E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Geiger Anna nicht vergessen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-446-26159-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-446-26159-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Arno Geiger, der 2005 für seinen Roman 'Es geht uns gut' den Deutschen Buchpreis erhielt, erzählt in seinem neuen Buch von Liebesdesastern und Lebensträumen und von Menschen, die nicht vergessen werden wollen - leicht, sprachlich brillant und mit großer Komik.
Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wien. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt 'Alles über Sally' (Roman, 2010), 'Der alte König in seinem Exil' (2011), 'Grenzgehen' (Drei Reden, 2011), 'Selbstporträt mit Flusspferd' (Roman, 2015), 'Unter der Drachenwand' (Roman, 2018), 'Der Hahnenschrei' (Drei Reden, 2019) und 'Das glückliche Geheimnis' (2023). Er erhielt u. a. den Deutschen Buchpreis (2005), den Johann-Peter-Hebel-Preis (2010), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011), den Joseph-Breitbach-Preis (2018), den Bremer Literaturpreis (2019), den in den Niederlanden vergebenen Europese Literatuurprijs (2019) und den Rheingau Literatur Preis (2023).
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Anna nicht vergessen
Mit einem Ruck richtet sie sich auf. Sie greift neben das Bett nach dem Slip vom Vortag und tappt, halb taumelnd vor Müdigkeit, in den dunklen Flur, wo ihre Füße auf dem Linoleum ein kraftloses Schmatzen erzeugen.
»Aufstehen, häßliches Entlein!« ruft sie ins Dunkel des Kinderzimmers hinein, etwas, das ihre Mutter manchmal gesagt hat und das Ella nur wiederholt, weil sich Anna ans erste Wecken ohnehin nie erinnert.
Nachdem Ella geduscht und sich angezogen hat, macht sie auch im Kinderzimmer Licht. Der Raum tritt aus dem Dunkel hervor. Ella setzt sich an den Bettrand; dabei spürt sie, welch ungeheure Kraftanstrengung allein das Ertragen des Gedankens kostet, daß es gleich wieder losgehen wird. Schlaftrunken umarmt Anna Ellas Hüften und tastet nach den weichsten Stellen. Ihre Hände sind heiß und feucht und blaß mit Tinte befleckt. Sie blinzelt aus ihren dicken Lidern und setzt zum Reden an. Doch Ella zieht es vor, das Mädchen nicht zu Wort kommen zu lassen.
»Vielleicht willst du schauen, ob es geschneit hat«, sagt Ella. Sie wuschelt Anna durchs Haar und verzieht sich rasch, hinüber in die Küche. Nachdem sie dort am Herd das Gas aufgedreht hat, bleibt sie eine Weile zwischen Spüle und Küchentisch stehen, ziemlich niedergeschlagen, und starrt gedankenverloren auf die Pokahontas-Pantoffeln, die Anna am Vorabend unter dem Tisch zurückgelassen hat.
Ella ist jetzt dreißig Jahre alt, eine schlanke, attraktive Frau, die mit der Zeit nüchtern geworden ist, obwohl sie mit zwanzig als jemand gegolten hat, der nicht zu bremsen ist. Wenn sie erschöpft auf dem Sofa liegt oder sich für eine Viertelstunde im Klo einriegelt, packt sie manchmal die Angst, daß sie mit jedem Jahr an Lebensfreude verliert, während andere immer glücklicher werden. Alle ihre Klientinnen sind so, so wie sie selbst, auf der stimmungsmäßigen Talfahrt. Das gilt auch für die Frau, die sie am Vormittag treffen wird; das hat Ella schon am Telefon erkannt. »Ich tue das nur, weil ich ihn liebe«, hat die Frau mit gedämpfter Stimme gesagt, und daran denkt Ella, während sie den Kakao in die Milch rührt und probiert, ob die Milch nicht zu heiß ist. Sie gießt einen Schluck kalter Milch nach, dann stellt sie die Tasse vor das Mädchen, das sich Augenblicke zuvor auf seinen Stuhl geschoben hat.
