E-Book, Deutsch, Band 6, 100 Seiten
Reihe: Theologische Studien NF
E-Book, Deutsch, Band 6, 100 Seiten
Reihe: Theologische Studien NF
ISBN: 978-3-290-17696-9
Verlag: Theologischer Verlag Zürich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Nicht selten jedoch fehlt der Paulusrezeption die Distanz, nicht nur bei Luther, der sich mit Paulus identifizierte; auch heute werden seine Anreden in Briefen gern direkt auf 'uns' bezogen. Die Studie möchte ins Gedächtnis rufen, dass wir fremde Briefe lesen, die fernen Menschen des Altertums galten und einen prämodernen Autoritätsanspruch des Paulus voraussetzen. Nur in der Wahrnehmung von Distanz und Fremdheit können wir die Paulusbriefe angemessen für die Gegenwart interpretieren.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Bibelwissenschaften Neues Testament: Exegese, Geschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Kultur- und Ideengeschichte
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Kirchengeschichte Frühes Christentum, Patristik, Christliche Archäologie
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Systematische Theologie Geschichte der Theologie, Einzelne Theologen
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|19| II »Wie wenn ich anwesend wäre« (1Kor 5,3) – zur Bedeutung der Brieflichkeit
Ein Brief war in der Antike neben Reisen die einzige Möglichkeit, Kontakt zu halten zu Menschen, die andernorts lebten. Einen Privatbrief zuzustellen, bedeutete einigen Aufwand. Manch eine, des Schreibens unkundig, musste sich von professionellen Briefschreibern helfen lassen. Und da der Brief erst zeitversetzt ankam, wartete man auf eine Antwort also umso länger.21 Das bestimmte gewiss auch die Gedanken bei der Abfassung. Ist das alles heute völlig anders, so scheint es mir doch zwei Konstanten zu geben zwischen der brieflichen Kommunikationskultur der Antike und der elektronisch ermöglichten Permanenz unmittelbarer Kontakte heute: Es gibt erstens eingespielte Konventionen für die Kommunikationsformen. So gilt für eine E-Mail, dass eine fehlende Anrede nicht als Ausdruck mangelnder Wertschätzung zu lesen ist. Und zumindest wenn man nur gelegentlich eine SMS von der jüngeren Generation erhält, merkt man, wie eingespielt bei ihnen Liebesbekundungen und Formeln oder Symbole sind. Zweitens ist die Pflege einer Beziehung ein wesentliches Motiv für viele Kontakte, während der Informationsaustausch oft nachrangig ist. Dieser Eindruck entsteht nicht nur, wenn jemand gleich 267 Freunde bei Facebook »addet«, sondern auch oft, wenn man unfreiwillig private Telefonate Unbekannter mithört. Diese beiden Aspekte, eingespielte Konventionen und die Funktion der Beziehungspflege, sind auch grundlegend, wenn wir fragen, was der briefliche Charakter der Paulusschriften für unsere Lektüre bedeutet. Denn auch wenn die Paulusbriefe nicht den in vielen Papyri erhaltenen Privatbriefen entsprechen, weil sie länger und an eine größere Öffentlichkeit adressiert sind, so sind es doch keine Kunstbriefe wie die des Cicero oder Seneca.22 Sie sind nicht einfach einzuordnen, da sie abgesehen vom Philemonbrief an Gruppen gerichtet sind. Aber sie sind insofern »echte« Briefe, als sie der Beziehungspflege in Zeiten räumlicher Trennung dienen. Und sie folgen in Form und Topik den damaligen Gepflogenheiten für die Brieferstellung. Wir |20| beginnen mit Beispielen für Letzteres, um daraus die Bedeutung der brieflichen Gattung für die »Beziehungspflege« zu erhellen. 1. Zur Form und Topik der Paulusbriefe23
