E-Book, Deutsch, Band 3/2018, 100 Seiten, Format (B × H): 210 mm x 280 mm, Gewicht: 220 g
Reihe: Gehirn&Geist Dossier
Gehirn&Geist Dossier - Das Geheimnis des Denkens
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95892-336-2
Verlag: Spektrum der Wissenschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Sinne, Sprache, Bewusstsein
E-Book, Deutsch, Band 3/2018, 100 Seiten, Format (B × H): 210 mm x 280 mm, Gewicht: 220 g
Reihe: Gehirn&Geist Dossier
ISBN: 978-3-95892-336-2
Verlag: Spektrum der Wissenschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Heute schon gedacht? Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich. Diese Erkenntnis des französischen Philosophen René Descartes (1596–1650) war einst der Sorge über einen bösartigen Dämon entsprungen, von dem er glaubte, dass er Sinne und Wahrnehmung irreführe. Descartes beruhigte sich mit der Feststellung: »Er täusche mich, so viel er kann, niemals wird er jedoch fertigbringen, dass ich nichts bin, solange ich denke, dass ich etwas sei.« Der Grundsatz hat es längst aus dem Kreis der Denker und Gelehrten ins bürgerliche Wohnzimmer geschafft und ziert als Alltagsweisheit Küchenbretter, Wandtattoos und T-Shirts. Allerdings sagt er nichts darüber aus, wie wir eigentlich denken. Was passiert im Gehirn, wenn wir uns einer Empfindung bewusst werden? Und wie gelingt es uns, diese Eindrücke in Worte zu fassen? Dank innovativer Methoden gewinnen Neuroforscher immer neue Erkenntnisse zu solchen Fragen. Einige der wichtigsten sind in diesem Heft versammelt. Wussten Sie etwa, dass unsere Nase für manche Gerüche empfindlicher ist als die von Hunden (S. 18)? Viele Experten halten sie sogar für das meistunterschätzte Sinnesorgan! Und haben Sie schon einmal von einem Bewusstseinsmessgerät gehört? Was nach einer esoterischen Spielerei klingt, könnte bald schon zur Grundausstattung von Krankenhäusern gehören. Mit dem Verfahren lässt sich erstaunlich zuverlässig feststellen, ob ein Patient, der regungslos daliegt, noch bewusst erleben kann (S. 32). Zu guter Letzt möchte ich Sie auf einen Artikel hinweisen, der eine besondere Leistung des Gehirns hervorhebt: das Vergessen (S. 56). Was die meisten von uns wohl eher als lästiges Defizit empfinden, ist eine essenzielle Fähigkeit unseres Gedächtnisses. Ohne sie könnten wir nicht abstrakt denken und Wichtiges nicht von Unwichtigem unterscheiden. Eine dennoch unvergessliche Lektüre wünscht Ihnen Anna von Hopfgarten, Redaktion Gehirn&Geist.
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WAHRNEHMEN
Das Geheimnis der Fingerspitzen
TASTSINN Ob wir gehen, uns hinsetzen, etwas greifen oder spüren – stets verlassen wir uns auf den Tastsinn. Erst langsam beginnen Wissenschaftler zu verstehen, wie wichtig taktile Erfahrungen für unser Leben sind. VON JOACHIM RETZBACH UNSER AUTOR Joachim Retzbach ist promovierter Psychologe und Wissenschaftsjournalist in Wiesbaden. Seine Finger hält er mit dem Zupfen an Basssaiten auf Trab. Fürs Tippen im Zehnfingersystem hat es aber noch nicht gereicht. Auf einen Blick: Die Welt erfassen
1 Viele Studien demonstrieren die Macht der Berührungen im Alltag: Sie machen die Empfänger hilfsbereiter und spendabler. 2 Taktile Reize stellen sogar eine Art eigene Sprache dar. Mit ihrer Hilfe können wir anderen gegenüber erstaunlich präzise unsere Gefühle ausdrücken. 