Es ist schwer, Anna nicht gern zu haben mit ihren verschlafenen Zügen, den verklebten Lidern und dem nur unvollständig weggewischten Zahnpastaschaum um die Lippen. Trotzdem empfindet Ella eine bedrückende Distanz zu diesem Kind, das ihr bisher auf eine seltsame Art fremd geblieben ist. Sie versteht Anna nicht wirklich. Allein wie das Mädchen am Tisch sitzt, ein Smacks nach dem anderen auf die rechte Handfläche legt und mit der Linken von unten gegen den Handrücken schlägt, so daß das Smacks in ihren aufgerissenen Mund fliegt —. Ella hat keine Ahnung, ob Anna es aus reiner Gedankenlosigkeit tut oder als Rache dafür, daß von Schnee weiterhin keine Rede sein kann. Draußen ist es noch genauso trostlos und grau wie schon seit Mitte November. Anna katapultiert das nächste Smacks in ihren Mund. Ella tritt der Schweiß auf die Stirn, so sehr muß sie sich zusammenreißen, damit sie nicht die Beherrschung verliert. Sie wendet dem Kind den Rücken zu und sagt lediglich:
»Trödel nicht herum, komm schon, in fünf Minuten müssen wir los.«
Schon zweimal ist Ella in die Schule zitiert worden, weil sich Anna regelmäßig verspätet. Ella hat der Lehrerin gesagt, daß sie nicht bereit sei, um Mitternacht aufzustehen, nur damit Anna rechtzeitig zum Unterricht kommt. Die Lehrerin solle zusehen, daß Anna eine Freundin oder sonstwie Spaß an der Sache finde, dann müsse nicht ständig jemand wie mit der Peitsche hinter ihr hersein.
Anna läßt einem Smacks eine Reihe kieferverrenkender Gähner folgen, die ihren ganzen Körper zum Schlottern bringen. Sie beschließt das letzte Gähnen mit einem langgedehnten »Ahh«. Anna streckt sich. Nach einem weiteren gänsehaften Schütteln will sie nach dem nächsten Smacks greifen. Doch Ella kommt ihr zuvor. Sie zieht die Frühstücksschale vom Tisch und stellt sie auf die Arbeitsfläche zwischen Herd und Spülbecken.
»Jetzt schau, daß du in dein Zeug hineinkommst, aber husch.«
»Mama, ich will zu Hause bleiben. Bitte. Ich will nicht in die Schule.«
Noch am Vortag hat Anna versprochen, wegen der Schule nicht mehr herumzuquengeln (zur Abwechslung hatte sie behauptet, daß ihr das Kreischen der Kreide Angst einjage). Doch jetzt, da Ella sie an das Versprechen erinnert, schaut Anna, als habe sie keinen blassen Schimmer, wovon ihre Mutter redet. Ella schlürft den Kaffee, sie betrachtet ihre Tochter, die trotzig, fast reglos, auf dem Stuhl sitzt. Die Füße reichen noch lange nicht bis zum Boden. Anna lächelt zaghaft, ganz so, als habe sie die Hoffnung, Ella werde sich doch noch mit ihr gegen die Schule verbünden, nicht ganz aufgegeben. Aber Ella wiederholt nur ihr »Husch, in die Schuhe!« in einem Ton, der nicht zum Nachfragen ermuntert.