Die Beobachtung von Formeln und Topoi, Allgemeinplätzen, führt uns die konventionelle Seite der Paulusbriefe und zugleich ihr Spiel mit typischen Formen vor Augen. Kenntnis von den antiken Konventionen haben wir durch die Analyse von echten Papyrusbriefen, die oft bewegende Einblicke in das gelebte Leben geben,24 aber auch von wenigen erhaltenen theoretischen Werken, die mit Tipps zum Stil und Beispielbriefen die Briefabfassung anleiten.25 »Paulus, berufener Apostel Jesu Christi nach dem Willen Gottes, und der Bruder Sosthenes an die Gemeinde Gottes, die in Korinth ist [...]: Gnade sei euch und Friede von Gott, unserem Vater, und von dem Herrn Jesus Christus« (1Kor 1,1–3), mit solchen oder ähnlichen Präskripten beginnen alle uns erhaltenen Paulusbriefe. Die Präskripte folgen einer festen Form: Sie beginnen wie alle antiken Briefe stets mit der Nennung des Verfassers im Nominativ (superscriptio),26 dann der Adressierten im Dativ (adscriptio) und schließen mit einer Grußformel (salutatio). Während das griechische Briefpräskript mit chairein (»zum Gruß«) nur einen Satz bildet,27 ist in den Paulusbriefen die Grußformel ein eigener Nominalsatz. Zwar klingt chairein noch in dem Wort charis an. Aber dies ist nun der Zuspruch von Gnade Gottes und Jesu Christi.28 Dieses Vorgehen – das stilbildend wurde für die späteren deuteropaulinischen Briefe – kann als typisch gelten: Paulus nimmt die Formvorgaben auf, |21| aber färbt sie religiös ein und überführt damit die im Präskript eröffnete Kommunikation zwischen sich und den Adressierten in eine Dreiecksbeziehung mit Gott und Jesus Christus. Dasselbe wiederholt sich im Briefschluss. Der typische Wunsch, »es möge wohlergehen«, wird durch einen Segenswunsch überhöht. Auch das Motiv der Danksagung stammt aus der Briefform. Am Anfang des Briefes, noch vor dem eigentlichen Corpus, dankt man Göttern für die Gesundheit, ggf. auch für erhaltene Post, eine Geldgabe oder was auch immer. In den Paulusbriefen steht hier meist29 eine Danksagung. Eigentlich ist es ein Bericht über den Gott erstatteten Dank der Adressatinnen und Adressaten wegen. So schreibt Paulus in 1Kor 1,4f: »Ich danke meinem Gott allezeit für euch wegen der Gnade Gottes, die euch geschenkt wurde in Christus Jesus, dass ihr an allem reich gemacht wurdet in ihm, in jedem Wort und jeder Erkenntnis [...]« Dies führt unmittelbar weiter zu einer Fürbitte. Doch wozu berichtet Paulus der Gemeinde, was er eigentlich Gott im Gebet sagt? Der »Gebetsbericht« spielt gewissermaßen »über die Bande«: Das im Dankgebet indirekt enthaltene Lob fungiert als captatio benevolentiae (»Haschen nach Wohlwollen«) am Anfang des Briefes, um die Leserinnen geneigt zu machen. Die Fürbitte appelliert, indem sie indirekt darauf hinweist, dass auch die zukünftige Bewahrung des Glaubens wichtig ist. Das Fehlen eines solchen Danksagungsberichts in Gal 1,6 ist ebenfalls sprechend. Wenn Paulus statt »Ich danke Gott um euretwillen« beginnt: »Ich wundere mich, dass ihr euch so schnell abgewendet habt [...]