3 Das Tastsinnessystem beruht auf einer Vielzahl verschiedener Rezeptortypen in der Haut und im Körper. Wie genau diese neuronal verschaltet sind, wird derzeit noch erforscht. Die Instruktion scheint denkbar einfach: Die Versuchsperson soll ein Streichholz aus der Schachtel nehmen und anzünden. Nach fünf Sekunden ist die Aufgabe erledigt. Doch nun erhöht der Versuchsleiter den Schwierigkeitsgrad. Er injiziert mit einer feinen Nadel ein Betäubungsmittel in Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Die Substanz blockiert die Tastsinneszellen auf den Fingerspitzen der Probandin. Beim zweiten Versuch stellt sie sich ziemlich unbeholfen an. Immer wieder rutschen ihr die Hölzchen aus der Hand. Erst eine halbe Minute später gelingt es ihr endlich, eines in Brand zu setzen. Die Szene stammt aus einem Video des schwedischen Psychologen Roland Johansson, das im Jahr 1979 zu einem einzigen Zweck entstand: Es sollte demonstrieren, wie wichtig Berührungsempfindungen für viele alltägliche Handlungen sind – meist, ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Der Tastsinn ist unser entwicklungsgeschichtlich ältester Sinn, die Haut unser größtes Sinnesorgan. Fast 20 Prozent des Körpergewichts entfallen auf sie. In jeder Sekunde melden Millionen von Sinneszellen – ihre genaue Zahl ist noch unbekannt –, ob wir festen Boden unter den Füßen haben, ob Wind durch unser Haar streicht oder unsere Fingerspitze gerade auf einen Knopf gedrückt hat. Nur daher wissen wir überhaupt, wo unser Körper endet und die Umwelt anfängt. »Für jede kleine Bewegung brauchen wir die Rückmeldung der Tastzellen in der Haut und aus dem Körper«, sagt Martin Grunwald. »Ohne diese Information können Sie weder stehen, sitzen, essen noch sonst etwas tun.« Der Psychologe leitet das Haptik-Labor an der Universität Leipzig, das einzige Institut in Europa, das sich ganz der Erforschung des Tastsinns verschrieben hat. Wissenschaftler haben das menschliche Hör- und Sehvermögen in den vergangenen Jahrzehnten stetig besser verstanden, bis in kleinste Details der neuronalen Verarbeitung. Beim Tastsinn hingegen steht man noch ganz am Anfang. Dabei deuten viele Forschungsergebnisse darauf hin, dass die Bedeutung des Greifens und Fühlens für unser Leben bislang dramatisch unterschätzt wurde. Sie beeinflussen nicht nur, wie gut wir uns im Alltag zurechtfinden, sondern dienen auch der Kommunikation mit unseren Mitmenschen und scheinen sogar eng mit unserer psychischen und körperlichen Gesundheit zusammenzuhängen. Fühlprobe mit der Zunge Wie zentral der Tastsinn für unser Leben ist, zeigt sich bereits im Mutterleib. Ein Embryo fühlt seine Umgebung, bevor er die ersten Geräusche hört oder Helligkeit wahrnimmt. Babys eignen sich die Welt mit Hilfe des Tastsinns an: Sie nehmen alles Neue erst einmal in den Mund, um zu fühlen, womit sie es zu tun haben. »Mund und Hände sind unsere sensibelsten Tastorgane«, erklärt Martin Grunwald. »Sie sind daher optimal für diese Exploration geeignet.« Der Tastsinn ist eigentli2ch ein ganzes System von Sinnen. Nicht nur überall auf der Haut, sondern auch in Muskeln, Sehnen, sogar in Organen sitzen verschiedene, hoch spezialisierte Zellen, die zum Beispiel auf leichten oder auf starken Druck reagieren, auf Schmerzreize, Vibration, Dehnung oder Temperatur – und das alles außerordentlich empfindlich. »Wenn Sie auf Ihre Fingerkuppe pusten, spüren Sie den Luftzug, obwohl das mikroskopisch kleine Schwingungen auf Ihrer Haut sind«, sagt Hannes Saal von der University of Sheffield. Der Kognitionswissenschaftler interessiert sich unter anderem dafür, wie die vielen verschiedenen Tastsinneszellen zusammenarbeiten. Kooperierende Tastzellen Lange gingen Forscher davon aus, dass jeder Rezeptortyp in der Haut für einen oder maximal zwei Aspekte der taktilen Wahrnehmung zuständig ist. Die Merkel-Zellen etwa registrieren lang andauernden Druck, die Vater-Pacini-Körperchen springen auf Vibrationen an und melden diese umgehend ans Gehirn (siehe »Von der Berührung zur Empfindung«, S. 12/13). Gemeinsam mit