Geletneky Midlife-Cowboy
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7325-2417-4
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-7325-2417-4
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein denkwürdiger Moment auf seinem Rasentraktor macht Tillmann klar, dass er in einer ausgewachsenen Midlife-Crisis steckt. Wann genau sind seine ambitionierten Träume bloß zu diesem Spießerleben mit Reihenhaus und Gartenteich mutiert? Eins steht fest - er muss dringend etwas ändern! Prompt schlittert er in eine Affäre, die ausgerechnet an seinem 10. Hochzeitstag auffliegt. Und als er versehentlich ein Video veröffentlicht, das Tausende Beziehungen zerstört, hasst ihn außer seiner Frau jetzt auch noch der Rest der Welt. So hatte sich Tillmann sein neues Leben irgendwie nicht vorgestellt ...
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PROLOG
DAS NASENEISEN
»Der Mensch ist ein Schüler,
Schmerz ist sein Lehrer.« ALFRED DE MUSSET Und bitte einmal freundlich lächeln!« Ich drehte mich um. Gereon hielt mir sein iPhone vors Gesicht und drückte auf den Auslöser. Ich versuchte mich wegzuducken, aber mein Reaktionsvermögen war momentan ungefähr so gut wie das einer Lederschildkröte nach einem Whisky-Tasting. Gereon betrachtete das Ergebnis auf seinem Display und nickte anerkennend. »Sehr schön. Das kann ich gut als Vorher-Bild für meinen Artikel über Gesichtsrekonstruktionen gebrauchen. Wenn Sie mal schauen möchten?« Er hielt mir das Foto vor die Nase. Leider hatte er nicht übertrieben – ich sah einfach nur erbärmlich aus. Die verschorfte Platzwunde in der Mitte meiner Stirn, das inzwischen lila angelaufene Auge, die gebrochene Nase, die geschwollene und verschorfte Lippe, der stark gerötete Wangenknochen, der unter dem Ausläufer meines falschen Barts zu erkennen war, die Schürfwunden an Kinn und Stirn … Wenn das nicht ich gewesen wäre, dem ich da in die ramponierte Hackfresse schaute, ich hätte wahrscheinlich selber gelacht. Aber leider war das ich, oder jedenfalls das, was von mir übrig war. Draußen prasselte der Regen gegen die große Panoramascheibe von Gereons Behandlungszimmer. Gereon wandte sich ab und holte etwas aus einer Schublade seines Nussbaumschranks, der in der Ecke des Raumes stand. Ich kniff die Augen zusammen, um das Ding gegen das blendende Weiß seines Polohemdes zu erkennen: eine etwa dreißig Zentimeter lange Stange, vielleicht fingerdick, mit löffelartigen Rundungen an beiden Enden. »Setz dich auf den Stuhl da. Und versuch bitte, ihn nicht vollzubluten! Das Teil hat achttausend Euro gekostet, dafür muss ein alter Schönheitschirurg so manchen Arsch absaugen! Und nimm endlich deinen albernen Bart ab – du siehst aus wie Conchita Wurst nach einem Kampf gegen beide Klitschkos.« Ich humpelte zum Behandlungsstuhl und zog langsam meinen falschen Bart ab. Der Kleber riss ein paar nachgewachsene echte Barthaare aus ihren Wurzeln – aber diese Art von Schmerz nahm ich schon gar nicht mehr wahr. »Was ist das?«, fragte ich Gereon und deutete auf den seltsamen Riesen-Eislöffel in seiner Hand. »Oh, das ist ein Naseneisen – damit werde ich deine Nase wieder richten! Die ist nämlich gebrochen.« »Ja, das hab ich auch schon gemerkt.