Gensing / Reisin | Der Präventivstaat | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 300 Seiten

Gensing / Reisin Der Präventivstaat

Warum Gesundheits-, Kontroll- und Verbotswahn Freiheit und Demokratie gefährden
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-942453-58-5
Verlag: Lingen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Warum Gesundheits-, Kontroll- und Verbotswahn Freiheit und Demokratie gefährden

E-Book, Deutsch, 300 Seiten

ISBN: 978-3-942453-58-5
Verlag: Lingen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Unser Leben wird immer sicherer, doch die Angst zu leben immer größer: Der medizinische Fortschritt ist unaufhaltsam, schwere Kriminalität seit Jahren auf dem Rückzug. Doch die 'gefühlte' Bedrohungslage ist eine ganz andere. Wie kommt es zu der neuen Sicherheitsideologie, die quer durch alle Parteien geht? Eine Streitschrift gegen das Primat der Prävention als Weg in einen Überwachungs- und Sicherheitsstaat, in eine fanatische Sittenwächtergesellschaft. EDITION LINGEN STIFTUNG - Publikationen für politisch interessierte Bürger

Patrick Gensing (*1974) lebt in Hamburg und arbeitet als Nachrichtenredakteur bei tagesschau.de. Gensing schreibt für verschiedene Medien, unter anderem die taz und die Jüdische Allgemeine. 2009 wurde er in der Kategorie Internet mit dem 3. Platz des Axel-Springer-Preises für junge Journalisten ausgezeichnet. Gemeinsam mit Andrej Reisin betreibt er das Blog Publikative.org, das aus dem Watchblog NPD-BLOG.INFO hervorging. Publikative.org wurde 2013 mit dem Alternativen Medienpreis ausgezeichnet, gewann den Publikumspreis bei den 'BOBS' der Deutschen Welle und wurde für den Grimme Online Award in der Kategorie Information nominiert. Das Buch 'Der Präventivstaat' ist Gensings drittes Buch: 2009 veröffentlichte er im dtv den Titel 'Angriff von rechts - die Strategien der Neonazis' und 2012 im Rotbuch-Verlag das Buch 'Terror von rechts - die Nazi-Morde und das Versagen der Politik'. Andrej Reisin (*1977) ist in Berlin aufgewachsen und lebt seit 1997 in Hamburg, wo er ein Studium der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Journalistik und Germanistik absolvierte, das er mit einer Magisterarbeit über den deutsch-jüdischen Philosophen Theodor Lessing abschloss. Er arbeitet seit 1996 als Freier Journalist, unter anderem für die taz, Spiegel Online und die Welt. Seit 2002 arbeitet er vor allem im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks (NDR), zunächst für tagesschau.de, später für NDR Kultur und seit 2009 für das ARD-Politmagazin Panorama. Er betreibt gemeinsam mit Patrick Gensing das Blog Publikative.org, das 2013 den Alternativen Medienpreis und den Publikumspreis der Best of Blog Awards (BOBS) der Deutschen Welle gewann, sowie für den Grimme Online Award nominiert war. Der 'Präventivstaat' ist seine erste Buchveröffentlichung.
Gensing / Reisin Der Präventivstaat jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Inhalt
1. Das Leben wird immer sicherer, die Angst zu leben immer größer
2. Untergangsszenarien und Demokratie von oben: Der Obrigkeitsstaat kehrt zurück
2.1. Schafft Deutschland sich ab?
2.2. Wird die Jugend immer schlimmer?
2.3. Fußballfans als Staatsfeind Nummer eins
2.4. Mit Extremismusklausel und Terrorabwehr gegen engagierte Demokraten
3. Außer Kontrolle: Neoliberale Deregulierungswut als Motor der Angst
3.1. Du bist Deutschland - die entsicherte Gesellschaft
3.2. Neoliberal - die Geschichte eines politischen Schlagworts
3.3. Neoliberalismus von Links: Das verdrängte Erbe von 1968 und Rot-Grün
3.4. Existenzängste als Triebkraft des Verbotswahns
4. Primat des Verzichts - grüner Reformismus und Verbotskultur
4.1. Tempo 30 statt Weltrevolution: Die Geschichte der Grünen
4.2. Prima Klima?
4.3. Keine Macht dem Tabak und der Limo
4.4. Der Teufel hat den Schnaps gemacht
5. Formationen des Präventivstaats
5.1. Die mediale Konstruktion einer gefährlichen Welt
5.2. Privatisierung und Kontrolle des öffentlichen Raums
5.3. Das Politische wird privat: Die Macht durchdringt den Körper
5.4. Die ideologische Hochzeit
6. Pure Vernunft darf niemals siegen
Literatur
Über die Autoren
Impressum


