Geiger | Schöne Freunde | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 170 Seiten

Geiger Schöne Freunde

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-446-26162-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 170 Seiten

ISBN: 978-3-446-26162-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Arno Geiger, Meister sprudelnder Sprachphantasie, beweist in "Schöne Freunde", dass er es versteht, Romane zu schreiben, die zwar die Untiefen der menschlichen Seele berühren, aber doch durch und durch komisch sind. "Schöne Freunde" ist ein Roman über das Ende der Kindheit - ein ganz eigener, unvergleichlicher Ton in der Gegenwartsliteratur.

Geiger Schöne Freunde jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


2 Auf dem Schiff
Bereits eine Viertelstunde vor Ablegen des Schiffs waren alle Passagiere an Bord. Kaum jemand war zu den Kabinen hinabgestiegen. Die meisten drängten sich an der landseitigen Reling und schauten träge, erschöpft von den Ereignissen der letzten Tage, über das Hafengelände und auf den Pier, wo sich mit Ausnahme zweier Arbeiter, die den Zugang zur Laufbrücke flankierten, niemand aufhielt. Das Ablegen des Schiffs war eine glatte Rechnung. Es gab nichts zu winken. Manche winkten trotzdem. Die Arbeiter lösten die Haltetaue. Eine Schlammwolke stieg mit dem Anker auf. Ohne das geringste Signal wurde das Schiff von Schleppern im Hafenbecken manövriert, bis der Bug in der gewünschten Richtung stand. Das Vibrieren des Schiffskörpers nahm zu, das Schiff gewann an Fahrt und steuerte auf das offene Meer zu. Kinder spuckten lachend in das weiße Schmeißwasser, während einige Passagiere zum Heck liefen, um weiterhin landseitig blicken zu können, wo sich die Stadt entfernte. Unter diesen Passagieren befand sich der Direktor, der das Taxi, von dem der Wäschereibetreiber gesprochen hatte, noch immer nicht ausmachen konnte. Es war ohnehin zu spät. Der Direktor fluchte auf alle Taxifahrer und auf den ehemaligen Wäschereibetreiber. Er nannte den ehemaligen Wäschereibetreiber einen Lumpen und Armausrenker. Er schlug seine Reisetasche mit aller Kraft gegen die Reling, daß ein Sirren um das Schiff lief. Dann begab auch er sich unter Deck, in künstliches Licht, in schmale Gänge aus grau lackiertem Stahl. Ich folgte dem Direktor, wie ich es beschlossen hatte, und nach kurzer Zeit holten wir die Portierfrau ein, Frau Berber. Langsam gingen wir hinter ihr her, denn an ein Vorbeikommen war in dem schmalen Gang nicht zu denken. Die Portierfrau, die in jungen Jahren im Pfeifen eine Attraktion gewesen sein soll, pfiff die sentimentale Version eines Abschiedslieds, das schon der Akkordeonspieler auf seine Belastbarkeit geprüft hatte (Ausdruck Ingenieur Wolkov). Sie umgab die Melodie gekonnt mit Trillern. Sie ließ die Töne wuchern. Das erinnert mich daran, daß am Löschteich die Phantasien wucherten. Doch ich beschreibe jetzt nicht die Phantasien und auch nicht die Portierfrau Berber im ganzen oder pfeifend, sondern den Rücken der Portierfrau. Bevor ich den Rücken der Portierfrau beschreibe, komme ich auf den Regen zu sprechen, der zu Hause mitverantwortlich für das Wuchern der Phantasien war. Denn den Rücken der Portierfrau, den ich nie unverhüllt gesehen habe, habe ich bei Regen beschrieben bekommen. Zu Hause war das Wetter heiß und feucht, so daß den Ingenieuren, wenn