Geiger | Unter der Drachenwand | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

Geiger Unter der Drachenwand

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-446-25938-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

ISBN: 978-3-446-25938-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Veit Kolbe verbringt ein paar Monate am Mondsee, unter der Drachenwand, und trifft hier zwei junge Frauen. Doch Veit ist Soldat auf Urlaub, in Russland verwundet. Was Margot und Margarete mit ihm teilen, ist seine Hoffnung, dass irgendwann wieder das Leben beginnt. Es ist 1944, der Weltkrieg verloren, doch wie lang dauert er noch? Arno Geiger erzählt von Veits Alpträumen, vom "Brasilianer", der von der Rückkehr nach Rio de Janeiro träumt, von der seltsamen Normalität in diesem Dorf in Österreich – und von der Liebe. Ein herausragender Roman über den einzelnen Menschen und die Macht der Geschichte, über das Persönlichste und den Krieg, über die Toten und die Überlebenden.

Geiger Unter der Drachenwand jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Im Himmel, ganz oben
Im Himmel, ganz oben, konnte ich einige ziehende Wolken erkennen, und da begriff ich, ich hatte überlebt. / Später stellte ich fest, dass ich doppelt sah. Alle Knochen taten mir weh. Am nächsten Tag Rippfellreizung, zum Glück gut überstanden. Doch auf dem rechten Auge sah ich weiterhin doppelt, und der Geruchssinn war weg. So hatte mich der Krieg auch diesmal nur zur Seite geschleudert. Im ersten Moment war mir gewesen, als würde ich von dem Krachen verschluckt und von der ohnehin alles verschluckenden Steppe und den ohnehin alles verschluckenden Flüssen, an diesem groben Knie des Dnjepr. Unter meinem rechten Schlüsselbein lief das Blut in leuchtenden Bächen heraus, ich schaute hin, das Herz ist eine leistungsfähige Pumpe, und es wälzte mein Blut jetzt nicht mehr in meinem Körper im Kreis, sondern pumpte es aus mir heraus, bum, bum. In Todesangst rannte ich zum Sanitätsoffizier, der die Wunde tamponierte und mich notdürftig verband. Ich schaute zu, in staunendem Glück, dass ich noch atmete. / Ein Granatsplitter hatte die rechte Wange verletzt, äußerlich wenig zu sehen, ein weiterer Splitter steckte im rechten Oberschenkel, schmerzhaft, und ein dritter Splitter hatte unter dem Schlüsselbein ein größeres Gefäß verletzt, Hemd, Rock und Hose waren blutgetränkt. Das unbeschreibliche, mit nichts zu vergleichende Gefühl, das man empfindet, wenn man überlebt hat. Als Kind der Gedanke: Wenn ich groß bin. Heute der Gedanke: Wenn ich es überlebe. / Was kann es Besseres geben, als am Leben zu bleiben? Es passierte in genau derselben Gegend, in der wir um die gleiche Zeit vor zwei Jahren gestanden waren. Alles hatte ich gut in Erinnerung, ich erkannte die Gegend sofort wieder, die Wege, alles immer noch dasselbe. Aber besser waren die Wege seither nicht geworden. Wir lagen neben einem zerstörten Dorf, die meiste Zeit unter Beschuss. In der Nacht war es schon so kalt, dass uns das Wasser im Kübel gefror. Auch auf den Zelten lagen Eiskrusten. / Unser Rückzugsmarsch war ein einziger Feuerstreifen, schauerlich anzusehen. Und ernüchternd, sich darüber Gedanken zu machen. Alle Strohschober brannten, alle Kolchosen brannten, gerade die Häuser blieben meistenteils stehen. Die Bevölkerung sollte nach rückwärts evakuiert werden, doch ließ sich das nur teilweise durchführen, zum Großteil waren die Leute nicht wegzubringen, es war ihnen egal, ob man sie erschoss, aber weg wollten sie auf gar keinen Fall. Und der Krieg arbeitete sich weiter, für die einen nach vorn, für die andern nach hinten, aber immer in der blutigsten, unverständlichsten Raserei. Noch am Tag der Verwundung wurde ich mit dem Krankenwagen weggebracht. Wenn nicht ein großer LKW zur