2.2. Wird die Jugend immer schlimmer?

Sich selbst erfüllende Prophezeiungen und negative Folgen für die gesamte Gesellschaft sind auch in der Kriminalitätsforschung bekannt: Pflanzt man den Menschen erst einmal in den Kopf ein, überall lauerten Gefahren und Überfälle, kann dies weitreichende Konsequenzen haben:

Mögliche Folgen bestehen in einer Verringerung des Vertrauens in Mitmenschen, der Reduzierung der Beteiligung am öffentlichen Leben, aber auch der Unterminierung des Vertrauens in staatliche Institutionen – also in Veränderungen, die nicht nur individuell als Beschränkung und Beeinträchtigung der Lebensqualität empfunden werden, sondern die auch für die Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft, das soziale Zusammenleben insgesamt, sehr abträglich sind. Hier besteht eine Gefahr von Aufschaukelungsprozessen, negativen Verstärkerspiralen im Sinne sich selbst erfüllender Prophezeiungen: Wenn zunehmend mehr Menschen solche Gebiete als beunruhigend ansehen und nicht mehr aufsuchen, können so allmählich öffentliche Räume entstehen, die deshalb irgendwann tatsächlich – aufgrund der Abwesenheit sozialer Kontrollen – für kriminelle Aktivitäten besonders attraktiv sind.6

Besonders die Mär von der Jugend, die „immer mehr“ Alkohol trinke, Drogen nehme, Straftaten begehe, gewalttätig sei, Computer spiele und verdumme, hält sich in vielen öffentlichen Debatten. Dieser Eindruck einer immer schlimmeren Jugend war in der Menschheitsgeschichte schon vielfach präsent und entspricht wohl eher dem eigenen Kulturpessimismus als realen Entwicklungen. Doch da die Jugend in Zukunft angeblich ganze Horden von Rentnern finanzieren muss, wächst die Furcht vor der angeblich drohenden demografischen Katastrophe weiter, wenn die Lage durch eine verrohte, versoffene und verblödete Jugend noch dramatischer wirkt. Viele Medien tragen maßgeblich dazu bei, dieses Bild zu verbreiten und zu verfestigen.

„Schüler bedrohen Schüler. Sie sind 13, 14 Jahre alt. Kaum strafmündig. Manchmal fallen sie schon als Zehnjährige mit ersten Straftaten auf. Dann rotten sie sich zusammen, fühlen sich stark wie kleine Asphalt-Gangster – und verbreiten Angst. So wie kürzlich zwischen Beuel und Oberkassel, als eine Bande von Jugendlichen auf offener Straße den Terror inszenierte und erst mit einiger Verspätung gestoppt werden konnte.“

Jugendliche Gangster, die sich zusammenrotten, um Terror zu inszenieren – derart überzogen wird nicht selten in deutschen Medien über Jugendkriminalität berichtet. In diesem Fall war es die „Bonner Rundschau“, die im Mai 2013 über Probleme mit Jugendbanden schrieb. Dies wurde mit dem Ruf nach härteren Strafen garniert, angeblich von Volkes Stimme erhoben; eine Quelle findet sich allerdings nicht, wenn das Blatt schreibt:

In dieser Situation wurde der Ruf nach einer schnellen Justiz, die hart durchgreift, unüberhörbar: Die kriminellen Protagonisten müssten hinter Gitter, heißt es dann. Weg von der Straße, ganz, ganz schnell. [...] Bei der zunehmenden Zahl jugendlicher Straftäter brauchen die Gerichte naturgemäß mehr Zeit. Auch weil die Prozessführung oft schwieriger geworden sei: Wachsende Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten, erkennbar schamloses Lügen von Zeugen, gepaart mit aggressivem Unterton.7

Die Zeitung entwirft ein Szenario, wonach eine schnelle Verurteilung der Jugendlichen gar nicht mehr möglich sei, weil die Zahl der Straftäter stetig anwachse. Dies mag zwar für einzelne Gerichte zutreffen, generell aber nimmt die Jugendkriminalität keineswegs „immer mehr“ zu. Zwar steigen die Zahlen einzelner Delikte, insgesamt ist die Tendenz aber eher rückläufig. Zudem muss zwischen „Intensivtätern“, also Jugendlichen, die reihenweise Straftaten begehen, und Einzeltätern unterschieden werden. Strafrechtlich relevantes Verhalten – insbesondere gelegentliche und bagatellhafte Eigentumsdelikte, aber auch einfache Körperverletzungen – treten generell bei jungen Menschen gehäuft auf, heißt es dazu im Periodischen Sicherheitsbericht im Auftrag des Bundesinnenministeriums. Dies könne in allen westlichen Ländern seit der Einführung von Kriminalstatistiken, mithin seit mehr als hundert Jahren, beobachtet werden.