sie ihre Brillen putzten, die Gläser herausfielen. Mir selber hat der Regen nie etwas ausgemacht. Aber auch das Instrument des Akkordeonspielers durfte nicht naß werden. Daher meine Nase für das Wetter. Ich kann den Regen riechen, ehe er am Boden ankommt. Der Geruch geht dem Regen voraus wie manchmal der Schall hinter dem Augenschein zurückbleibt. Ich habe mich nie getäuscht. Ich rieche auch die Stärke des Regens, nur seine Dauer rieche ich nicht. Aber darauf kommt und kam es nicht an. Wichtig war nur, daß der Akkordeonspieler rechtzeitig zum Portierhaus gelangte, nicht, wie lange wir dort bleiben mußten. Wir blieben gerne. Frau Berber machte Tee. Gelegentlich pfiff sie, und manchmal, wenn ich jemandem das große Tor geöffnet hatte, trocknete sie meine Füße. Einmal (was ist einmal) stolperte ich und fiel in eine Schlammpfütze. Frau Berber wusch mich in ihrer Badewanne, stellte mich nackt auf die Kloschüssel und rieb mich lachend, umarmend, mit einem großen weißen Handtuch ab. »So ein sauberes Kind«, sagte sie. »Wo dieses saubere Kind bloß herkommt? Ich kenne es gar nicht.« Sie machte zwei Schritte zurück, lehnte sich zusätzlich ins Kreuz, als könne sie mich aus der Entfernung besser in Augenschein nehmen. Doch sosehr sie sich anstrengte, sosehr sie die Augen zusammenzog, noch immer verriet ihr Gesicht kein Zeichen des Wiedererkennens. Sie hob ratlos die Schultern. Ich rief, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen (Ausdruck des Untersuchungsbeamten): »Ich bin’s! Schauen Sie, Frau Berber! Ich! Carlo!« Dabei tat ich, als zöge ich meine Kappe, die ich in dem Moment nicht trug, so erschrocken war ich, wie wenig es braucht, daß man vergessen wird. Aber da lachte Frau Berber schon: »Ah, du bist das! Der Kovacs!« Und sie trat wieder heran, kitzelte mich unter den Achseln und zwischen den Beinen und schüttelte den Kopf. Später, als der Platzwärter Zimek kam, seine Besuche erfolgten ebenfalls immer bei Regen, vor allem bei starkem Regen, der den Tennisplatz unbespielbar machte, waren meine Kleider, die mir mein gewohntes Aussehen zurückgeben würden, noch nicht wieder trocken, obwohl Frau Berber deswegen den Ofen angeheizt hatte. Ich steckte in einem ihrer großen Unterhemden, das mir bis zu den Knöcheln reichte. Und anstatt wie sonst immer nach draußen gehen und unter dem kleinen Vordach warten zu müssen, bis es aufgeklart hatte oder der Platzwärter wieder gegangen war, durfte ich im Vorraum bleiben und zuhören, wie der Platzwärter Zimek zur Portierfrau Berber sagte, daß er sie liebe, und daß Frau Berber zum Platzwärter Zimek sagte, daß sie ihn liebe und sich oft manche Nächte mit ihm in einem schönen Ehebett herbeiwünsche. Die Portierfrau Berber besaß ein Bett für zwei Personen, das Gestell aus Stahlrohr mit Messingknäufen und die Wäsche weiß, was ich auch zu sagen wüßte, wenn ich nicht zuweilen krank geworden wäre. Wenn der Regen fiel und wir unter dem Vordach warten mußten, bis der Platzwärter Zimek seinen Besuch abgestattet hatte, schaute der Akkordeonspieler durchs Fenster. Einmal schaute auch der Arbeiter Mosig durchs Fenster. Ich fragte, was es da zu sehen gebe, und der Arbeiter Mosig beschrieb mir das Bett, die Fußsohlen des Platzwärters Zimek und den Rücken der Portierfrau Berber. Seither weiß ich, was es heißt, die Dinge zu beschreiben. Ich beschreibe