« »Und warum kommst du damit ausgerechnet zu mir? Soll ich dir vielleicht ein süßes Stupsnäschen machen? Oder willst du größere Brüste?« Gereon zwickte mir scherzhaft in die linke Brust. Ich versuchte seine Hand wegzuwischen, war aber zu langsam. »Sehr lustig, Gereon. Ich war gerade bei einem richtigen Arzt in der Innenstadt – wegen meiner gebrochenen Rippen. War sogar eine Ärztin. Aber die Irre hat mich erkannt und mir eine Kopfnuss verpasst!« »Was? Echt? Dann hat ihr Typ bestimmt auch dein Video gesehen! Interessant!« »Ja, wahnsinnig interessant«, brummte ich düster und starrte weiter auf die seltsame Stange in Gereons Hand. Allmählich bastelte mein Gehirn aus dem, was ich sah, und dem Begriff Naseneisen ein Szenario zusammen, das etwas äußerst Beunruhigendes an sich hatte. Ich versuchte, es zu verdrängen, aber es gelang mir nicht. Die Gedanken falteten sich auseinander wie ein Transformer vor Shia La Beouf, und genau wie er war auch ich dazu verdammt, mit einer Mischung aus Angst und Faszination dabei zuzusehen, wie sich vor mir das Grauen zusammensetzte. »Pass auf!«, sagte Gereon, stellte sich vor mich und wippte in seinen weißen Lederslippern auf und ab. »Gibt jetzt zwei Behandlungsmöglichkeiten. Die eine ist schmerzvoll, aber kurz …« »Ich nehm die andere!«, rief ich so schnell und laut ich konnte. »Ja, das hab ich mir gedacht. Das hieße aber, dass du ins Krankenhaus in stationäre Behandlung müsstest. Und ich behaupte mal, dass auch dort mindestens ein Arzt oder Pfleger dabei ist, dessen Beziehung du mit deinem beknackten Video ebenfalls in Schutt und Asche gelegt hast. Und eventuell hast du nach deinem Aufenthalt dann gar keine Nase mehr!« Ich stöhnte. »Du machst deine Brust-OPs doch auch mit Vollnarkose – kann ich nicht …« »Tillmann! Dann muss ich einen OP mieten – das kostet ein Vermögen! Der Spuk hier dauert zwanzig Sekunden. Das tut einmal ein bisschen weh, und das war’s dann. Gut, zweimal. Und vielleicht ist ›ein bisschen‹ auch nicht ganz die richtige Umschreibung.« Es klopfte an die Tür. »Ja!«, bellte Gereon laut, und seine Arzthelferin Heidrun kam herein, eine stämmige Frau mittleren Alters mit gütigen Augen und einer ausladenden Achtzigerjahre-Betonfrisur, die in ihrem Leben bestimmt schon so manche Containerladung Haarspray aufgesaugt hatte. Gereon ging Schwester Heidrun lächelnd entgegen und legte kumpelhaft den Arm um ihre Schultern. »Heidrun, können Sie sich das vorstellen: Der Herr Klein hat sich für eine Nasenrichtung ohne Narkose entschieden! Ist das nicht mutig?« Schwester Heidruns kleine Augen weiteten sich voller Bewunderung, Staunen und Fassungslosigkeit. »Uiuiui – das ist aber wirklich sehr tapfer von Ihnen!« Gereon setzte ein breites Grinsen auf und verschwand dann aus dem Zimmer. »Am besten, Sie lehnen sich erst mal zurück und versuchen, sich so gut wie möglich zu entspannen, Herr Klein«, sagte sie sanft, und ich versuchte im Rahmen meiner Möglichkeiten, ihren Anweisungen zu folgen. »Ich fand das übrigens klasse, was Sie da in Ihrem Video gesagt haben!« Ich sah sie erstaunt an. »Oh, danke. Das … sehen nicht alle so …«, sagte ich matt. »Na ja, das sind halt die Leute, die erwischt wurden. Ändert ja nichts daran, dass es stimmt, was Sie gesagt haben. Und das finde ich mutig!