Geda | Der Sommer am Ende des Jahrhunderts | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Geda Der Sommer am Ende des Jahrhunderts

Roman
Erscheinungsjahr 2013
ISBN: 978-3-641-09157-6
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-641-09157-6
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Liebeserklärung an das Leben

Der Tag, an dem der 12-jährige Zeno den größten Wolfsbarsch seines Lebens fängt, verändert alles. Denn an diesem Tag wird bei seinem Vater eine lebensbedrohliche Krankheit diagnostiziert. Zeno muss den Sommer in Norditalien beim Großvater verbringen, den er gar nicht kennt. In dessen Geschichte spiegeln sich die Tragödien des zu Ende gehenden Jahrhunderts. Ein berührender Roman über das starke Band zwischen den Generationen und die heilende Kraft der Erinnerung.

Fabio Geda, 1972 in Turin geboren, arbeitete viele Jahre mit Jugendlichen. Sein Bestseller „Im Meer schwimmen Krokodile“, der auf einer wahren Geschichte beruht, wurde in über 30 Sprachen übersetzt und machte ihn international bekannt.
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Ein kurzer Abriss meines Lebens,
insoweit man sich überhaupt erinnern, die Vergangenheit
rekonstruieren oder imaginieren kann:
was die Erinnerung erhellt
1938–1945

Ich werde im November 1938 geboren, auch wenn mir das Recht darauf abgesprochen wird. Besser, ich würde im Bauch unserer Mutter bleiben, mich so lange wie möglich von Proteinen und Zucker ernähren, mich wieder von dem Körper aufnehmen lassen, der mich hervorgebracht hat. Aber das ist mir nicht möglich.

Unsere Mutter bringt mich unter einer tief stehenden Wintersonne zur Welt. Mit schmerzverzerrter Miene nennt sie den Namen, den sie mir geben will, den ich aber nicht bekommen werde: Yitzhak, der Lachende. Vielleicht klingt mein Lachen deshalb stets nach grünem Holz, rauchig und ohne echte Wärme: weil dieser Name an mir vorübergegangen ist.

Die Hebamme verlässt den Raum, der einst Onkel Elio gehört hat, zieht die Gummihandschuhe aus und betritt das Arbeitszimmer. Alle fahren herum und starren sie an. Großvater, der durch einen Vorhangspalt die Schiffsmanöver im Hafen beobachtet hat, tritt vom Fenster zurück. Großmutter, die in der wattierten Stille ihrer Taubheit eingenickt ist, umklammert ihr Hörrohr aus emailliertem Metallblech und hält es sich ans Ohr. Unser Vater, der sich auf den kleinsten der drei roten Samtsessel hat sinken lassen, schießt hoch wie eine Fontäne.

»Es ist ein Junge«, verkündet die Hebamme. »Sie will ihn Yitzhak nennen.«

»Yitzhak?«, sagt unser Vater.

»Yitzhak?«, wiederholt Großvater.

Großmutter schüttelt den Kopf. »Nein, nein«, sagt sie. »Wer nennt sein Kind heutzutage noch Yitzhak?«

Großvater klopft mit der Schuhspitze gegen die Fußleiste, verschränkt die Hände hinter dem Rücken und drückt das Kreuz durch. »Wir werden ihn Simone nennen.« Er wendet sich an Großmutter. Sie begreift, dass ihre Meinung gefragt ist, hält das Höhrrohr in Richtung Großvater und runzelt die Stirn. Großvater zeigt auf das Bücherregal, hinter dem sich eine Wand befindet, hinter der wiederum das Schlafzimmer liegt, in dem ihre einzige Tochter gerade ein Kind bekommen hat. »Dein Enkel. Was hältst du von Simone?«

Großmutter denkt nach, brummt etwas und nickt.

»Und du, Enrico?«, sagt Großvater zu unserem Vater.

