Geiges Das Hexenmedaillon
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8437-0975-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 576 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0975-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Johanna Geiges hat jahrelang als Drehbuchautorin für große Fernsehproduktionen gearbeitet, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt mit ihrer Familie in Memmingen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
I
Als Abeline am nächsten Morgen aufwachte, blinzelte sie in die Sonne, die durch die glaslose Fensterlaibung des elterlichen Schlafgemachs hereinschien. In der Ferne war Geschrei zu hören – oder hatte sie das nur geträumt? Sie horchte, nein, sie musste sich wohl getäuscht haben. Sie brauchte eine Weile, bis sie sich erinnerte, warum sie bei ihren Eltern im Bett unter der warmen Felldecke lag und nicht in ihrem eigenen. Sie hatte in der Nacht schlecht geträumt, und ihr Vater hatte sie aus ihrer Kammer zu sich und ihrer Mutter geholt, an ihren Traum konnte sie sich aber nicht mehr erinnern. Sei’s drum, dachte sie und streckte sich wohlig wie eine Katze, bevor sie aus dem Bett stieg und barfuß über den strohbedeckten Holzbohlenboden ging, was sie immer zum Kichern brachte, weil das Stroh so unter ihren Fußsohlen piekste. Es musste schon später Vormittag sein, wenn es draußen so hell war. Sie hüpfte spielerisch die Stufen der engen Wendeltreppe hinunter ins Erdgeschoss, von der aus man direkt in die Küche der Burg gelangte. Abeline war hungrig wie ein Wolf und freute sich auf ein schönes Frühstück. Vielleicht, wenn sie Glück hatte, gab es noch warmen Hirsebrei, den ihre Mutter für sie immer so schön süß zubereitete, indem sie Honig dazugab, weil sie wusste, was für ein Leckermäulchen ihre Tochter war. Abeline aß eben am liebsten Naschwerk und stibitzte für ihr Leben gern Honig aus dem Honigtopf.
Zu ihrer Verwunderung war jedoch kein Mensch in der Burgküche, nicht einmal Else, die freundliche alte Magd, die ihr immer heimlich einen Löffel vom Honigtopf gab, der so hoch auf einem Regal stand, dass man, wenn man noch so klein war wie Abeline, ohne eine gefährlich wackelnde Konstruktion aus der alten Truhe mit den Tüchern und einem Hocker darauf nicht an ihn heranreichte. Das Wasser kochte im Kessel, der an einer Kette über dem Herdfeuer hing. Abeline sah sich genauer um. Etliche Gerätschaften lagen achtlos herum, Gemüse, das noch geputzt werden musste, und zwei Fasane, erst halb gerupft, waren auf dem großen Zubereitungstisch zurückgelassen worden, ein paar ausgezupfte Federn tanzten im Durchzug in der Luft. Abeline versuchte, sie einzufangen, aber es gelang ihr nicht. Sie blieb stehen und horchte – irgendwie war es ihr auf einmal unheimlich zumute, als hätten die Mägde und Knechte, die in der Küche um die Zeit normalerweise zu tun hatten, alles stehen und liegen gelassen und wären spurlos verschwunden. Sie bekam eine Gänsehaut. Es war trotz des Feuers im Herd kalt, alle Türen standen sperrangelweit offen, und Abeline hatte nur ihre leinerne Schlaftunika an. Wenn ihre Mutter sie so sah, würde sie bestimmt schimpfen. Dabei hatten sie gestern noch ausgemacht, dass sie an diesem Tag anfangen würde, ihrer Tochter das Lesen beizubringen, darauf hatte sich Abeline schon so gefreut. Wo ihre Mutter nur war? Nie hätte sie diese Unordnung geduldet, die Bediensteten in der Burgküche unterstanden ihrer Aufsicht und würden es normalerweise nicht wagen, sich solche Nachlässigkeiten zu erlauben. Wieder fuhr ihr ein kalter Schauder über den Rücken, aber dieses Mal war die körperliche Reaktion nicht nur der Kälte und der Zugluft geschuldet, sondern auch einer unerklärlichen Angst, die allmählich von ihr Besitz ergriff und ihren Rücken heraufkroch wie eine große, fette Spinne. Unwillkürlich schüttelte sich Abeline bei dieser ekligen Vorstellung.
