E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Gemmel / Zissener Befreiungsschlag
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-401-80651-8
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-401-80651-8
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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2 Und, wie ist es gelaufen?« Die Tür war noch nicht ins Schloss gefallen, als seine Mutter bereits die erste Frage stellte. Doch bevor Maik antworten konnte, redete sie schon weiter: »Hätte bestimmt besser ausgesehen, wenn ich dabei gewesen wäre. Hab meinen Chef heute Morgen noch mal gefragt, ob ich nicht wenigstens die zwei Stunden freibekommen könnte. Doch er meinte, dass ich ihm dafür einen triftigen Grund nennen müsste. Na ja, und …« Jetzt sah sie Maik an. »Was hätte ich ihm denn …?« Maik hörte gar nicht hin. Seine Blicke ruhten auf der Einkaufstasche, die seine Mutter gerade auf dem Küchenstuhl abgesetzt hatte und aus der langstielige Kohlblätter herausschauten. Kohl! Ausgerechnet. Maik drehte sich der Magen um. Gleich würde die ganze Bude wieder nach Gemüse stinken. Er hasste alles, was … »Hörst du mir überhaupt zu?« Die schrille Stimme seiner Mutter riss ihn aus den Gedanken. »Was …? Ja klar. Ich … Alles gut gelaufen. Bin gut davongekommen.« Sie seufzte. »Gut davongekommen. Was heißt denn das? Nun mach doch mal den Schnabel auf. Und lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.« Maik dachte an die Richterin, Frau Tünsch. Oder wie alle sie nannten: Lynch! Der Begriff Lynchjustiz hatte unter den Jugendlichen eine ganz eigene Bedeutung. »Sozialstunden gab’s. Nichts weiter.« »Wirklich? Sonst nichts?« Sie sah ihn überrascht an. »Nach dieser heftigen Aktion gab es nur Sozialstunden?« Er merkte ihr an, dass sie ihm nicht glaubte. Er kannte diesen Blick, diese Angst vor seinen Wutausbrüchen, wenn er sich angegriffen fühlte. »Wie viele Sozialstunden sind es denn?« »Achtzig«, antwortete Maik knapp und wunderte sich, dass er sich daran erinnerte. Womöglich hatte er sich das Gelaber von der Lynch doch angehört. Die Mutter griff nach der Tasche und fischte den Kohl heraus. Sie blickte Maik nicht an, während sie fast tonlos fragte: »Wie willst du das jetzt laufen lassen?« Maik drehte sich auf dem Stuhl herum. Was für eine beschissene Frage! Darum ging es ihr doch gar nicht. In Wahrheit fragte sie doch, ob er sich wieder um die Sozialstunden drücken würde, so wie bisher. Das dachten sie doch alle von ihm. Die Richterin, der Verteidiger, die Pädagogen in der Maßnahme, seine Mutter, sein Großvater. Sie alle hatten das gleiche Bild von ihm: Maik, der ewig Mist baute und sich dann vor den Konsequenzen drückte. Maik, der nichts Vernünftiges auf die Reihe brachte. Um seine Mutter nicht anzufahren, sagte er lieber gar nichts. Natürlich hatte er nicht vor, diese Sozialstunden abzuleisten. Und auf dieses – wie nannte die Lynch das noch – Antigewalt-Training hatte er auch keinen Bock. Er wusste zwar nicht, was das war, aber sicherlich wieder nur so pädagogisches schwachsinniges Gelaber. Was hatte das mit ihm zu tun? Was sollte der Scheiß bringen? »Nun?«, hakte sie nach. »Wirst du die Stunden machen?« Maik sprang von seinem Stuhl auf. »Klar. Wieso denn nicht? Was ist ’n das für ’ne Frage?« Er ging in den Flur und schnappte sich seine Jacke. »Du gehst weg?«, rief sie ihm nach. »Ich dachte, wir könnten mal reden. Ich wollte heute Abend für uns kochen und dachte, wir setzen uns mal zusammen. Viel Zeit hatten wir ja nicht füreinander.« Maik ließ die Tür hinter sich zufallen. Sprechen uns mal richtig aus? Zeit füreinander? Was sollte das denn! Mutter-Sohn-Abende, wie er so etwas hasste! In seinen Gedanken klang sie schon wie die Lynch: »Ich verdonnere dich zu achtzig Stunden Kohlgemüse und einem Antischweig-Training.« Er grinste in sich hinein. Das war Schwachsinn. Das hatte nichts mit ihm zu tun. Nicht mit ihm. Zum ersten Mal an diesem Tag besserte sich seine Stimmung, als er in der Ferne die Silhouetten seiner Freunde auftauchen sah. Gegen das Licht der untergehenden Sonne wirkten sie beinahe wie ein Denkmal, dort auf den Treppen des alten Sportplatzes. Ein Denkmal der Freundschaft und des Respekts voreinander. Woher kamen denn solche Gedanken? Doch je mehr er darüber nachdachte, desto richtiger erschien ihm dieser Einfall: Respekt. Freundschaft. Davon hatte die Gerichtstante heute Morgen nicht gesprochen. Und seine Mutter auch nicht. Keiner in seiner Familie sprach davon. Sie hatten keine Ahnung von seiner Welt. Und doch glaubten sie, ihm Vorschriften machen zu können. Seine Clique hielt zu ihm, so wie neulich, als Maik von einem Ultra-Fußballfan angepöbelt worden war. In Sekundenschnelle hatten sie um ihn gestanden und der Typ war kleinlaut abgezogen. Natürlich hatte Maik dafür eine Runde Bier spendiert. Aber niemand hatte ein Wort darüber verloren. So lief das eben bei ihnen. Zumindest bei den meisten von ihnen. »Hey, seht mal, wer da kommt!