Geißler Saisonarbeit
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-944543-18-5
Verlag: mikrotext
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
(Volte, Band 2)
E-Book, Deutsch
Reihe: Volte bei mikrotext
ISBN: 978-3-944543-18-5
Verlag: mikrotext
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Saisonkraft bei Amazon. Ausgerechnet. Für die Autorin und Übersetzerin in Geldnot ist es ein Moment der Misere, für alle anderen ein literarischer Glücksfall. Denn was in den Wochen vor Weihnachten entsteht, ist vieles zugleich: Ein Erfahrungsbericht, der ebenso persönlich wie politisch ist. Kritik an den Verhältnissen mit den Mitteln der Selbstironie. Der Blick in eine Halle, die von der Außenwelt abgeschottet ist und gerade deshalb viel über sie verrät. In 'Saisonarbeit' geht es um Empfindlichkeit und das Politische des Empfindlichen. Es geht um die Arbeit bei Amazon und darum, 'dass mit dieser Arbeit und vielen Sorten Arbeit grundsätzlich etwas faul ist'. Heike Geißler, 1977 in Riesa geboren, ist Autorin, Übersetzerin und Mitherausgeberin der Heftreihe 'Lücken kann man lesen'. Bisher erschienen: Der Roman 'Rosa' (DVA, 2002), die Erzählung 'Nichts, was tragisch wäre' (ebd., 2007) sowie das Kinderbuch 'Emma und Pferd Beere' (Lubok, 2009). Sie lebt in Leipzig.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Eins
Geht es hier eigentlich um Leben und Tod? Ich sage einstweilen nein und komme später auf die Frage zurück. Dann werde ich sagen: Nicht direkt, aber irgendwie ja doch, es geht darum, wie sehr der Tod ins Leben darf. Oder das Tödliche. Also das, was uns umbringt. Um genau zu sein: Gegen das Tödliche ist der Tod ein Waisenknabe. Oder: Der Tod ist gegen das Tödliche ein Herr mit guten Manieren und einer Schüchternheit im Blick. Das Tödliche ist von jetzt an Ihr Begleiter, so viel kann gesagt werden. Aber erst einmal gehen wir los, denn Sie haben ja einen Vorstellungstermin. Sie gehen los, ich begleite Sie und sage Ihnen, wie alles ist und was Ihnen passiert. Sie sind ab jetzt als ich unterwegs. Sie sind also weiblich, bitte merken Sie sich das, denn es ist an einigen Stellen wichtig. Sie sind eigentlich Autorin und Übersetzerin, haben zu diesem Zeitpunkt zwei Söhne und einen Partner, der gut zu Ihnen passt, was Sie meistens auch wissen. Ihr Freund hat Ihnen vorm Losgehen viel Glück gewünscht und nochmals gesagt, Sie müssten das nicht machen. Aber das stimmt nicht, Sie müssen das machen, Sie müssen jetzt das Erstbeste versuchen, um Geld ins Haus zu bekommen. Ihr Vorstellungstermin heißt nicht Vorstellungsgespräch, weshalb Sie sich keine Worte zurechtlegen und auch nicht besonders gekleidet sind. Sie tragen Jeans und Pulli, es geht um keine Karriere. Sie gehen aus dem Haus, eventuell sind Sie aufgeregt, denn Sie wollen den Job, Sie haben nun einmal kein Geld und lehnen es aus gewissen Gründen, die ich noch erklären werde, ab, Hartz IV, Wohngeld oder dergleichen zu beziehen. Sie bekommen Kindergeld für zwei Kinder, Sie bekommen auch Rechnungen bezahlt, aber leider werden Ihre Rechnungen meistens nicht pünktlich bezahlt. Es kommt erschwerend hinzu, dass Sie auch nicht gut darin sind, Rechnungen zu schreiben; Sie schieben das immer auf die lange Bank. Die Bank ist lang wie der längste Lebkuchen der Welt, also einen Kilometer. Auch schreiben Sie nie Mahnungen. Sie denken, dann gibt man Ihnen keinen Auftrag mehr. Sie sind jetzt, falls Sie es nicht eh schon sind, ein Seelchen. Sie sind, das haben Sie auch schriftlich, sehr empfindlich, aber machen Sie sich nichts daraus, die Empfindlichkeit sollte man Ihnen nicht vorwerfen, Sie dürfen Ihre Empfindlichkeit von nun an als ein Potenzial verstehen. In