E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Geiger Selbstporträt mit Flusspferd
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-24843-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-446-24843-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie fühlt es sich an, heute jung zu sein? Arno Geiger erzählt von Julian, einem Studenten der Veterinärmedizin, der seine erste Trennung erlebt und erstaunt ist, wie viel Unordnung so eine Trennung schafft. Um die Unordnung ein wenig zu lindern, übernimmt er bei Professor Beham die Pflege eines Zwergflusspferds, das bald den Rhythmus des Sommers bestimmt: es isst, gähnt, taucht und stinkt. Julian verliebt sich in Aiko, die Tochter des Professors, verfolgt beunruhigt, wie täglich Schockwellen von Katastrophen um den Erdball fluten und durchlebt eine Zeit des Umbruchs und Neuanfangs. Ein Roman über die Suche nach einem Platz in der Welt.
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Eins
Vor einigen Tagen brachte Judith einen Uhu in die Notfallambulanz. Es war unser erstes Zusammentreffen seit fast zehn Jahren, und ich erkannte sie nicht, obwohl ich sie hätte erkennen müssen. Es lag nur zum Teil an den kurzen Haaren, ich war abgelenkt durch den Uhu, weil ich vom ersten Blick an dachte, dass ich ihm nicht helfen kann. Und plötzlich sagte die Frau: »Wir kennen uns. Ich bin’s!« Da schaute ich sie an und erkannte sie. Meine Hände zitterten, während ich den Uhu untersuchte, um sicherzugehen, dass mich mein erster Eindruck nicht getäuscht hatte. Der fällt in eine finstere Grube, den fängt niemand auf. Und zu Judith sagte ich: »Du, Judith, da ist nichts zu machen.« »Ich habe es fast befürchtet«, sagte sie. Und als stünde ein stiller Vorwurf zwischen uns, fügte sie mit einem kleinen Kopfschütteln hinzu: »Er gehört nicht mir, ich habe ihn vor dem Haus gefunden.« Sie senkte den Blick, eine unbehagliche Situation. Die orangegelben Augen des Uhus mit den schwarzen Pupillen waren riesig und glotzten mit einem schrecklichen Ausdruck ins Leere. Während ich das Tier zur Tötung vorbereitete, wussten wir beide nicht, was reden. Früher hatte ich Judith nie verlegen erlebt, sie war immer strahlend gewesen, prall, in Bewegung, der Prototyp der unkomplizierten Frau, die in Kontaktanzeigen gesuchte Frau zum Pferdestehlen. Sie schaute abwechselnd zu Boden oder zur Seite. Ich dachte, es stimmt nicht, dass wir uns kennen, wir haben uns gekannt, jetzt nicht mehr, jetzt sind wir einander fremd bis zum Rätsel. Dieses Fremdsein war überraschend schnell gekommen, parallel zum Verschwinden der Offenheit. Am Tag nach der Trennung hatte ich so gut wie nichts mehr von der gewohnten Vertrautheit gespürt, und es blieb so bei jedem Wiedersehen. Wir wussten nicht einmal mehr, wie wir einander begrüßen sollten. Kuss auf den Mund? Das wäre mir normal vorgekommen, weil vertraut. Oder Kuss links, rechts? Und wer entscheidet das? Was, wenn ich versuche, sie auf den Mund zu küssen, und sie hält mir die Wange hin? Sollen wir uns die Hand geben? Wir werden uns doch wohl nicht die Hand geben! Dann besser gar nichts. – Also sagten wir: Hallo, wie geht’s? Und du? Was soll ich sagen? Du glaubst mir eh nicht. Ich spritzte dem Uhu das Sedativum in die Brustmuskulatur, anschließend eine erhöhte Dosis des Narkotikums in die Flügelvene, dazu breitete ich den rechten Flügel aus, die Vene war an der Innenseite leicht zu finden. Judith blieb bei dem Tier, bis es gestorben war. Vor dem Weggehen kam sie aus dem anderen Raum noch einmal zu mir her und bedankte sich. Es tat mir leid, dass ich dem Uhu nicht hatte helfen können. Ich hätte gerne alles in Ordnung gebracht. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich mich entschuldigen sollte, ich hatte dieses überwältigende Bedürfnis, um Verzeihung zu bitten. Aber schließlich, es war nicht meine Schuld. Judith sagte: »Ich hoffe, du hast gefunden, wonach du gesucht hast.« Ich hob fragend die Achseln und nickte halbherzig: »Im Großen und Ganzen …« Sie sagte: »Es war richtig, dass wir uns getrennt haben.« »Das sehe ich auch so«, erwiderte ich. »Ja, es war richtig.« »Vom heutigen Standpunkt aus, soweit’s mich betrifft, ja.« »Ich habe gehört, du warst in Frankreich.« »In Paris, zwei Jahre.« »Ich …« Judith wollte etwas sagen, ich hatte den Eindruck, etwas Persönliches. Vielleicht brach sie deshalb sofort ab, als eine Schwester mich am Ärmel zupfte und zum Röntgentisch deutete, auf dem ein großer Hund lag. »Ja, dann …«, sagte Judith: »Nochmals danke.« Sie ging zur Tür, und bevor sie die Tür hinter sich zuzog, winkte sie in meine Richtung. Das war’s. Wir sehen uns nicht wieder, ich werde nicht wissen, wie ihre Kinder heißen, so sie Kinder hat, und was auf ihrem Grabstein steht und wo er steht, so sie vor mir stirbt. Und dass es ihr Gesicht einmal gegeben hat und dass es rund und glücklich war in Liebe zu mir: Macht nichts. Die Trennung von Judith hatte ich herbeigesehnt in dem diffusen Gefühl, was wir da hatten, sei nicht das Wahre. Seltsamer Ausdruck: Das Wahre. Es kann aber sein, dass die erste Liebe etwas Wahres verliert, wenn sie nicht mehr nur die erste, sondern auch die einzige sein will, erste, einzige und letzte. Was, wenn ich bei Judith hängenbleibe? – Diese Vorstellung versetzte mich in Unruhe, damals. Ich hatte Angst … wovor eigentlich? Dass ich etwas versäume … in erster Linie. Kann das alles gewesen sein? Weil: Wenn ich an die Zukunft mit Judith dachte, kam mir alles absolut vorhersehbar vor, unser Leben eine glückliche Einöde, flach und weit. Und obwohl am Ende Judith die Trennung vollzog, war ich es gewesen, der sie betrieben hatte, bockig, trotzig und wild entschlossen, mich in Gefahr zu begeben. Zu diesem Zeitpunkt bin ich zweiundzwanzig. Der Umstand, erwachsen zu sein, gefällt mir außerordentlich. Aber ich weiß in Wahrheit überhaupt nicht, was ich will, einmal in diese Richtung, dann in die andere, einmal alles, einmal nichts. Und immer fühlt es sich absolut richtig an. Und so vieles ist neu. Und so vieles ist … massiv. Manchmal erwischt mich das Neue auf dem falschen Fuß. Und manchmal haut mich die Massivität von etwas um. Meine Unerfahrenheit und meine Neigung, mir Hoffnungen zu machen, bringen zwei unterschiedliche Grün zusammen, eine Mischung, eine ziemlich produktive Mischung: der Treibstoff der Jugend. So ein Haus im Bregenzerwald wäre natürlich toll. Wobei, eigentlich möchte ich weg, den Segelschein machen und etwas von der Welt sehen, zwischendurch arbeiten, am Strand auf dem Bügelbrett streunende Hunde kastrieren. Manchmal eine Liebschaft mit einer Frau, die Freude am Leben hat. Kinder? Eigentlich möchte ich keine Kinder. Wobei, eine Familie mit sechs Kindern, das wäre natürlich auch cool. Als Judith sagte, es sei vorbei, fuhr mir der Schreck in die Glieder. Ich hatte erwartet, die Trennung werde mich in einen augenblicklichen Freiheitsrausch versetzen. Ich hatte erwartet, dass es