Geiger | Kleine Schule des Karussellfahrens | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 248 Seiten

Geiger Kleine Schule des Karussellfahrens

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-446-26161-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

ISBN: 978-3-446-26161-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Philipp Worovsky ist der Held in Arno Geigers frech-witzigem Debütroman. Ein Taugenichts in den neunziger Jahren, der der abgründigen Leere seiner Generation mit Ironie, Phantasie und 'Notlügen' begegnet. Doch Verwirrung kommt mit dem Mädchen Lila und ihrer Vorliebe für klirrende Fensterscheiben. Sie erweist sich als Virtuosin in der Kunst, mit diesem ordentlichen, allzu vorgezeichneten Leben einmal gründlich Karussell zu fahren. Ein moderner Schelmenroman, von einem, der nichts vom Leben erwartet und doch alles will.

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Das ist der Regen von Waterloo
In schöner Verbindung prasseln Schusterbuben und Kröten aus Gewitterwolken, die kaum eine Handbreit über den Dächern liegen. Die Wolken sind sehr dunkel, nahezu schwarz, aber manchmal, wenn sich das Streulicht in einer Bauchfalte sammelt, schimmern sie verräterisch grau, daß du auf den Schwindel mit dem Cinemascopeformat nicht hereinfällst. So leicht läßt du dich nicht täuschen und schon gar nicht mit Wirklichkeit, die sich den Anschein von Fiktion gibt. Da kann sie nicht mit. Nicht die Wirklichkeit. Oder doch? Vielleicht gerade sie? Du kommst aus Dantons Tod, einem dramatischen Streifen über diesen Revolutionär, der mit Entsetzen Scherz trieb, für den du ungeachtet seiner korrupten Wohlfahrtstätigkeit reges Interesse hegst: Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen! Aber da kann man genauso gut sagen, daß es sehr langweilig ist, einen Roman mit dem ersten Kapitel zu beginnen. Dabei: Hat es einen vernünftigen Sinn, dem natürlichen Lauf der Dinge in die Speichen zu greifen, sich die Finger zu quetschen und doch nicht umhin zu können, an ein bestimmtes Ende zu gelangen? Also schlägst du den Kragen hoch, schlägst zunächst auch den richtigen Weg ein, nämlich rechts die Barthstraße hinunter, schlägst überdies den Bogen von Dantons Hemd zu den Mädchen mit den geschmeidigen Hüften, zu den Mädchen mit den Spitälern im Leib, die nichts daran ändern können, daß der beste Arzt die Guillotine sein wird, biegst von der Barthstraße in die Reischekgasse, denkst dabei nichts Böses, weil du überhaupt nie etwas Böses denkst, fragst dich vielleicht, wer von den Leuten, die dir begegnen, ein Revolutionär ist oder ein wenig verrückt, als du linkerhand auf dem Vorplatz der alten Brauerei dieses Mädchen siehst, von dem du mit dem ersten Blick weißt, daß es zu der Sorte gehört, die es nur in Romanen oder Filmen mit schlechtem Ausgang gibt. Aber dort steht sie einmal, mit dem Rücken zu dir, und wirft mit wenig Glück einen faustgroßen Stein nach der offensichtlich letzten Fensterscheibe, die an dem auf Abbruch stehenden Hauptgebäude ganz geblieben ist. Argwöhnend schaust du in die Runde, ob alles mit rechten Dingen zugeht, ob nirgends ein Haken ist. Aber trotz deines redlichen Bemühens kannst du keine diesbezüglichen Anzeichen ausmachen. Alles wirkt sehr überzeugend. Du schaust wieder das Mädchen an, das barfuß ist, das ist dir zuvor nicht aufgefallen, die Schuhe hält sie in der Linken, schaust vielleicht zwei oder nur eine lange Sekunde, spürst sogar nichts Außergewöhnliches, nur dieses Kribbeln von Dantons Tod in der Magengrube, ein wenig verstärkt, obwohl damit zu rechnen ist, daß der kurze Blick schon bald von einer neuen Wahrnehmung überlagert sein wird. Du gehst vorbei, geschenkt, sagst du mit einer großzügigen Geste und hast den Eindruck von dem, was nicht sein wird, bis auf periphere Reste, die in einem nächtlichen Traum wiederzukehren geeignet gewesen wären, mit bewundernswertem Gleichmut weggesteckt, als dich das Mädchen auffordert, ihr den Gefallen zu tun, die Scheibe einzuschmeißen: Schau, dort oben ist noch eine ganz. Zwar stimmt, was sie sagt, dessen hast du dich bereits versichert, an den Falschen ist sie trotzdem geraten, denn in solchen Dingen drängst du dich nicht vor. Du drängst dich überhaupt nie und nirgends vor, das gehört zu deiner Strategie, weil du der Auffassung bist, überall in der ersten Reihe zu stehen, trage einem nichts als Ärger ein. Zu versäumen gebe es nichts (für dich der älteste Hut, der einem bei diesem Wetter vom Kopf fliegt), keinen Kometen, der nur alle hundert Jahre für drei Sekunden mit einem glühenden Schweif im Schlepptau auftaucht, keine Sprengung eines Tresors, ob von der Titanic oder aus den unterirdischen Schlupfwinkeln des Al Capone. Ganz zu schweigen von dem faulen Zauber, über den man an jeder Straßenecke stolpern kann. So sieht sie aus, deine Welt. Besondere Absichten