den Rücken der Portierfrau: Ich behaupte, es war ein glücklicher Rücken. Teil eines adipösen Körpers (Ausdruck Doktor Grüneisen), breit und kompliziert gestaltet. Wülste fielen von den Schulterblättern, stapelten sich vom Hintern hoch zum Kreuz. Das Kreuz, inmitten dieser Wülste, war eingebuchtet, damit der mächtige Busen ein Gegengewicht hatte. Die Tönung der Haut war hellrosa, zum Hintern hin beinahe weiß. Der Hintern war fest und ohne Falten, aber voller Dellen. Wenn die Portierfrau ein Lied pfiff, wackelte sie mit dem Hintern, wenn sie weinte, wackelte er von selbst. Die Portierfrau Berber, die ehemalige Geliebte des verregneten Platzwärters, weinte häufiger als andere Frauen. Im Gang unter Deck, als sie dem Direktor den Weg versperrte und ein Abschiedslied pfiff, unterlief ihr ein falscher Ton. Sie brach sofort in Tränen aus und fiel in einen raschen Schritt. Mehr laufend als gehend drängte sie sich den Gang hinunter, während halberstickte Schreie ihren schon beschriebenen Hintern bewegten. Der Direktor, dicht hinter ihr und ganz gebannt von dem Schauspiel, rannte an der ihm zugewiesenen Kabine vorbei. Ich zerrte ihn an seinem Sakko, bis er stehenblieb. Wir hörten noch mehrmals ein Japsen und diese erbärmlichen Schreie. Dann war es schlagartig still. »Was sie nur hat?« fragte der Mann, der im Kontrollhaus vor dem Direktor in der Reihe gestanden war und offenbar die Kabine zur Rechten des Direktors belegte. »Was wird sie schon haben?« rief zornig Frau Doktor Grüneisen zwei Türen links von uns. »Sie hat, was wir alle haben. Was fragen Sie? Sind Sie freiwillig auf diesem Schiff?« »Wäre ich es nicht, wäre ich nicht hier«, antwortete der Mann und schloß nahezu gleichzeitig mit dem Direktor die Kabinentür. Frau Doktor Grüneisen, diese traurige Schönheit, an sie zu denken ist immer überraschend. Sie blieb am Gang stehen, die Fäuste in die Seiten gestemmt, wie es ihre Art war, Ende Dreißig, groß, schlank, in Jeans, die Sonnenbrille das ganze Jahr über im Haar. Das Haar, obwohl hell, war an den Wurzeln manchmal dunkel. Jeden Dienstag und Freitag kam Frau Doktor Grüneisen zum großen Tor, wo sie Zigaretten rauchte, so viele sie konnte, bis sie in Eile war. Meistens lehnte sie mit geschlossenen Augen irgendwo an, am Zaun, wo auch ihr Fahrrad lehnte, und war glücklich. Immer wenn sie rauchte, war sie glücklich. Immer steckte sie dem Akkordeonspieler Zigaretten zu und bat um Hochzeitsmusik, was verwunderlich war, weil Frau Doktor Grüneisen regelmäßig über ihre Ehe klagte. Beim Weiterfahren klagte sie auch über ihre Arbeit als Ordinationshilfe ihres Mannes. Aber meistens klagte sie in Form von Späßen. Eine traurige und fröhliche Frau. Ich mochte sie oder sie mochte mich. Ich weiß es nicht. Aber in der...


Geiger, Arno
Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wolfurt und Wien. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt Alles über Sally (Roman, 2010), Der alte König in seinem Exil (2011), Grenzgehen (Drei Reden, 2011), Selbstporträt mit Flusspferd (Roman, 2015) und Unter der Drachenwand (Roman, 2018). Er erhielt u. a. den Deutschen Buchpreis (2005), den Hebel-Preis (2008), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011), den Alemannischen Literaturpreis (2017) und den Joseph-Breitbach-Preis (2018).



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.