« »Ich muss aber zugeben, dass ich ziemlich betrunken war, als das Video aufgenommen wurde … Und ich weiß ehrlich gesagt gar nicht mehr so richtig …« »Das ist ja egal«, sagte Heidrun. »Wie sagt man so schön: Kleine Kinder und Betrunkene sagen immer die Wahrheit!« Normalerweise hätte ich darauf wahrscheinlich mit einem Scherz über betrunkene kleine Kinder geantwortet, die dann eine Art Superwahrheit sagen müssten, aber dazu war mein Gehirn zu dem Zeitpunkt leider nicht mehr imstande. Stattdessen stieß ich lediglich ein undefiniertes Krächzen aus. Schwester Heidrun tätschelte mir die Schulter. »Das wird schon wieder, Herr Klein!« Dann nahm sie die ersten Tamponagen aus der Petrischale und bat mich, den Kopf nach hinten zu legen. »Das wird jetzt ein klitzekleines bisschen drücken – atmen Sie ab jetzt am besten durch den Mund.« Heidrun begann, mir Tamponagen in die Nasenlöcher zu stopfen – tief in die Nasenhöhle, erst links, dann rechts, bis ich kaum noch Luft bekam. Als ich gerade einen tiefen Atemzug durch den Mund nehmen wollte, stopfte sie mir die Dinger noch tiefer in die Nase, sodass ich sie im Rachen spürte und würgen musste. So ähnlich mussten sich Mastgänse fühlen, wenn sie genudelt wurden. Und auch in Guantanamo hätte Heidruns Tamponagen-Anwendung bestimmt gute Ergebnisse erzielt. Als sie fertig war und ich den Kopf wieder hob, sah ich Gereon vor mir stehen. Er hatte eine kleine Ampulle in der Hand. »Hier, trink das!« »Wassdas?«, näselte ich. »Zaubertinktur – das, was die Quacksalber mit den großen Zylindern damals im Wilden Westen von ihren Pferdekarren verkauft haben. Trink einfach!« Er hielt mir die offene Ampulle an die Lippen, und ich trank. Zum Glück schmeckte ich nichts mehr – ich hatte zu viel Watte im Hals. »Wschnellwirktndas?«, nuschelte ich noch, als ich schon merkte, dass die Welt um mich herum zu zerlaufen begann wie auf einem Salvador-Dalí-Gemälde. Was für ein Teufelszeug. Einen ähnlichen Effekt hatte ich bis jetzt nur bei dem tschechischen ›Spezial-Absinth‹ erlebt, den Gereon mal von einer Fortbildung in Prag mitgebracht hatte – neben einer saftigen Hepatitis-C-Infektion, von deren Entstehung er uns leider in aller Ausführlichkeit erzählte. Jetzt sah ich, wie Gereon Heidrun zunickte. »Weißt du noch, Tillmann? Damals Silvester?«, fragte er, während er mir langsam und so unauffällig wie möglich die Eisenstange in die Nase schob. »Als wir die Pfandkästen aus dem Lager vom Kaiser’s geklaut haben, um uns das Riesen-Böllersortiment zu kaufen?« »Halls Maul, Geheon – ihweiß, dassudas nur sags, ummich absulenkn, weillu dein blöes Nasneisn …« »Das ist vollkommen richtig!«, sagte Gereon und riss das Naseneisen mit einer blitzschnellen kräftigen Bewegung in die Höhe. Ich weiß noch, dass mich das Geräusch daran erinnerte, wie wir als Kinder im Wald waren und trockene Äste über dem Knie zerbrachen. Dann legte sich Dunkelheit über mich. Als ich die Augen wieder öffnete, dachte ich für einen kurzen Moment, ich wäre wieder zu Hause in meinem Wohnzimmer bei Sonja, den Kindern und Gustav, und die letzten Wochen seien nur ein böser Traum gewesen. So wie bei Bobby Ewing im bräsigen Finale von Dallas. Aber im selben Moment spürte ich bereits, wie der Schmerz wie wild in meinem Gesicht pulsierte, und ich schielte herunter auf meine bandagierte...