Ihrer Verletzbarkeit liegen etliche Möglichkeiten verborgen. Wie gesagt: Sie sind empfindlich und werden es bleiben – und auch darauf kommen wir zurück. Eventuell kommt Ihnen allein diese Fahrt zu Amazon, von der Sie noch nicht wissen, ob sie von Erfolg, also von einem befristeten Arbeitsvertrag, gekrönt sein wird, wie der Beginn oder Beleg eines sozialen Abstiegs vor. Sie werden immer wieder versuchen, es anders zu sehen, aber schon der Anfang zwingt Sie in die Knie und eine Schicht tiefer und so wird es bleiben. Ja, Sie werden Schichten sehen, falls Sie das nicht vorher schon taten. Sie werden die Schichten dermaßen deutlich vor sich sehen wie Geologen den Aufbau des Bodens, aus dem sie eine tiefe Grube aushoben. Wenn Sie genau überlegen, kommen Sie manchmal zu dem Schluss, dass der soziale Abstieg nur etwas behelfsmäßig das bezeichnet, was eher ein sich verfestigt habender Mangel an Möglichkeiten und Weitsicht ist. Es wird also so sein: Sie bekommen diesen Job und freuen sich, und dann werden Sie müde sein, werden jeden Tag Ihre Augen kaum noch offen halten können, Ihnen wird die Kraft für alles Vergnügliche oder schlicht für alles fehlen und Sie werden sehr viel mehr über Ihr Leben und das Ihrer Eltern und all derer wissen, die Vorgesetzte haben. Sie haben ja normalerweise keinen Chef, keine Chefin. Sie werden bald etwas über das Leben wissen, das Sie vorher nicht wussten, und es wird nicht nur mit der Arbeit zu tun haben, sondern auch damit, dass Sie älter werden, dass Ihnen jeden Morgen zwei Kinder hinterherweinen, Sie mögen doch nicht zu dieser Arbeit gehen, und damit, dass mit dieser Arbeit und vielen Sorten Arbeit grundsätzlich etwas faul ist. Sie werden viel darüber nachdenken, was es mit der Arbeit auf sich hat, warum diese Arbeit niemandem zugemutet werden sollte. Sie werden Missverständnissen unterliegen und Dinge verwechseln und Ihre Empfindlichkeit wird sich vom erstbesten Tödlichen bearbeiten und herausfordern lassen, so dass Sie eine Weile brauchen werden, um herauszufinden, woran Sie wirklich leiden, und dass Ihr Leid keinesfalls ein spezielles ist, sondern ein frappierend allgemeines. Ja, Sie sind allgemein, ich will Sie allgemein betrachten und Ihnen Ihr Allgemeinstes vorstellen. Aber das Spezielle kommt zuerst. Grundsätzlich ist es jedenfalls nahezu unmöglich, von dieser Arbeit, die Sie gleich haben werden, nicht in die Knie und in den Trotz gezwungen zu werden. Sie fahren mit der Straßenbahnlinie 3 Richtung Sommerfeld, die Bahn füllt sich bis zum Hauptbahnhof, dort steigen die meisten aus, niemand steigt zu. Sie gehen davon aus, dass alle, die nun noch im Waggon sind, genauso wie Sie zu Amazon zum Testarbeiten fahren. Sie sehen auf Ihren Zettel: aussteigen Teslastraße / Heiterblick, dann Amazonstraße. Eine fahle Wintersonne. Sie sind nun also unterwegs, um am Weihnachtsgeschäft des Unterne mens teilzuhaben. Es könnte aber auch das Ostergeschäft oder irgendein anderes an irgendeine Saison oder Feierlichkeit gebundenes Geschäft sein, das hier einen Job für Sie abwerfen soll. Vorerst jedoch ist Winter, es ist nicht mehr weit bis Weihnachten, demnächst wird es sehr kalt werden. Die Straßenbahn entfernt sich aus dem Stadtzentrum, links und rechts von der Strecke stehen viele Häuser leer. Schließlich überwiegen die Grün- und Nutzflächen, Sie nähern sich den funktionalen Regionen der Stadt: Tankstellen, Autovermietungen, Kranverleih, Bordell, leerstehende Bürokomplexe, Plattenbausiedlungen in einiger Entfernung zur Straße. Sie sind aufgeregt, das hat sich noch nicht gelegt. Sie suchen nach einer passenden Haltung, einer Denkweise, um eben nicht zu denken, dass Sie bei diesem Ausflug