« Alex’ Stimme war ein echter Wohlklang, mit Alex hatte er schon eine Menge Scheiße gebaut, aber Alex kannte Maik und wusste, wann es zu viel war oder wann man aufhören musste. Maik spürte, wie sich die Anspannung löste, als er vor seine Freunde trat. »Tach auch!« Julia sprang auf ihn zu. »Na, wie war’s?«, fragte sie hastig und in ihren Augen stand echtes Interesse. Maiks Gesicht hellte sich auf. Jetzt bekam dieser Tag doch noch etwas Gutes. »Hey, Julia«, grüßte er zurück und umarmte sie kurz. Und mit einem Mal erinnerte er sich an den Moment im Gerichtssaal, als er sie so gesehen hatte wie damals, in ihrer Grundschulzeit. Die hüpfenden Zöpfe waren inzwischen natürlich verschwunden. Doch das Grübchen war geblieben, ebenso wie die beiden Sommersprossen. Sie knuffte ihn ungeduldig an. »Jetzt sag schon, wie war’s?« Doch bevor Maik antworten konnte, hielt sich Alex die Bierflasche vor den Mund und sprach wie in ein Mikro hinein: »Hier sehen Sie Maik. Neulich noch in der Schlägerei im Stadtpark, jetzt bei uns auf der Showbühne. Erleben Sie ihn, wie er heulend und jammernd zusammenbricht und dem Richter schwört, nur noch Gutes zu tun. Nur noch die Reichen bestehlen und den Armen abgeben. Und nie wieder ein Bier anfassen!« Die anderen auf der Treppe grölten. Sie kannten sich zum größten Teil schon aus der Grundschulzeit. Mit einigen von ihnen hatte Maik seit der fünften Klasse in der Gesamtschule-Mitte seinen Hintern platt gesessen. Einige gingen mittlerweile in die Berufsschule, andere wie Maik in die einjährige Berufsförderung, zwei von ihnen versuchten sogar, ihren Realschulabschluss zu schaffen. Maik drückte das Bierflaschenmikrofon vor seinem Mund zur Seite. »Was soll ich schon erzählen? Da war die Lynch, die sich für was Besseres hält, ein Verteidiger, der keinen Bock auf so einen Mist hat, und dazu jede Menge Schlipsträger. Kennt ihr doch.« »Und das Urteil?«, hakte Julia nach. »Sozialstunden«, brummte Maik. »Achtzig!« Alex pfiff hörbar durch die Zähne. »Wow, die scheint dich gernzuhaben, die Roben-Tussi. Da verbringst du ja beinahe die Hälfte deines Lebens in der Altenbude zum Urin-Kellnern.« Die anderen kicherten zwar über Alex, starrten aber wegen der hohen Anzahl der Sozialstunden verblüfft auf Maik. Doch der winkte ab. »Quatsch. Die sitze ich locker ab. Wie sonst auch. Für drei oder vier Stunden tauche ich auf, dann geh ich zum Arzt, um mich krankschreiben zu lassen. Das hat bisher jedes Mal geklappt.« »War das denn alles?«, hakte Julia nach. Sie war die Einzige von ihnen, die nichts auf dem Kerbholz hatte, aber zu Hause ging es ihr einfach beschissen. Ihre Mutter hatte immer nur mit sich selbst zu tun, da war für Julia kaum Platz. Und ihren Vater kannte sie gar nicht. Also hatte die Gruppe um Alex wortlos beschlossen, sie schützend in ihren Kreis aufzunehmen. Sie fühlte sich wohl bei den Jungs. Und vor allem: Sie war hier respektiert. Zwischen Maik und ihr hatte es von einem Tag auf den anderen gefunkt, aber scheinbar grundlos zog sich Julia an manchen Tagen zurück und Maik wusste dann nicht, wie er an sie rankommen sollte. »Das war doch eine heftige Aktion dieses Mal, oder?«, bohrte sie weiter. »Da muss es doch mehr gegeben haben als …« Maik begann herumzudrucksen. »Bisschen was gab’s schon noch.« Er spürte die erwartungsvollen Blicke der anderen auf sich. Jetzt war er nicht mehr locker. »Also.« Maik zögerte kurz, dann platzte es aus ihm heraus: »Ein Jahr, sechs Monate auf drei Jahre Bewährung. Und ein AGT-Training. Was auch immer das ist …« Julia stand der Mund weit offen. Auch Alex hatte es die Sprache verschlagen. Er pfiff nicht mal durch die Zähne. »Alter, das sind achtzehn Monate!«, flüsterte jemand betroffen von der Treppe herunter. Julia schossen Tränen in die Augen. »Das nennst du ein bisschen? Du hast … du bist … du … Ach!!« Es schüttelte sie, dann drehte sie sich um und rannte davon. »Hey! Jetzt warte halt mal.« Maik wollte ihr schon hinterher, doch Alex hielt ihn am Arm fest. »Lass sie. Das muss sie erst mal verdauen.« Maik starrte ihr hinterher. »Was hat sie denn? Bewährung hat doch fast...