verfolgst du keine, erwartest weder vom Leben viel und schon gar nicht, daß es etwas von dir erwartet. Acht Stunden Schlaf, zum Frühstück eine Tasse Kaffee, und bis zum Abend fällst du nicht aus der Rolle. Da müßte dir, das wäre das mindeste, schon einer dieser Kometen durchs Dach schlagen. Nach deinen Berechnungen nähert sich der Halleysche der Erde wieder um das Jahr 2060, das wäre die Gelegenheit, für die berüchtigten fünfzehn Minuten ein Star zu sein, die jedem, gefällt er sich in seiner Bedeutungslosigkeit auch noch so sehr, wärmstens anempfohlen sind. Immerhin, dies nur, um etwaigen Zweiflern an der bloßen Möglichkeit eines solchen Zwischenfalls von vornherein das Wasser abzugraben, ein italienischer Mönch des 17. Jahrhunderts wurde von einem herabstürzenden Meteor glattweg erschlagen. 1989 — ein unerhebliches Jahr. Und von diesem Standpunkt aus entbehrt es nicht einer gewissen Pikanterie, daß deine ruhigen Tage gezählt sind, als du der Aufforderung des Mädchens, näherzutreten, damit sie dir ins Gesicht sehen könne, aus Höflichkeit nachkommst und drei Schritt in ihre Richtung machst. Dort gerätst du zunächst in eine knöcheltiefe Lache, was schon mal unerfreulich ist — aber nicht, weil die Erde eine dünne Kruste ist und du befürchten mußt, in der Pfütze durchzubrechen, sondern wegen der nassen Socken, die du kriegst, denn Blücherstiefel trägst du ebensowenig wie Wellingtons. Voilà la pluie de Waterloo! Und natürlich sind deine Socken von der billigsten, nur im Supermarkt erhältlichen Sorte, so daß dich ein unter beträchtlichem Ärger gewonnener Erfahrungswert ungesäumt darauf hinweist, daß sie bei Regen nichts lieber tun, als deine Zehen anzuschwärzen — gemeinhin ein ausreichender Grund, mit Vorsicht aufzutreten. Und hier — beginnt der betrübliche Teil der Geschichte: denn während du fluchend und stampfend über deiner Misere knirschst, erzählt das Mädchen mehr von sich, als dir lieb ist. Sie heiße Lila, Lila wie die Farbe, sei vernarrt in das Klirren von Glas, sie finde es erotisch und besser schlafen lasse es sie auch. Sie habe es schon hundertmal probiert, aber sie: schaffe — es — einfach — nicht. Du begutachtest das Fenster erneut. Was das bringen soll. Und darauf sie: Grundgütiger Gott, ich mag es halt, wenn es klirrt. Ist das so schwer zu kapieren? — Eigentlich nicht. — Na eben. Du mußt wissen, ich wohne im Turm von der Brauerei, da drüben im zweiten Stock, im dritten der Sohn eines Stadtrats, weshalb wir erst Ende nächsten Monat delogiert werden, obwohl der Komplex im Sommer abgerissen wird. Seit Wochen habe ich Angst, daß jemand die Scheibe einschmeißt, während ich nicht zu Hause bin. Und deswegen sollst du die Sache in die Hand nehmen. Immerhin ist es besser, auf dem Karussell schwarz zu fahren als ewig anzustehen. Zuletzt kommt dann wer, beehren Sie uns wieder, meine Damen, meine Herren, für heute empfehlen wir uns. Man springt auf, setzt sich hin, wo’s einem gefällt. Und springt rechtzeitig ab. So einfach geht das. Manchmal. Eigentlich wollte ich sagen, daß das Karussell nur fährt, wenn man anschiebt. Es fliegt nicht, es läuft nicht. Es geht. Sie radiert mit den nackten Fußballen an den Schatten einer eichenblättrigen Buche, durch deren Geäst ein Hoflicht fällt. Bückt sich nach einem faustgroßen Stein, wie sie im Dutzend herumliegen. Vor dem Kasten türmt sich jede Menge Schutt, sie braucht bloß hinzulangen. — Also sei so nett und schmeiß die Scheibe ein. Während dich Lila erwartungsvoll anschaut, überlegst du, wann du zuletzt mit einem Karussell gefahren bist, überlegst sehr lange und weißt es trotzdem nicht. Irgendwie findest du das bedauerlich, weil du eine Ahnung hast, daß es ein Lachen gibt, das man nur auf einem Karussell zustande kriegt. Auf dieses Lachen bist du neugierig. Aber der Zusammenhang zwischen einem Karussell und dem Stein, den dir Lila entgegenhält, ist dir schleierhaft. Zumal: Ein wenig groß ist er schon. — Ach Quatsch. Der ist genau richtig, wie geschaffen für den Zweck. Ich kenn’ mich da aus. Im ersten Stock die zwei halbrechts, im zweiten das Fenster in der Mitte, das, in dem noch die Scherben hängen. Und dann noch ein halbes Hundert hinten im Hof. Das hier ist nur die Schmalseite. Du schaust in alle Richtungen. Dir ist klar,...


Geiger, Arno
Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wolfurt und Wien. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt Alles über Sally (Roman, 2010), Der alte König in seinem Exil (2011), Grenzgehen (Drei Reden, 2011), Selbstporträt mit Flusspferd (Roman, 2015) und Unter der Drachenwand (Roman, 2018). Er erhielt u. a. den Deutschen Buchpreis (2005), den Hebel-Preis (2008), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011), den Alemannischen Literaturpreis (2017) und den Joseph-Breitbach-Preis (2018).



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