Unser Vater hebt den Kopf, lässt sich den Namensvorschlag seines Schwiegervaters auf der Zunge zergehen. »Simone.« Er lächelt: »Ja, Simone passt gut.«

Als die Hebamme geht, betritt mein damals vierjähriger Bruder Gabriele mit einer Handpuppe das Zimmer. Unser Vater nimmt ihn auf den Arm, drückt ihn an sich. »Du hast einen Bruder. Er heißt Simone.«

Gabriele hebt die Handpuppe und sagt: »Können wir jetzt rausgehen?«

*

Vor Genua liegt das Meer, dahinter Hügel und Berge und dazwischen die engen Gassen, carrugi genannt. In der Oberstadt befindet sich die Wohnung unserer Großeltern, bestehend aus einer Küche, einem Wohn- und Arbeitsraum und mehreren Schlafzimmern. In einem davon, dem wärmsten, das nach Süden hinausgeht, steht eine Kommode, in deren Schublade ich noch ganz blau und verschmiert gelegt werde, bis wir eine Wiege haben.

Niemand hat an die Wiege gedacht.

Während Gabriele am darauffolgenden Tag meine Füße und Handgelenke beschnuppert, geht unser Vater Enrico Coifmann aufs Standesamt und wird dort bei Dottor Fabrizio Costantino vorstellig. Er muss meine Geburt anzeigen, die Nichtbewilligung meiner Existenz unterzeichnen. Die Geburtsurkunde ist ein gelbes, brüchiges Blatt Papier. Darauf steht: Simone Coifmann, Rasse: Jude. Unten rechts ist ein Fleck. Er sieht aus wie ein Kaffeefleck. Aber niemand auf diesem Amt trinkt Kaffee. Weder Dottor Fabrizio Costantino noch unser Vater noch die Sekretärin, die wild mit zwei Fingern und einem Daumen auf ihre Schreibmaschine einhackt. Nachdem er mein Todesurteil besiegelt hat, verlässt unser Vater das Standesamt und geht ins Büro, wo man ihn willkommen heißt und respektiert.

Unser Vater ist einer der bedeutendsten Chemiker der königlichen Marine. Er liebt seine Arbeit und sein Land. Die Fotos, die er stets bei sich trägt und an fremde Wände hängt, sobald er eine neue Wohnung bezogen hat, zeigen ihn auf einem Empfang oder beim Stapellauf eines Kreuzers oder U-Boots, zwischen Offizieren in Paradeuniform und eleganten Damen. Er ist häufig unterwegs, auch im Ausland. Man kennt ihn in Frankreich und in der Schweiz. Er spricht drei Sprachen: Italienisch, Englisch und Französisch. Als er noch viel gereist ist, hat ihn die Marine in staatlichen Gästehäusern oder Wohnungen untergebracht. Unsere Mutter und Gabriele sind immer mitgereist. Sie haben nie eine feste Bleibe gehabt, und unser Vater hat auch nie darum gebeten, in eine bestimmte Stadt versetzt zu werden. Er ging dorthin, wo er gebraucht wurde, tat, was man von ihm verlangte.

Erst als unsere Mutter merkte, dass sie mit mir schwanger war, überredete sie ihn, um eine Versetzung nach Genua zu bitten, wo auch ihre Eltern lebten.

»Ich möchte mein Kind nicht in einem Gästehaus zur Welt bringen«, sagte sie.

*

Eines Abends kommt unser Vater später als sonst von der Arbeit. Die Großeltern haben bereits gegessen. Gabriele liegt im Bett neben der Wiege, in der ich im Halbschlaf die Finger bewege – einfach so, ohne nach etwas zu greifen. Unsere Mutter, die auf der Matratze neben der Tür sitzt, betrachtet den selig schlummernden Gabriele. Die Flurlampe wirft ein gelbes Rechteck auf den Fußboden. In einem Korb unter der Konsole liegen jede Menge Zeitungen, die sie lieber ignoriert.

