Geiger | Alles über Sally | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 368 Seiten, Gewicht: 1 g

Geiger Alles über Sally

Roman
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-446-23528-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 368 Seiten, Gewicht: 1 g

ISBN: 978-3-446-23528-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Alfred und Sally sind schon reichlich lange verheiratet. Das Leben geht seinen Gang, allzu ruhig, wenn man Sally fragt. Als Einbrecher ihr Vorstadthaus in Wien heimsuchen, ist plötzlich nicht nur die häusliche Ordnung dahin: In einem Anfall von trotzigem Lebenshunger beginnt Sally ein Verhältnis mit Alfreds bestem Freund. Und Alfred stellt sich endlich die entscheidende Frage: Was weiß ich von dieser Frau, nach dreißig gemeinsamen Jahren? Arno Geiger, der international gefeierte Buchpreisträger aus Österreich, schreibt noch einmal den großen Roman vom Liebesverrat. Eine Geschichte von Ehe und Liebe in unserer Zeit.

Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wien. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt 'Alles über Sally' (Roman, 2010), 'Der alte König in seinem Exil' (2011), 'Grenzgehen' (Drei Reden, 2011), 'Selbstporträt mit Flusspferd' (Roman, 2015), 'Unter der Drachenwand' (Roman, 2018), 'Der Hahnenschrei' (Drei Reden, 2019) und 'Das glückliche Geheimnis' (2023). Er erhielt u. a. den Deutschen Buchpreis (2005), den Johann-Peter-Hebel-Preis (2010), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011), den Joseph-Breitbach-Preis (2018), den Bremer Literaturpreis (2019), den in den Niederlanden vergebenen Europese Literatuurprijs (2019) und den Rheingau Literatur Preis (2023).
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1

Hinter einem Bitte-nicht-stören-Schild steht Sally am Fenster, Alfred liegt auf dem Bett, er blickt vom Tagebuch auf, in das er seine morgendlichen Notate schreibt. Träge schaut er zum Fernseher, wo die Nachrichten nichts Neues bringen, seit unzähligen Jahren dieselben Ereignisse, mit Variationen nur bei den Zwischennummern – über die wird aber nicht berichtet.

Hart geführter Wahlkampf um die

Präsidentschaft der Vereinigten Staaten.

WANDERURLAUB EINES GEWISSEN ALFRED

UND EINER GEWISSEN SALLY.

BLUTIGE SCHLACHT IN AFGHANISTAN.

Auch die Nachricht, dass mancherorts noch immer gesteinigt wird, ist nichts Neues. Sally dreht sich ebenfalls hin, sie findet es irritierend, wie schlecht das Gerät ist – Bild und Ton, als würde man sich Bilder am Grund eines Eimers mit Dreckwasser ansehen. Die dumpf klingende Stimme des Nachrichtensprechers teilt mit, dass vor allem Frauen betroffen seien, wegen Ehebruchs, was an den meisten Orten der Welt kein Vergehen sei. Ein verwackeltes Video geistert über den Bildschirm. Eine weiß verschleierte Frau, die bis unter die Brust eingegraben ist, wird von Zeugen und Schaulustigen mit Steinen beworfen, eine Stimme sagt, dass die Steine nicht zu groß und nicht zu klein sein dürften, nach den Maßstäben der dortigen Theologie. Sally stellt sich eine staubige Welt vor, und wie das ist, wenn der erste Stein den Kopf trifft, und während das Gehirn noch zittert, gleich der nächste, und die Schmerzen ganz durcheinander, welcher Schmerz wo? Von der Vorstellung wird ihr beinahe schlecht, und dass die Leute auch von hinten werfen, das ist ungeheuerlich, sie kann’s beim besten Willen nicht verstehen, ihre Brauen sind ganz finster gerückt vor Zorn.

»Es ist schon unheimlich, was für Spinnweben in manchen Köpfen herumwehen«, sagt sie.

Alfred biegt sich seinem Tagebuch entgegen. Ohne aufzublicken, murmelt er »Aha«, »Ja« und »Uuhh«, ganz in seinem schneckenhaften Element, versunken in die Vermessung seiner kleinen Erfolge und Niederlagen. Manchmal kratzt er sich mit dem hinteren Ende des Tintenrollers an der Schläfe, als versuche er, in der Ereignislosigkeit des Vortages fündig zu werden, dann kritzelt er wieder drauflos, als wäre in den Stift ein Dämon gefahren.