Sliman Bensmaia von der University of Chicago veröffentlichte Saal 2014 allerdings eine Arbeit, in der er neuere Studien zusammenfasste und die eine andere Sicht auf die Arbeitsweise des Tastsinns nahelegt: Demnach arbeiten für jede taktile Empfindung stets mehrere Arten von Rezeptoren zusammen. Spüren wir etwa eine Vibration auf dem Oberarm, sind dafür nicht nur die Nervenimpulse aus den Vater-Pacini-Körperchen verantwortlich, sondern auch die der Meissner-Körperchen, die eigentlich auf Druckveränderungen spezialisiert sind. Im Gehirn wird der Input mehrerer Zelltypen miteinander verrechnet. »Physiologisch gesehen ist der Tastsinn nicht so langweilig, wie man lange angenommen hat«, meint Saal. Als Nächstes gelte es zu klären, wie genau die verschiedenen Rezeptoren zusammenarbeiten und wo ihre Informationen ausgewertet werden. Andere Aspekte des Tastsinns sind ebenfalls komplexer als gedacht. So sitzt das sprichwörtliche Fingerspitzengefühl nicht nur in den Fingerkuppen, erklärt Saal. Wenn wir etwas ertasten, Blindenschrift etwa oder die geriffelte Oberfläche einer Kordhose, setzen sich die Vibrationen aus den Fingerspitzen bis zur Handfläche fort. Auch dort erfassen Sensoren noch winzige Schwingungen – und diese Information nutzen wir, um das befühlte Objekt noch genauer zu analysieren. »Bei einer Berührung der Fingerkuppen wird die ganze Hand stimuliert«, sagt Saal. »Das Gehirn vergleicht die Reize von unterschiedlichen Hautstellen und teilt uns dann zum Beispiel mit, dass der Kontakt auf der Fingerspitze stattgefunden haben muss.« Der Tastsinn ist also äußerst sensibel. Im Vergleich etwa zum Sehen lässt er uns die Umgebung jedoch nur unmittelbar erfahren. »Wir müssen uns einem Gegenstand auf Armlänge nähern, um herauszufinden, ob er sich warm oder kalt anfühlt«, sagt der Neurowissenschaftler Hubert Dinse von der Ruhr-Universität Bochum. Dieser Nachteil werde aber dadurch ausgeglichen, dass der Tastsinn extrem zuverlässig arbeite. »Es gibt eine Fülle an optischen Täuschungen, das Auge lässt sich leicht überlisten. Taktile Illusionen sind dagegen nur sehr wenige bekannt«, so Dinse. Komplexe Augen, wie etwa Wirbeltiere sie besitzen, sind evolutionär erst zu einem Zeitpunkt aufgetreten, als es eine Art von Tastsinn schon hunderte Millionen Jahre lang gegeben haben muss. Beim Auge entsteht das Bild unserer Umwelt aus vergleichsweise wenigen Informationen auf der Netzhaut. Aus einfachen Helligkeitsunterschieden in drei verschiedenen Bereichen des Farbspektrums formen sich in unserem Kopf Objekte, Tiefenwahrnehmung und sogar Bewegungen. Das geschieht durch nachträgliche, komplizierte Berechnungen im visuellen Kortex – der deshalb im Gehirn viel Platz beansprucht. Dieses System ist fehleranfällig, das begünstigt optische Illusionen. Der Tastsinn hingegen basiert auf der Vielzahl der verschiedenen Rezeptoren, die im ganzen Körper verteilt sind. Ihre Signale sind spezifisch; sie zu verarbeiten, verbraucht im Gehirn weit weniger Kapazität. Man könnte sagen, der Tastsinn ist der ehrlichste, bodenständigste unter unseren Sinnen. Als solcher ist er auch für menschliche Beziehungen enorm wichtig. Nicht umsonst kommt das Wort Kontakt vom lateinischen »contingere« – berühren. Sei es ein freundlicher Händedruck, ein aufmunterndes Schulterklopfen, ein Griff an den Arm, um jemandes Aufmerksamkeit zu erhalten, oder ein sanftes Streichen über die Wange: Immer mehr Studien demonstrieren die Macht solcher kleinen Berührungen im Alltag. So stimmt etwa ein beiläufiges Anfassen am Oberarm – sofern es in der jeweiligen Situation kulturell angemessen ist – den Empfänger hilfsbereiter und wohlwollender. In einer Studie willigten Passanten eher ein, eine...