Begleitung abgestellt worden wäre, wären wir im Schlamm steckengeblieben, gleich draußen vor dem Dorf. So ging’s bis zum Hauptverbandplatz, wo ich einige grobe Nähte bekam. Ich schaute beim Vernähen zu, erneut mit größter Verwunderung. / Die Wäsche, die ich Ende Oktober angezogen hatte, hatte ich fast einen Monat am Leib gehabt, das Hemd war buchstäblich schwarz, als es mir ausgezogen wurde. Ich sah einen Arzt, der beim Versuch, sich eine Zigarette anzuzünden, fünf Streichhölzer abbrach. Mit hängendem Kopf stand er da, bis eine Rot-Kreuz-Schwester kam und ihm die Streichhölzer aus der Hand nahm. Nach zwei Zügen, die er lange mit geschlossenen Augen in der Lunge gehalten hatte, stieß der Arzt ein paar Wortfetzen aus und taumelte zwischen den blutigen Liegen davon. Zwei Tage später fuhren wir weiter. Einmal wären wir bald umgekippt mit unserer Karre, wir waren in einen zuvor nicht sichtbaren Graben gerutscht. Als die andern den Wagen wieder heraus hatten, war vor und hinter uns der Weg zu, denn es hatte starker Schneefall eingesetzt. Für neun Kilometer brauchten wir den ganzen Vormittag, weil der Weg freigeschaufelt werden musste, hinter uns war der Weg dann besser. Aber ich spürte jede Rippe im Leib. / Auch auf der Hauptstraße war es schrecklich, sechsmal mussten wir Deckung suchen gegen Flugzeuge, die uns mit Bordwaffen angriffen. Bei einer hastigen Bewegung ging die Wunde am Oberschenkel auf. / Am Bahnhof von Dolinskaja wurden wir dreimal in einer Stunde von Bombern angegriffen, ich war froh, als ich von dort wegkam. In Dolinskaja warfen sie uns schachtelweise Drops und Schokolade in den Waggon. Das ist immer so: Wenn’s zurück geht, werden die Lager geräumt, bevor sie zuletzt den Sowjets in die Hände fallen. Drops und Schokolade sind das Einzige, was uns Soldaten zugute kommt, sonst erleben wir nur Schreckliches. Frisch verbunden lag ich in einem Lazarettzug. Der Zug stand meistens auf freier Strecke wegen des starken Verkehrs. Fünf Tage brauchten wir bis Prag, und von Prag zwei Tage bis ins Saargebiet. / Man sollte es nicht für möglich halten, dass man vom Osten nach dem äußersten Westen verlegt wird, aber das beweist wieder, wie klein das sogenannte Großdeutschland ist. / Damit kein Frost in die Wunden kam, hatten wir im Waggon einen Schützengrabenofen. Mein Geruchssinn war wieder zurück, in der Wärme wirkte der Gestank von Eiter und Jodoform wie ein Narkosemittel, ich pendelte zwischen vollständiger Klarheit und getrübtem Geist. Schlafen, schlafen, schlafen. – Schmerzen? Ich solle auf die Zähne beißen, sagte der Sanitäter, das Morphium sei für die schweren Fälle. Immerhin bin ich kein schwerer Fall. Außerdem geht es westwärts. Die Schmerzen westwärts sind auszuhalten. / Einige der Verwundeten in meinem Waggon standen bestimmt bald wieder vorne an der Front. Während der Fahrt nach Westen wurden sie vor lauter Freude gesund. Was natürlich ein Fehler war. / Und dann wieder das Gefühl, alles in meinem Kopf dröhnt und summt. Und wieder glitt ich langsam hinüber in einen Zustand der Bewusstlosigkeit. Das Wimmern, das Stöhnen, der Geruch der unzureichend versorgten Wunden, der Geruch der verschmutzten Körper. Das alles vermischte sich zu etwas, das für mich eine Essenz von Krieg ist. Ich versuchte so viel wie möglich zu schlafen. Fast alle im Waggon rauchten. Wer die Zigarette nicht selbst halten konnte, ließ sich vom Nebenmann helfen. Ich bekam drückendes Kopfweh und dachte, es habe mit dem Gestank nach Eiter und mit dem vielen Rauchen zu tun. Wie der Arzt am Hauptverbandplatz hielt ich den Rauch lange in der Lunge. Und fast ein jeder versuchte, seine Geschichte loszuwerden. Vielleicht, wenn man die eigene Geschichte erzählt, findet sie eine Fortsetzung. Jetzt also Saargebiet, das sagt ja schon alles, besonders