»Mama?«, rief sie mehr zaghaft als forsch. »Mama – wo bist du?«
Sie spitzte vorsichtig um die Ecke in den großen Bankettsaal, aber auch der war menschenleer, nicht einmal die Hunde waren da, von denen sonst immer ein oder zwei in der Früh vor den verglühenden Resten des Kaminfeuers dösten und darauf warteten, mit Abeline zu balgen.
Wieder war ihr so, als ob sie von draußen Geschrei hörte. Für einen kurzen, schrecklichen Moment stellte sie sich vor, dass Gott der Herr aus einem seiner unergründlichen Ratschlüsse heraus alle Menschen von der Erde hatte verschwinden lassen und nur noch sie, Abeline, übrig geblieben war, mutterseelenallein in der ihr riesig vorkommenden, unheimlichen Burganlage. Oder eine Hexe hatte das im Auftrag des Teufels getan, die konnten zaubern, das hatte ihr Else zugeraunt, die gern einmal gruselige Geschichten erzählte, wenn der Graf und die Gräfin nicht da waren und sie sich um Abeline kümmern musste. Aber das konnte nicht sein, ihre überbordende Fantasie hatte ihr bestimmt wieder einmal einen Streich gespielt. Jetzt erst merkte sie, dass ihr vor lauter Kälte die Zähne klapperten. Sie fuhr mit ihrer Zunge vorsichtig an ihren linken Schneidezahn, der ihr heute noch wackliger vorkam als gestern. Die Mutter hatte ihr erklärt, dass sie nach und nach alle ihre kleinen Milchzähne verlieren würde, aber dafür würden neue nachwachsen. Das war der Lauf der Dinge, wenn man groß und erwachsen werden wollte. Manchmal war Abeline gar nicht so erpicht darauf, erwachsen zu werden. Aber dann wieder wünschte sie sich nichts sehnlicher. Warum in Gottes Namen war das Leben nur so kompliziert?
Hinter ihr heulte ein Windstoß auf, und es quietschte laut. Sie fuhr herum, das Geräusch kam von der schweren Eichenholztür, die auf den Innenhof der Burg hinausführte. Sie stand halb offen und bewegte sich im Wind, Schneeflocken wehten durch den Spalt in den Saal herein. Der Anblick der wirbelnden Schneeflocken löste etwas in ihr aus, es durchfuhr sie wie ein Blitz im Inneren ihres Kopfes, als die Erinnerung an ihren bösen Traum mit einem Schlag einsetzte. Ihr Vater – er wollte doch heute in aller Früh mit einigen seiner Männer zur Jagd ausreiten … Und sie hatte geträumt, wie sie alle im Wasser untergegangen und ertrunken waren. Schreckliche Angst und Sorge durchfluteten sie: Wenn ihr Traum nun furchtbare Wirklichkeit geworden war? Sie rannte los, blind und taub vor Panik stürzte sie durch den Türspalt hinaus ins Schneetreiben, barfuß und nur mit ihrem dünnen Hemdchen bekleidet. Im Freien musste sie erst gegen die heranwehenden Schneeflocken anblinzeln, die dicht und dick herangeflogen kamen. Was sie schließlich undeutlich am Burgtor erkennen konnte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren: wehklagende, schreiende Frauen, kläffende Hunde, klatschnasse, verschmutzte Männer, die irgendwelche menschlichen Körper von zwei Pferden herunterzogen, und mitten unter ihnen ihre Mutter. Wo war ihr Vater? Sie rannte auf das Menschen- und Pferdeknäuel zu, blieb aber nach ein paar Schritten wie angewurzelt stehen. Zwei Männer lagen bewegungslos im Schnee, kein Blut war zu sehen, aber Abeline wusste, dass sie tot waren, ertrunken. Sie erkannte einen an seiner bunten Kleidung, den Jagdaufseher. Die Männer, die ihre leblosen Kameraden von den Pferden gewuchtet und in den Schnee gelegt hatten, sahen nicht viel anders aus als die Toten: klatschnass und schmutzverkrustet, ihre Bärte und Haare mit dicken Eisklumpen behangen. Die Frauen der Burg, ihre Mutter und die Mägde, schlugen sich vor Schreck und Grauen die Hände vor das Gesicht oder hielten sich gegenseitig, zwei Mägde, die Frau des Jagdaufsehers und Else, beweinten die Leichname am Boden und knieten davor. Else schrie und schlug in ihrer tiefen Verzweiflung auf den zweiten Toten ein, bis die Männer sie wegzogen.