«, werden die Leser hier die Schärfe der Kritik nicht überhören können. Und doch macht auch diese harsche Formulierung die persönliche Beteiligung des Paulus und sein Interesse an den Adressierten hörbar. Auch die in den Briefen häufig begegnende Formel »ich will euch nicht im Ungewissen lassen, Brüder und Schwestern«, die »Kundgabeformel«30 ist brieftypisch. Sie soll nicht nur die Aufmerksamkeit für das Folgende wecken, sondern knüpft wiederum die Beziehung fester: Ich bemühe mich um euch, ist die implizite Botschaft. Emotionaler kommt diese Mitteilung im »Sehnsuchtstopos« zum Ausdruck. »Gott ist mein Zeuge, dass ich euch alle ersehne in meinem Innersten Jesu Christi«, so herzlich schreibt Paulus, der wegen seiner Gefangenschaft nicht reisen kann, nach Philippi (Phil 1,8). Nicht nur der Wunsch nach Gemeinsamkeit, sondern auch die begrenzten Möglichkeiten, brieflich Einfluss |22| zu nehmen, bestimmen den Topos in Gal 4,20. Weil Paulus schriftlich offenbar mit dem Werben von Konkurrenzmissionarinnen in Galatien nicht mithalten kann (4,17), gesteht er seine Verzweiflung ein: »Ich wünschte, ich wäre jetzt bei euch und könnte meine Stimme verwandeln, denn ich bin verzweifelt an euch.« Dieser Topos führt uns vor Augen, dass das Schreiben zwar wichtig ist für die Beziehung, aber nur das zweitbeste Mittel nach der Anwesenheit. Der Brief sollte idealerweise deshalb die persönliche Anwesenheit ersetzen. Das hat auch Folgen für den Stil, denn ein Brief soll »gewissermaßen ein Abbild der Seele« des Schreibenden widerspiegeln.31 Der Brief macht den Abwesenden quasi zum Anwesenden. Gern wird dies ausgedrückt im Topos von der Parusie oder Quasianwesenheit mit dem Oxymoron »abwesend – anwesend« (apon – paron). Auch Paulus setzt dieses Wortpaar ein, wenn auch auffallend abgewandelt. So bringt er in 1Kor 5,3 seine Entschiedenheit zum Ausdruck, dass der Mann, der mit seiner Stiefmutter zusammenlebt, aus der Gemeinde ausgeschlossen werden muss: »Ich nämlich, wiewohl körperlich abwesend (apon), anwesend (paron) aber im Geist, habe schon ein Urteil gefällt, wie wenn ich anwesend wäre (paron), über den, der dies so getan hat.«32 Der Brief wird also zum Medium, um in Zeiten der Trennung Kontakt zu halten. Bei Paulus finden wir aber vor allem den Wunsch, seine Adressaten persönlich zu besuchen, und damit Reisepläne – auch das ein typisches Briefthema.33 Eine »sehnlich« geplante Reise nach Rom ist ein wesentliches Motiv zur Abfassung des Römerbriefs (Röm 1,10f; 15,22f.28f). Und wenn Paulus in 1Thess 2,18 sogar Satan persönlich dafür verantwortlich macht, dass er am Besuch der Gemeinde in Thessalonich gehindert wurde, so erkennen wir, dass die Briefe nur als Überbrückung von Zeiten der Trennung fungierten. Nur in 2Kor 2,1 schreibt Paulus, dass er vorerst auf eine Reise verzichte, um sich und die Gemeinde zu schonen. |23| 2. Die wechselseitige Bedeutung von Brief und Beziehung
Die Briefe des Paulus lassen also Vertrautheit mit den Konventionen der Briefabfassung erkennen. Diese und weitere brieflichen Formeln und Topoi sind Teil der Gepflogenheiten, mit denen Briefe, zumal Freundschaftsbriefe34, ihre wichtigste Aufgabe erfüllen, die Beziehungspflege.35 Wahre Freundschaft beruht auf dem Zusammensein, und so soll der Brief dieses imaginativ ermöglichen. Heikki Koskenniemi hat die Funktion der Briefe mit drei Schlagwörtern treffend beschrieben:36 Es geht um Philophronesis, die »freundschaftliche Gesinnung«, um Parusie, d. h. die imaginative Anwesenheit des Verfassers, und um Homilia, den persönlichen Austausch, so gut es brieflich möglich ist. Das unterscheidet die Paulusbriefe grundsätzlich von Reden, die zwar auch eine größere Öffentlichkeit adressieren, aber nicht eine persönliche Bekanntschaft voraussetzen – und nicht der Beziehungspflege dienen. Die Analyse der Paulusbriefe anhand der antiken Redekunst, die in den letzten...