schön ist es hier nicht. Die Landschaft geht einigermaßen, aber den Ruß der Kohlengruben muss man übersehen. Das Lazarett, in dem ich liege, war früher ein Kinderheim, angeblich die Stiftung eines Grubenbesitzers, die Zufahrt mit weißen Kieselsteinen bedeckt, etwas unpassend für eine so rußige Gegend. Ringsum ein Park mit exotischen Bäumen, gestutzten Sträuchern, römischen Figuren und sonstigen Überspanntheiten. Innen ist das Gebäude nüchtern als Lazarett eingerichtet, weiße Betten mit Federkernmatratzen. / Nach der langen Zeit an der Front kommt mir das Lazarett wie der Himmel vor. Wie seltsam, dass ich hier liege und alle Knochen sind dran und Frauen in blitzweißen Schürzen bringen mir Bohnenkaffee und zwei Zimmerkollegen spielen Karten und von draußen höre ich Kirchenglocken. Die ersten weißen Laken seit über einem Jahr. Wie seltsam! Ich mag es, wenn die Krankenschwester eine in weiße Watte gewickelte Spritze aus der Schachtel nimmt. »Entspannen Sie sich«, sagt sie, »denken Sie, der Schmerz ist nicht Ihrer.« / Vorhin kam ein Arzt ohne großes Interesse an mir, er sagte, er werde am nächsten Tag abgelöst. Mir doch egal. / Wie schön es ist, wieder einmal von sauberen Händen berührt zu werden. / Einmal kam ich aus den Stellungen Südrusslands für einige Stunden zurück zur Feldküche, da ging es mir so wie jetzt im Lazarett: Habe ich Augen gemacht, als ich Gläser und Gartenblumen sah. Nach meiner Ankunft gegen neun Uhr am Vormittag verbrachte ich den ganzen Tag in einer Nische auf dem Flur, hinter einem weißen Vorhang, es war schrecklich kalt dort. Später kam ein Arzt und untersuchte mich. Gegen Abend wurde in einem Krankensaal ein Bett frei, und ich wurde verlegt. Verschiedene Blutproben waren zu diesem Zeitpunkt schon entnommen, am nächsten Tag Lungenröntgen und weitere Blutentnahmen. Es folgten die ersten Nächte seit langem, in denen ich anständig schlief. Es war weder kalt noch feucht, noch kamen mir Strohhalme in den Mund noch Fliegen in die Nase. Am 2. Dezember fanden die Eingriffe am Oberschenkel und am Schlüsselbein statt. Nach der Spritze wurde mir schlecht, alles drehte sich, jetzt schwammen die Betten im Saal wie kleine Segelboote auf einem See. Fehlten nur die Palmen. Ich begann Stimmen zu hören und merkte, wie ich mich von mir entfernte. Ich sagte mir meinen Namen vor, immer wieder, ich dachte, solange ich meinen Namen weiß, bin ich noch bei Verstand: Veit Kolbe … Veit Kolbe … Veit Kolbe … Zuletzt sah ich eine über mich gebeugte Schwester mit weißer Haube. Dann war ich weg. Die Schwestern hier stammen noch vom Kinderheim, sind schon älter und mit langen Kutten. Kind bin ich leider keines mehr. Als ich mir erstmals von einem Bettnachbarn einen kleinen Spiegel lieh, um mich im Bett rasieren zu können, erschrak ich über mein zerschundenes, verbrauchtes Gesicht. / Etwa dreißig Tage hatte ich mich nicht mehr rasiert, seit Charkow Taganrog Woronesch Schitomir, keine Ahnung, ich sah aus wie ein Unterseebootmann, der von einer Fernfahrt kommt, furchtbar. Und rasieren musste ich mich mit geliehenem Apparat. Mein Privatzeug war beim...


Geiger, Arno
Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wien und Wolfurt. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt Alles über Sally (Roman, 2010), Der alte König in seinem Exil (2011), Grenzgehen (Drei Reden, 2011), Selbstporträt mit Flusspferd (Roman, 2015) und Unter der Drachenwand (Roman, 2018). Er erhielt u. a. den Deutschen Buchpreis (2005), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011), den Alemannischen Literaturpreis (2017), den Joseph-Breitbach-Preis (2018), den Bremer Literaturpreis (2019) und den in den Niederlanden vergebenen Europese Literatuurprijs (2019).



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.