Im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren beginnt die Quote der überwiegend leichten Normverstöße anzusteigen, erreicht etwa mit 17 bis 18 Jahren ihren Höhepunkt und sinkt nach dem 20. Lebensjahr allmählich wieder ab. Auch viele beruflich erfolgreiche Erwachsene haben in ihrer Jugend mal geklaut, gekifft oder sich mit jemandem geprügelt. Deswegen sind sie aber nicht grundsätzlich kriminell geworden – und drastische Strafen für solche Vergehen hätten den weiteren Lebensweg massiv behindert. Solche Delikte gehören bei vielen Jugendlichen also in gewissem Maße zur Phase der Adoleszenz dazu, Stichwort: halbstark. Im Periodischen Sicherheitsbericht heißt es dazu weiter:

Nach gesicherten Erkenntnissen nationaler wie internationaler Forschung ist delinquentes Verhalten bei jungen Menschen weit überwiegend episodenhaft. Es bleibt auf einen bestimmten Entwicklungsabschnitt beschränkt, kommt in allen sozialen Schichten vor und ist als im statistischen Sinne „normales“ Phänomen zu bezeichnen. Aus der Auffälligkeit von Kindern und Jugendlichen kann somit nicht abgeleitet werden, dass diese jungen Menschen auch langfristig delinquent bleiben werden. Bei der überwiegenden Mehrzahl ist gerade dies – auch wenn keine staatliche Intervention erfolgt – nicht der Fall.

Die Berichterstattung über Jugendkriminalität hingegen verzerrt oft den Blick auf dieses Phänomen. Schon die kleinsten Anlässe werden zu Meldungen aufgeblasen. Ein weiteres willkürliches Beispiel findet sich bei „Focus Online“ am 11. Mai 2013:

Vier jugendliche Fahrraddiebe sind in der Nacht zum Samstag am Gelände des Tagebaus Reichwalde in der Lausitz gestellt worden. Wie die Polizei mitteilte, war die Gruppe aus zwei 12 und 15 Jahre alten Mädchen sowie zwei 13 und 16 Jahre alten Jungen zuvor aus einer Wohngruppe ausgebüxt. Sie wollten mit den gestohlenen Rädern nach Weißwasser fahren – mehr als 20 Kilometer.

Ende der Meldung. Inhalt: Vier Jugendliche wollten vier Fahrräder stehlen, um diese zu benutzen. Damit schafften sie es in ein führendes deutsches Nachrichtenmedium. Inwiefern hier die Schwelle für die Relevanz einer Meldung in einem überregionalen Online-Medium überschritten wurde, ist schwer auszumachen. Über erwachsene Fahrraddiebe dürfte im „Focus“ in jedem Fall eher selten etwas zu lesen sein.

Jugendliche stehen also offenkundig unter besonderer Aufmerksamkeit. Aus einer erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit ergibt sich aber bisweilen auch eine erhöhte polizeiliche Aufmerksamkeit. Daraus folgt das auf den ersten Blick paradoxe Phänomen, dass mehr Ermittlungen zu mehr Delikten führen, weil Kriminalität aus dem sogenannten Dunkel- ins Hellfeld überführt wird. Denn in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) tauchen nur Tatverdächtige auf, gegen die polizeiliche Ermittlungen eingeleitet wurden.

Die PKS weist zudem eine erhebliche Unschärfe auf: Sie bezieht sich auf Tatverdächtige, nicht auf verurteilte Personen. Das bedeutet: Legt die Polizei einen besonderen Fokus auf bestimmte Gruppen, beispielsweise jugendliche männliche Migranten, wird auch deren Anteil an bestimmten Straftaten in der Kriminalstatistik fast zwangsläufig steigen. Diese Statistik ist als Basis für substantielle Aussagen über die Entwicklung der Kriminalität eigentlich also wenig geeignet – dennoch wird sie jährlich zu einem Medienereignis.