Sally findet es mit einem Mal anstrengend, wie Alfred auf ältliche Weise im Bett sitzt, ein überzeugender Beitrag zur Trostlosigkeit dieses Zimmers, Alfred, in seiner weichen Korpulenz, zwei Kissen im Rücken. Während des Schuljahres wäre Sally froh über die Ruhe, die ihr Alfreds Faulenzen lässt, aber jetzt, in den Ferien, sollte man meinen, ist es selbst für einen Mann in Alfreds Alter eine unnatürliche Sache, so viel herumzuliegen. Sally spürt einen Stich des Alarms, gleichzeitig hat sie Alfred vor Augen, sein träges Gehen, gestern, als er mit Hängeschultern über das Hochmoor stapfte, den kleinen Rucksack nach Schulbubenart auf dem Rücken, im vorwurfsvollen Zwiegespräch mit seinen Schuhen, die längst nicht mehr neu sind, aber offenbar nicht alt genug, um ihm sympathisch zu sein. Als sie am Abend in der Pension die Treppe hochstiegen, knickten ihm die Beine vor Müdigkeit fast ein. Er duschte, fiel aufs Bett, und während er fernsah, aß er mehrere Sandwichs und eine ganze Tafel Schokolade. Anschließend schlief er zehn Stunden, vergaß aber selbst im Tiefschlaf nicht, fordernd und verlangend zu sein. Die halbe Nacht grabschte er nach Sallys Hüften oder ihrem Hintern, die meiste Zeit lag er auf ihr. Sie selber wachte einige Male in Schweiß gebadet auf, so dass sie sich jetzt fragt: Was ist das? Ist es Alfred oder seelische Armut oder eine Krankheit? Sind es die Hormone oder ist es Angst?

Während Sally mit gewölbter Oberlippe Luft ausstößt, streicht sie sich über das morgendlich gealterte Gesicht, dann legt sie die Hand wieder ans Fensterbrett, den Ballen an der Kante, wo der Lack abblättert, die Finger gespreizt. Sie blickt in eine Straße mit Arbeiterwohnhäusern und dahinter auf den bauchigen Kamin einer ehemaligen Baumwollmühle und ein Stück weiter, hinter dem Kamin, auf weitere Kamine, auf der anderen Seite des Flusses und des Kanals. Von dort dringt Straßenmusik zu ihr her. Sie denkt, wenn sie wegen Alfreds Beinen nichts Großes unternehmen können, so doch wenigstens den Spaziergang hinauf nach Heptonstall, wo sie das Grab von Sylvia Plath vor fünfzehn Jahren nicht gefunden haben. Es wäre schade um das schöne Wetter, das draußen verlorengeht. Sally schließt die Augen, ein leichter Schauer überläuft sie, es kommt ihr vor, als werde die Sommerhitze das große Fenster im nächsten Moment eindrücken.

»Was sind das für Blumen auf den Tapeten?« fragt Alfred.

»Hyazinthen«, sagt Sally.

Sogleich kehrt Alfred zu seiner chronischen und chronistischen Tätigkeit zurück, schreibt murmelnd einige Sätze unter dem Datum des aktuellen Tages, er ist bemüht, dem vorangegangenen Tag Zusammenhang und Bedeutung zu geben. Er rekapituliert die Merkwürdigkeiten, denen er in der Eile seines Lebensgeschäfts nicht ausreichend Aufmerksamkeit widmen konnte, er erwähnt, dass Sally mitten im Hochmoor stehen geblieben ist und gesagt hat:

»In den Ferien wird alles ein bisschen weniger real, sogar die Zeit. Sogar mein Mann.«

Alfred kritzelt, setzt ab. Jetzt richtet er den Blick auf Sally, die ihm den Rücken kehrt, ihre Körperhaltung, die Art, wie sie am Fenster steht, mit nichts als einem alten Hemd von ihm, das gefällt ihm. Er findet, sie ist sehr real, sehr schön, trotz der drei Kinder, die sie geboren hat, sie besitzt noch immer einen Körper, auf den sie stolz sein kann, der Rücken gerade, ihr Hintern nicht zu groß. Nur ihre Schenkel haben aufgehört, beeindruckend zu sein, die allzu eiligen Schenkel, die einen Schritt voraus sind, zu üppig und allzu strukturiert von Dellen und kleinen Adern. In den seitlichen Hemdschlitzen locken sie dennoch, diese Alfred seit dreißig Jahren vertrauten Flanken, er wäre nicht abgeneigt, jetzt mit seiner Frau zu schlafen, das käme auch seinen Aufzeichnungen zugute, seine Ansicht ist, es wäre absolut zuträglich, wenn darin mehr Sex Erwähnung fände.

Man merkt, wir sind beide über fünfzig, aber Sally eindeutig auf der guten Seite des Jahrzehnts, ich schon eher auf der schlechten.