sich anfühlt, als werde ich freigesprochen. Statt dessen flüsterte es nächtelang mit beunruhigendem Nachhall: Ich liebe dich nicht mehr, niemand liebt dich, niemand wird dich je wieder lieben. Unser Leben ist dir zu vorhersehbar? Du willst in die große Welt hinaus? Du willst es mit Himmel und Hölle aufnehmen? Nur zu! Ich hätte dich für klüger gehalten. Ich war ziemlich fertig deshalb. Mir wurde unheimlich bei dem Gedanken, dass alles, was jetzt noch kommt, abfällt gegen das, was ich gerade weggeworfen hatte. Und als habe es mir gereicht, die Trennung fünf Minuten auszuprobieren, fragte ich Judith, was sie davon halte, dass wir nach einem kurzen, wilden Intermezzo von einigen Monaten oder einem Jahr … also später … dass wir dann einen neuen Anlauf nehmen, gemeinsam zu Ende studieren und eine Familie gründen. Sie hörte mir kaum zu. Wie gesagt, immer strahlend, prall, in Bewegung, der Prototyp der unkomplizierten Frau. »Es gibt wirklich nichts, was da noch zu bereden wäre«, sagte sie erstaunt. »Vorbei ist vorbei und Entscheidung ist Entscheidung. Jetzt, wo es aus ist, ziehe ich es vor, nicht mehr darüber nachzudenken.« Obwohl ich ihr mit meinen Stimmungsschwankungen wochenlang das Leben versalzen hatte, war ich von Judiths Antwort wie vor den Kopf gestoßen. Es empörte mich, dass Judith es schaffte, ihre Gefühle zu mir einfach in die Ecke zu stellen. Es empörte mich so sehr, dass ich ihr Gefühllosigkeit unterstellte. »Wir haben uns entschieden. Warum jammern?«, fragte sie. Da drehte ich mich um und ging. Tage später sagte sie, sie habe mir, als ich wegging, angesehen, dass ich mir sicher gewesen sei, sie werde mich zurückhalten. Sie habe es mir von hinten angesehen, dass ich dachte, gleich läuft sie hinter mir her und hält mich zurück. Das war zum Ende des Sommersemesters gewesen, nachdem ich gerade eine große Prüfung bestanden hatte. Wir hatten stillschweigend vereinbart, uns nicht vor einer Prüfung zu trennen. Während des Studienjahres stand so gut wie immer eine Prüfung an, also lief es auf den Sommer hinaus, auf die Ferien. Ferien bieten die Chance, sich vom gewohnten Alltag zu distanzieren. Ferien sind ein überzeugendes Imitat der Erlösung, hell, offen, glückversprechend, leicht. Mit halboffenen Augen in der Sonne liegen und die Blätter hören, die Tage sind lang wie Kaugummi, man liegt auf einer Decke, und es tut sich nicht viel. Jetzt beugten sich die finsteren Engel der Trennung über mich, und mit plötzlicher Wucht erkannte ich die Spannweite von dem allen. In den Tagen unmittelbar nach der Trennung schlief ich bei Tibor, einem Studienkollegen. Trotz der Ratschläge, die er mir gab, lieferte ich einige Kurzschlussaktionen. Auf Judith muss ich absolut unberechenbar gewirkt haben, mich selber störten die Widersprüche in meinem Verhalten nicht. Ich fing Judith auf der Straße ab, hielt sie am Arm fest und redete von einer gemeinsamen Zukunft. Statt in die Zukunft blickte Judith auf meine Hand. Daraufhin machte ich ihrer Schwester einen etwas zwielichtigen Besuch, das hätte ich besser unterlassen. Ich schrieb Judith seitenlange Briefe, die eine wechselnde Mischung aus Liebesschwüren und Vorwürfen enthielten. Meine Handschrift aus dieser Zeit bildet das emotionale Durcheinander ab: schwankend, abgehackt, patzig, ständig überm Rand. Judiths Schwester machte zu Hause bekannt, dass ich in den vergangenen zwei Jahren nicht im Studentenheim gewohnt hatte, sondern bei Judith. Judiths Vater...