E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Reihe: Hanser Berlin LEBEN
Geißler Arbeiten
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-446-28400-5
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Reihe: Hanser Berlin LEBEN
ISBN: 978-3-446-28400-5
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Heike Geißler, 1977 in Riesa geboren, ist Autorin, Übersetzerin und Mitherausgeberin der Heftreihe 'Lücken kann man lesen'. Zuletzt erschienen von ihr die Romane 'Die Woche' und 'Saisonarbeit', sowie das gemeinschaftliche Literaturprojekt 'Check your habitus', kuratiert von Daniela Dröscher. Mit der Schauspielerin Charlotte Puder arbeitet sie als Kollektiv George Bele. Heike Geißler wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet und lebt mit ihrer Familie in Leipzig.
Autoren/Hrsg.
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Von meinem Arbeitszimmerfenster aus überblicke ich einen Platz. Der Platz wird gerahmt von einer Mischung aus sanierten Gründerzeithäusern und Plattenbauten, die — entworfen als Teil eines städtebaulichen Experiments, das erst nach der Wende abgeschlossen wurde — versuchen, die Formen der Altbauten zu übernehmen, die angetäuschte Spitzdächer und Erker haben. Die Gehwege mussten, da die Produktion in den Fabriken mit dem eingeläuteten Ende der DDR nicht mehr funktionierte, zum Teil aus im Baumarkt gekauften Steinen gebaut werden. Im Zentrum des Platzes liegt eine eingezäunte Grünfläche, aus der zweimal im Jahr der Müll entfernt wird, deren Pflanzen einmal im Jahr gelbe Blüten zeigen und anschließend beschnitten werden. In der Grünfläche stehen zwei Fechterfiguren, die ich zwar täglich sehe, aber trotzdem nicht beschreiben könnte. Ich kann hingegen die Menschen beschreiben, die an und um die Figuren herum arbeiten. Die Gärtner*innen zum Beispiel oder jene Restauratorin, die an einem Spätsommertag mit ihrem Fahrrad samt Anhänger kam, die Leiter ablud, über das Zäunchen auf die Grünfläche trug und vor einer der Skulpturen abstellte. Sie bepinselte die Skulptur an manchen Stellen mit einer Flüssigkeit, die sie einer an der Leiter befestigten Dose entnahm. Während ich sie beobachtete, dachte ich, wie Arbeit oder Handlungen, die nach Arbeit aussehen und in Arbeitskleidung verrichtet werden, eine erstaunlich gute Tarnung für Akte der Sabotage, Demontage oder des Diebstahls sein können und so oft schon waren. In diesem Fall jedoch nicht. Sie bearbeitete kleine Schäden, bereitete die Sandsteinskulpturen für den Winter vor. An einem Tag die eine Figur, am nächsten die andere.
Auf dem Platz sehe ich Umzüge, sehe die Fahrzeuge der unterschiedlichen Paketlieferdienste. Ich sehe Taxis, in letzter Zeit immer häufiger Notärzte und Rettungswagen. Ich sehe Menschen, die im Gehen telefonieren; manche erwecken den Anschein, mit einer Freundin oder Verwandten zu plaudern, andere hingegen wirken emsig, arbeitsam, erledigen etwas auf dem Weg, was vielleicht nicht warten kann. Aber was eigentlich kann nicht warten? Ich sehe die Lieferdienstfahrer, ich sehe Gruppen, die sich dort versammeln, wo ein Rest des ehemaligen Künstlerhauses mit seinem goldenen Schriftzug dem Platz eine Einfassung gibt. Ich sehe Kinder zur Schule gehen und zurückkommen, ich höre, wie ein Nachbar mit seinen Kindern schimpft, weil sie zu langsam sind oder eines zu schnell, eines viel zu langsam. Manchmal schimpft er so energisch, dass ich mich verstecken möchte und mich zugleich daran erinnere, wie herausfordernd es ist, mit kleinen Kindern irgendwo pünktlich zu erscheinen. Wie man es trotzdem fast jeden Tag schafft. Ich sehe und höre Eile. Ich sehe Leute, die mit dem eingeschweißten Assiettenessen aus der Konsumfiliale an der Hauptstraße kommen und den Platz überqueren. Ich sehe den weißen Transporter des Schauspielhauses, eine Seite ist mit dem Motto der aktuellen Spielzeit bedruckt: . Ich sehe und höre Autos rasen, ich sehe eine Fahrerin eine Stelle an ihrer metallic-grünen G-Klasse berühren und aus verschiedenen Blickwinkeln begutachten. Nachher kommt sie mit ihrem Partner zurück, zeigt ihm die aus meiner Perspektive unsichtbare, aber wohl schadhafte Stelle.