Nachdem er diesen Satz nochmals gelesen hat, berührt er verstohlen seine Genitalien, lockert sie, da seine Hoden an den Schenkeln im Schweiß liegen. Weil ihm zu heiß ist, strampelt er die Decke von den Beinen. Sally schaut herüber, sie sieht, dass Alfred den Kompressionsstrumpf am rechten Unterschenkel auch in der Nacht getragen hat, er präsentiert ihr diese Nummer kombiniert mit einer weißen Unterhose, die Fußsohlen geradeaus auf Sally gerichtet, rechts der grau verschmutzte, ursprünglich hautfarbene Stoff, links die nackte, verhornte Haut des breiten Kuratorenfußes. Obwohl es immer etwas Anrührendes hat, ein verbundenes Bein zu sehen, dreht sich Sally frontal zu Alfred hin, mit dem Hintern am Fensterbrett, in herausfordernder Körperhaltung, die Arme verschränkt.

»So sieht kein heimlicher Futurist aus«, sagt sie.

Alfreds Miene spannt sich und erschlafft gleich wieder. Auch solche Pfeile von Seiten seiner Frau sind für ihn nichts Neues. Er lächelt gutmütig, in seiner triefäugigen Art, nimmt eine andere Stellung ein, als ob er unbequem sitze, verdreht die Augen und bringt die Beine wieder in die vorherige Position. Er presst die Lippen aufeinander, und während die Bettfedern ein singendes und zuletzt zischelndes Geräusch hören lassen, denkt er, dass es hilfreich wäre, wenn ihm jemand sagen würde, warum die Menschen in seiner Gegenwart so angriffslustig sind.

»Was ist mit mir? Wieso denn?« fragt er.

»Weil du schon wieder den Strumpf trägst, plus Unterhose.«

In einem versonnenen Moment kratzt er sich mit dem Tintenroller in der linken Achselhöhle. Der Ausdruck seines Gesichts zeigt nicht Verdruss, sondern Nachdenklichkeit. Sally kennt diesen Ausdruck, da haben wir ihn, den Stempel des Tiefsinns, die Gedanken wichtig und schwer, und auch der Mann wichtig und schwer, altmodisch und bequem wie die Queen, ständig begleitet von seinen Kammerdienern: Ritus und Wiederholung.

Sie sagt:

»Wenn es stimmt, dass es keine Thrombose war, ist es ein Blödsinn, dass du den Strumpf auch nachts trägst und wenn du die ganze Zeit vor dem Fernseher liegst.«

»Es ist einfach so«, versucht er zu erklären, »dass ich meinen Beinen gestern zu viel zugemutet habe.«

»Du hast den Strumpf vorgestern getragen und vorvorgestern und am Tag davor, und so sieht er auch aus.«

Vielleicht meint sie es nett, denkt er. Gerade eine Lehrerin hat manchmal seltsame Motive, wenn sie kritisiert, besonders eine mit rotblonden Haaren. Erst vor wenigen Tagen hat sie gesagt, der einfache Teil liegt immer hinter dir, der schwierige immer vor dir.

Wieder schaut Alfred auf seine Frau, auf diese früher so ungezügelte, heute ernsthafte Schönheit, er befürchtet, eheliche Berührungen seinerseits würden im Moment nicht erwidert. Seine Hände zittern, es durchläuft ihn, dann kommt ihm wieder sein Bein in den Sinn, sein besonderer Schützling, der Anblick macht ihn so melancholisch, dass er den Kopf schüttelt, als verblüffe der Strumpf auch ihn, diese künstliche, für keine Gänsehaut zu gewinnende Außenseite.

»Der Strumpf ist angenehm«, sagt er kleinlaut. »Außerdem bin ich es leid, die Krampfadern zu sehen.«

»Und ich bin es leid, den Strumpf zu sehen«, gibt Sally zurück. »Er bedeutet alt und krank und irritiert mich. Der Besuch bei Mama hat mir gereicht. Mein Bedarf an körperlichem Verfall ist für den Rest der Ferien gedeckt.«

»Wie du redest!«...


Geiger, Arno
Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wolfurt und Wien. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt Alles über Sally (Roman, 2010), Der alte König in seinem Exil (2011), Grenzgehen (Drei Reden, 2011), Selbstporträt mit Flusspferd (Roman, 2015) und Unter der Drachenwand (Roman, 2018). Er erhielt u. a. den Deutschen Buchpreis (2005), den Hebel-Preis (2008), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011), den Alemannischen Literaturpreis (2017) und den Joseph-Breitbach-Preis (2018).



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