Anna gähnt nochmals, entschließt sich dann aber, vom Tisch aufzustehen und in die Diele zu zotteln, wo der Schuhkasten steht. Bevor sie den Schuhkasten erreicht, schreckt sie mit einem Schrei zurück, sie tut, als wäre ihr jemand mit einem nassen Waschlappen unter den Pullover gefahren. Dann springt sie Ella ans rechte Bein, krallt sich in den Stoff der Jeans und ruft:
»Auf dem Schuhkasten sitzt ein Kobold. Der darf nicht gestört werden.«
Ella zieht das Kind am Bein hinter sich her, öffnet den Kasten und nimmt die neuen Winterstiefel heraus, die Anna von ihrem Vater bekommen hat, diesem Vollidioten. Sie hebt Anna hoch, so daß das Mädchen jetzt selbst auf dem Schuhkasten zu sitzen kommt. Ohne Platz für weitere Ablenkungsmanöver zu lassen, packt Ella die höckerigen Kinderknie und stellt so den Widerstand her, der nötig ist, damit sie dem Mädchen die Stiefel anziehen kann.
Um neun hat Ella das Treffen mit der Kundin. Die Frau ist wie alle, nervös, ganz fahrig, unglücklich; eine mittelgroße, bleichgesichtige Frau um die Vierzig mit rötlichem Haar und ziemlich starken Formen. Das Treffen findet im Burggarten statt, weil sich manche Dinge besser im Gehen besprechen. Im dünnen Vormittagslicht wirken die Sommersprossen auf dem Nasensattel der Frau wie die letzten Konzentrationen von Lebensfreude in einem ansonsten müden Gesicht.
Die Frau spricht gewählt, fast manierlich leise, als lebe sie in einem von Unzufriedenheit luftverdünnten Raum, der ihre Atmung einschränkt. Auch die Mimik ist sparsam, wird aber hie und da von abrupten Handbewegungen flankiert, so auch, als Ella nach den Gründen für das Mißtrauen der Frau fragt und von ihr die Antwort erhält, sie finde in den Taschen ihres Mannes Lokalrechnungen, die so hoch seien, daß sie nicht glauben könne, er trinke das alles alleine.
Seit gut zwei Jahren arbeitet Ella für eine Sicherheitsagentur und stellt im Auftrag von Frauen deren Ehemänner auf die Probe, ob sie für amouröse Abstecher zu haben sind. Früher hätte sie nie gedacht, daß sie je einen Job ergattern wird, der ihr Spaß macht — da hat sie immer alles nur deshalb getan, damit sie es irgendwann nicht mehr tun muß. Mit der Arbeit für die Sicherheitsagentur ist es zum Glück etwas anderes, wenn auch bestimmt nicht wegen der Verdienstmöglichkeiten. Ella mag die Anforderungen, die dieser Job an sie stellt, und sie mag das Ausgeflippte daran. Aus ihrer Sicht erzielt sie sogar gute Ergebnisse, wenn auch genaugenommen jedes Ergebnis zählt; es ist, als schickte man sie zum Autozählen an eine Kreuzung. Trotzdem fährt Ella besser, wenn die Männer auf ihr Angebot eingehen, dann braucht sie sich nicht gegen Verdächtigungen zu rechtfertigen, sie habe keinen Charme, kenne die nötigen Kniffe nicht oder lege sich zu wenig ins Zeug.
Ella zählt die Geschäftsbedingungen auf. Dabei betrachtet sie die Fotos, die sie von der Frau erhalten hat und die einen Mann zeigen, der lässig wirken will, aber eher einer dieser farblosen Typen ist, die niemandem auffallen. Kann gut sein, daß er ein Leben lang kein eindeutiges Angebot erhält oder besser, erhalten würde. Ella kündigt an, daß sie sich beim Flirten nicht zurückhalten werde, und weil sie mit den Spielregeln durch ist und die Frau nichts erwidert, sagt sie aufs Geratewohl:
»Er ist am Abend wohl oft weg.«
»Das kann man so sagen.«
Die Frau lacht. Für einen Moment ist sie richtig gut gelaunt, wohl bei dem Gedanken, daß sie sich nichts mehr gefallen lassen will und endlich eine Entscheidung gefunden hat oder wenigstens einen Ersatz für diese Entscheidung. Kurz strahlt ihr Gesicht etwas Herausforderndes aus, von dem man meinen...