Im Periodischen Sicherheitsbericht versuchen Wissenschaftler und andere Experten die Zahlen der vergangenen Jahre in Relation zu anderen Faktoren zu setzen – und kommen so zu anderen Ergebnissen. So stellten sie 2006 zur Entwicklung der Jugendkriminalität fest, es ließen sich gegenüber dem ersten Sicherheitsbericht aus dem Jahr 2001 für Deutschland auf Ebene der polizeilichen Daten, also im Hellfeld, deutliche Rückgänge der von Kindern und Jugendlichen begangenen Eigentumsdelikte erkennen.

Dies stehe allerdings im Kontrast zu einem Anstieg junger Täter bei der durch die Polizei registrierten Gewaltkriminalität. Innerhalb der Kategorie der Gewaltkriminalität finden sich demnach allerdings recht unterschiedliche Arten von Straftaten. So gingen laut PKS schwere Gewaltdelikte, zum Beispiel Tötungen und Raubdelikte zurück. Anstiege finden sich hingegen für Körperverletzungen, die den größten Anteil am polizeilichen Summenschlüssel der Gewaltkriminalität haben. Weiter finden sich Zunahmen der registrierten Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, hier in erster Linie wegen Besitz von Cannabis. Von immer mehr Jugendkriminalität kann also pauschal keine Rede sein.

Zudem sei es zu einer erhöhten Sichtbarkeit der Kriminalität junger Menschen gekommen. „Den gestiegenen Zahlen polizeilich registrierter Fälle liegen keine realen Zunahmen zugrunde“, schlussfolgern die Experten. Die Zahlen in der Statistik steigen also, ohne dass die tatsächlichen Fälle zugenommen hätten. Auch eine qualitative Verschärfung, im Sinne eines steigenden Schweregrades der Delikte, sei empirisch nicht festzustellen. Im Gegenteil: Alle vorliegenden Dunkelfeldstudien zeigten Rückgänge der Gewalt junger Menschen. Die Experten betonen im Periodischen Sicherheitsbericht, die Rückgänge bezögen sich sowohl auf die im schulischen Kontext begangenen Handlungen als auch auf Handlungen außerhalb der Schule. Auch Daten der Versicherungswirtschaft bestätigten die entsprechenden Befunde von Dunkelfeldstudien.

Ähnlich sieht es...


Patrick Gensing (*1974) lebt in Hamburg und arbeitet als Nachrichtenredakteur bei tagesschau.de. Gensing schreibt für verschiedene Medien, unter anderem die taz und die Jüdische Allgemeine. 2009 wurde er in der Kategorie Internet mit dem 3. Platz des Axel-Springer-Preises für junge Journalisten ausgezeichnet. Gemeinsam mit Andrej Reisin betreibt er das Blog Publikative.org, das aus dem Watchblog NPD-BLOG.INFO hervorging. Publikative.org wurde 2013 mit dem Alternativen Medienpreis ausgezeichnet, gewann den Publikumspreis bei den "BOBS" der Deutschen Welle und wurde für den Grimme Online Award in der Kategorie Information nominiert. Das Buch "Der Präventivstaat" ist Gensings drittes Buch: 2009 veröffentlichte er im dtv den Titel "Angriff von rechts - die Strategien der Neonazis" und 2012 im Rotbuch-Verlag das Buch "Terror von rechts - die Nazi-Morde und das Versagen der Politik".

Andrej Reisin (*1977) ist in Berlin aufgewachsen und lebt seit 1997 in Hamburg, wo er ein Studium der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Journalistik und Germanistik absolvierte, das er mit einer Magisterarbeit über den deutsch-jüdischen Philosophen Theodor Lessing abschloss. Er arbeitet seit 1996 als Freier Journalist, unter anderem für die taz, Spiegel Online und die Welt. Seit 2002 arbeitet er vor allem im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks (NDR), zunächst für tagesschau.de, später für NDR Kultur und seit 2009 für das ARD-Politmagazin Panorama. Er betreibt gemeinsam mit Patrick Gensing das Blog Publikative.org, das 2013 den Alternativen Medienpreis und den Publikumspreis der Best of Blog Awards (BOBS) der Deutschen Welle gewann, sowie für den Grimme Online Award nominiert war. Der "Präventivstaat" ist seine erste Buchveröffentlichung.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.