keiner sehen darf. Sie sitzen in der Straßenbahn und fahren zum Testarbeiten, weil das Unternehmen Sie interessiert. Sie sind ein Buchmensch und dürfen sich aus Recherchegründen für dieses Unternehmen interessieren. Sie werden aber dennoch lernen zu sagen, dass Sie das Geld eben brauchen, dass Sie einen solchen Job haben und dennoch Schriftstellerin sind und Übersetzerin. Es ist ja vieles möglich. Es wird Ihnen jedenfalls irgendwann ganz leicht fallen, all Ihre seltsamen Idealvorstellungen von Laufbahn und Leben und Erfolg über Bord zu werfen und zu sagen, dass Sie diesen eigentlichen Job haben und dazu einen weiteren. Sie werden dann wissen, dass nicht alles nur an Ihnen liegt und dass der Bauarbeiter, der vier schwere Balken schleppte, so dass sich ihm die Beine ins O bogen, dem mein kleinerer Sohn und ich zusahen, eben nicht Recht hatte, als er zu meinem Sohn sagte: Pass gut in der Schule auf, damit du sowas später mal nicht machen musst. Sie werden immerzu darüber nachdenken, was nun eigentlich jeder für Vorstellungen vom Aufbringen des Lebensunterhalts hat, warum es zuweilen wie Versagen wirkt, vom eigentlichen Job nicht leben zu können. Sie werden sich sogar selbst überraschen, wenn Sie abkommen von allen Helden- und Erfolgsgeschichten, von Leistungsgedanken, und wenn Sie den Müßiggang preisen und sich gegen das ewige Gebot von Wettbewerb und Wachstum stellen. Sie werden dennoch manche Sätze auswerfen, die Ihren Freund veranlassen werden zu sagen, Sie seien die einzige neoliberale Linke, die er kenne. Dann denken Sie darüber nach. Immer gibt es etwas, worüber man nachdenken kann. Das sollte, so lapidar es auch klingt, auf jeden Fall Erwähnung finden. Sie steigen als Einzige aus und wissen sogleich, wie ein Weltunternehmen aussieht. Es ist nicht zu übersehen, könnte aber übertroffen werden. Die Versandhalle ist grau und flach parallel zur Straße gebaut, ist riesig, aber diskret. Sie wirkt überschaubar, wie ein gezähmter Riese, oder wie ein Inhaftierter auf Freigang, der sich darum bemüht, weder straffällig zu werden noch so zu wirken, als könnte er es wieder werden. Am das Gelände umgebenden Zaun hängt ein Banner mit der Mitteilung, dass Mitarbeiter gesucht werden. Ihr Freund hat Ihnen gesagt: Du musst dir keine Gedanken machen, die nehmen dich auf jeden Fall. Aber Sie sind nicht so, dass Sie sich keine Gedanken machen, wobei man natürlich in Frage stellen kann, inwiefern Sorgen überhaupt Gedanken und nicht eher Reflexe sind. Sie stehen vor dem Drehtor zum Firmengelände und drücken auf den Klingelknopf für Besucher. Sie versuchen, sich schnell zu orientieren, Sie wollen ja auch niemandem im Weg stehen. Sie folgen der Anweisung, die auf dem Schild vor Ihnen steht, und blicken, während Sie klingeln, in die Kamera schräg über Ihnen und warten. Die Drehtür bewegt sich nicht. Sie klingeln dreifach, blicken in die Kamera, wissen nicht, ob Sie mit Ihrem Blick den Türöffner auszulösen haben, wofür dieser Blick in die Kamera, den Sie wohl nicht zu beherrschen scheinen, wohl da ist. Sie kommen nicht auf die Idee, dass Ihre Blicke nur einen Bildschirm füllen, der zwischen etlichen anderen Bildschirmen am Tresen der Sicherheitsleute im Eingangsbereich steht und nicht beachtet wird und nicht wichtig ist. Ein Licht leuchtet grün, Sie drücken gegen die Drehtür, aber die Tür bewegt sich nicht. Schließlich schiebt ein Mitarbeiter seinen Mitarbeiterausweis von rechts an Ihnen vorbei vor den Sensor, drückt gegen die Drehtür, die sich sogleich zu drehen beginnt, und schickt Sie mit einem beherzten Na los hinein. Vor Ihnen ein Betonturm, den Sie betreten, weil es naheliegt und weil der, der Sie einließ, das genauso...