Abeline stand noch immer regungslos im Innenhof, eigentlich wollte sie gar nicht wissen, wer dieser zweite Tote war. Panik durchflutete sie – wenn das am Ende ihr Vater war …
Die Menschenansammlung am Tor erinnerte sie unwillkürlich an ein Fresko in der Klosterkirche von Mariaschnee, dem Frauenkloster am Rhein, das sie einmal zusammen mit ihrem Vater gesehen hatte: die Beweinung Christi – Jungfrau Maria, Maria Magdalena, der Evangelist Johannes und Joseph von Arimathäa trauerten um den toten Jesus, der eben vom Kreuz abgenommen worden war.
Da drehte sich einer der Männer, der ihr bisher nur den Rücken zugekehrt hatte, langsam um, wohl weil er zu spüren schien, dass jemand hinter ihm stand und ihn mit seinen Blicken schier durchbohrte. Es war ein unheimlicher Moment, denn sein Gesicht war nahezu unkenntlich, seine langen, braunen Haare waren ebenso wie sein Bart verfilzt und mit Eisbröckchen durchwirkt, als wären es Perlen. Seine Kleidung, völlig durchnässt und vereist, ließ ihn wirken wie jemanden, der frisch aus einem Sumpfloch entstiegen war wie ein Moorgeist. Nackte, ohnmächtige Erschöpfung und Verzweiflung standen ihm ins Gesicht geschrieben.
»Papa!«, schrie Abeline nach zwei Herzschlägen, rannte los und warf sich dem Mann an den Hals, »Papa, bin ich froh, dass du nicht tot bist!«
»Nein, mein Engel«, erwiderte der Vater und drückte sie so heftig an sich, als wäre er nur für eine kurze Zeit aus dem Totenreich entlassen worden, um seine einzige Tochter noch einmal umarmen zu dürfen. »Ich bin nicht tot. Aber es ist ein Wunder, dass ich es nicht bin. Gott hat ein Einsehen gehabt, dass du mich noch brauchst hier auf Erden. Und ich dich!«
So standen sie eine ganze Weile wortlos da im eisigen Schneetreiben, einen Augenblick erstarrt in ihrem Schock und ihrer Trauer, und sahen auf die schluchzende Else, die sich über ihren toten Mann geworfen hatte.
Bis Abeline ihrem Vater ins Ohr flüsterte: »Ich habe gesehen, wie es passiert ist. Heute Nacht. In meinem bösen Traum.«
»Ich weiß«, sagte der Vater.
Aber Abeline hörte ihn gar nicht. »Ich habe im Traum gesehen, was mit euch geschehen wird. Dass ihr alle im Eis einbrecht. Aber ich habe es vergessen. Ich hätte euch nicht losreiten lassen dürfen, es ist meine Schuld.« Sie schluchzte auf und presste ihr Gesicht fest an die bärtige und kratzige Wange ihres Vaters. »Es tut mir so leid!«
...