Der Platz ist Teil dieser Welt, Teil der Arbeitswelt sowieso, und ich schaue immer gern auf die andere Straßenseite auf den Plattenbau, in dem ich mal wohnte. Die erste Wohnung, die wir als Familie hatten, bis sie zu klein wurde und wir umzogen, im neuen Haus dann aber fast sofort entmietet wurden und mit viel Glück eine Wohnung gegenüber unserem alten Haus in vertrauter Umgebung fanden. Ich sehe die Eingangstür, sehe den Nachbar I. im Erdgeschoss in seiner Küche stehen: I., der einen immer viel zu genau anschaut und viel zu nah kommt, den ich jetzt, da wir keine Nachbarn mehr sind, nicht mehr grüße, um nicht in ein Gespräch gelockt zu werden, dem ich manchmal, um seinen mir immer anzüglich vorkommenden Blicken zu entwischen, im großen Bogen ausweiche, wenn wir uns entgegenkommen. Da drüben jedenfalls geht gerade Frau B., sie verlässt das Haus. Auch sie ist eine ehemalige Nachbarin, die erst ihre Mutter, dann ihren Vater pflegte. Zur Pflege ihres Vaters kam die Pflege der Nachbarin Frau F. hinzu, die nie um eine steile These und eine Tirade gegen die über ihr wohnende Nachbarin Z. verlegen war und deren Tochter und Sohn nicht zu Besuch kommen und sich kümmern wollten und das auch nicht mussten, weil Frau B. sich ja kümmerte. Frau B., gelernte Buchbinderin, nach der Wende arbeitslos geworden, hatte, wie so viele, diese Maßnahme, jene Maßnahme absolviert und kennt Aufopferung und schlechte Bezahlung sehr gut. Sie arbeitete irgendwann nach einer Umschulung als Hauswirtschaftshilfe und ist nun schon eine Weile in einer Arztpraxis als Helferin beschäftigt. Wenn wir uns begegnen, reden wir. Immer steht sie aufrecht, immer trägt sie eine schmale Handtasche über der linken Schulter.
Am frühen Morgen sehe ich das Auto des Pflegedienstes im Halteverbot stehen, weil kein anderer Parkplatz frei ist. Ich sehe die Mitarbeiterin aussteigen, am Haus gegenüber klingeln. Wenn ich das nächste Mal ans Fenster trete, ist das Auto immer schon wieder weg.
Wird es draußen dunkel, sehe ich die Fernseher der Leute. An diesem Platz treffen mittlerweile, seit die meisten Altbauten vor fünfzehn Jahren zu Prunkbauten saniert wurden, unterschiedliche Gesellschaftsschichten aufeinander. Hier wohnen Neureiche, konventioneller Wohlhabende, dazu jene, die so zurechtkommen, dass es irgendwie in Ordnung ist und für den Moment reicht, und jene, die wenig haben, zu wenig, um abgesichert zu sein.
Arbeitende Menschen. Und sogenannte arbeitslose Menschen, aber als ob es die noch gäbe.
Ich lese: »Du machst Sachen, die nicht dein Job sind, nicht Teil deiner Tätigkeitsbeschreibung, für die du nicht qualifiziert bist, und du tust Dinge, die früher der Job anderer Kolleg*innen waren. Wenn du arbeitslos bist, lassen sie dich weiter schuften, und jemand anderes wird daran verdienen. Nach der Arbeit kommt , und die war auch mal eines anderen Job und Lebensunterhalt. Du tippst deine Zugreisedaten ein, scannst Barcodes, verpackst Lebensmittel. Es ist egal, welchen Beruf du angibst. Jeder und jede ist Verkäufer, Schaffnerin, Bedienung, Reisebüro und Bankdirektorin.«5
Nach einer Weile der Beschäftigung mit dem Thema Arbeit sehe ich kaum noch etwas anderes. Als fiele es mir jetzt erst auf, dass doch alles, alles aus Arbeit entsteht, dass also in alles, alles Arbeit geflossen ist und fließt. Glaubt man der Bibel, stimmt diese Aussage umso mehr. Auch war arbeitsam und wusste zugleich um die Notwendigkeit des Innehaltens, des Aufhörens. Nicht einmal, wenn ich einen halbwegs tiefen Wald durchstreife, bewege ich mich außerhalb von Arbeitskontexten. Wenn ich nicht nur durch die (schon wieder recht schmutzigen) Fenster meines Arbeitszimmers nach draußen sehe, sondern die Fenster selbst betrachte, fallen mir die Handwerker wieder ein, die diese Fenster vor zwei Jahren eingebaut haben. Sie kamen zu zweit zum Vermessen und Monate später zu fünft für den Einbau. Unsere Fenster wurden in den Wintermonaten gewechselt. Frieren Sie nicht?, fragte ich die Arbeiter unbeholfen. Wir machen uns warme Gedanken, sagten sie. Ich kochte ihnen Kaffee, Tee, stellte Kekse, Schokolade und belegte Brötchen für sie bereit. Wir kamen ins Gespräch, wann immer ich nach ihnen schaute und fragte, ob sie etwas benötigten. Ich sah sie ihre harte körperliche Arbeit verrichten. Schwere Fenster in Position wuchten und auch bei Missgeschicken nett zueinander sein. Kein Nachwuchs, sagte der eine mit der Rollmütze, zu dem ich sofort Vertrauen gefasst hatte. Alle Arbeiter in unserer Wohnung waren älter als 50 Jahre. Ich kochte ihnen einen Eintopf und servierte ihn in meinem Arbeitszimmer am hereingetragenen Wohnzimmertisch. Meine Bücher, mein Schreibtisch, alle meine Gedanken waren hinter zarter Plastikfolie verborgen, die wir überall festgeklebt hatten, um den feinen Baustaub draußen zu halten (das gelang nicht gänzlich). Die Arbeiter murrten, es sei zu wenig Fleisch in der Suppe. Ich lachte und murrte zurück: Aber es ist bio. Das interessierte sie nicht und machte nichts. Sie sagten, ein Nachbar aus einer WG sei während des Einbaus im Bett geblieben. Er habe ihnen die Tür geöffnet und sich dann wieder hingelegt, sich nicht von der Kälte, nicht vom Lärm, nicht vom...