viel Angst vor der Polizei hätte, könnte ich die Polizei rufen. Hören Sie, ein Außerirdischer! Wie das klingt. »Hören Sie, ein Außerirdischer«, probiere ich laut. Es klingt angenehm, als wäre es ein Verwandter, ein Freund. Jemand, der zu mir ins Bett kommt und ganz selbstverständlich mein Geschlecht in seine Hände nimmt.
Er wartet unten vor meiner Wohnungstür. Ich bleibe drei...