Ein Schlüssel klappert im Schloss. Die Tür öffnet und schließt sich wieder. In dem Lichtrechteck auf dem Parkett erscheint der Schatten unseres Vaters mit Hut und Aktentasche. Er verharrt kurz darin, um anschließend zu verschwinden. Ein Stuhl wird verrückt, die Garderobenschranktür geht, im Arbeitszimmer des Großvaters klappern Gläser und Flaschen. Wieder sein Schatten. Er trägt keinen Hut mehr, hat die Aktentasche abgestellt. Er kommt nicht ins Zimmer, spürt die Gegenwart unserer Mutter auf der Matratze, riecht ihren Duft nach Zimt und Anis. »Ich bin heute entlassen worden«, sagt er.

»Alle werden entlassen«, erwidert meine Mutter. »Es steht in der Zeitung.«

»Hast du Zeitung gelesen?«

»Das ist gar nicht nötig«, sagt unsere Mutter.

Minutenlanges Schweigen. Sie sehen sich nicht an, berühren sich nicht. Ich spreize die Finger vor dem Mund, so als wollte ich zählen, aber das kann ich noch nicht. Schließlich ergreift meine Mutter das Wort: »Was hast du jetzt vor?«

»Ich werde alles perfekt übergeben, damit mein Nachfolger problemlos weitermachen kann. Ich werde nicht von heute auf morgen damit aufhören, ins Büro zu gehen, falls du das meinst.«

Tag für Tag rasiert sich unser Vater, nimmt seine Aktentasche und geht zur Arbeit. Tag für Tag, bis auf Samstag und Sonntag, und das zwei Wochen lang. Er ist nicht mehr angestellt und bekommt auch kein Gehalt mehr, aber das ist ihm egal. Als es im Büro keinen einzigen Problemknoten mehr zu lösen gibt, als er die Akten durchkämmt und über das glatte Haar unserer Mutter zu streichen glaubt, klappt er seinen Kalender zu, erhebt sich von seinem Schreibtisch, schließt den Manschettenknopf, weil er den rechten Ärmel beim Schreiben bis über den Ellbogen hochzukrempeln pflegt, und gibt sämtlichen Kollegen die Hand. Dann geht er die Treppe hinunter, während die Angestellten Spalier stehen, darunter einige, die er noch nie gesehen hat und die neu eingestellt worden sind. Er durchquert zwei Stockwerke, gibt jedem von ihnen die Hand, dem Pförtner, dem Botenjungen, schlüpft dann aus dem Tor und läuft in den Sonnenuntergang hinein, so weit ihn seine Beine tragen.

Erst spätnachts kommt er nach Hause. Auf dem Küchentisch steht ein flacher Teller, der mit einem tiefen Teller abgedeckt ist. Darunter befindet sich kalt gewordenes Kalbfleisch mit Karottengemüse. Unsere Mutter ist in Gabrieles Bett eingeschlafen, der sich entspannt an sie schmiegt und eine Hand auf ihre Brust gelegt hat. Ich bin in eine bestickte Decke gewickelt und spreche mit den Schatten. Das entgeht unserem Vater nicht. Er kommt auf mich zu und streckt einen Finger in die Wiege, den ich fest umschließe.

*

Unser Vater bemüht sich, wieder Arbeit zu finden, möglichst in seiner Branche. Er versucht es bei Pharmaunternehmen. Die Personalchefs sind begeistert von seinem Lebenslauf, aber als sie seinen Pass sehen, lässt ihr anfängliches Interesse nach, und der Blick hinter ihren Brillengläsern wird stumpf.

Ein alter Freund, ein bedeutender Zulieferer der Marine, verfasst ein Empfehlungsschreiben. Es besteht nur aus wenigen, zaghaften Sätzen, aber dank dieses Schreibens bekommt er ein Vorstellungsgespräch in einer Seifenfabrik. Er stellt sich vor und wird umgehend hinausbegleitet. Sechs Tage später teilt ihm eine Kakao verarbeitende Firma unweit von Alessandria mit, die Stelle, auf die er sich beworben hat, sei bereits vergeben.

»Die Stelle wurde doch erst vor drei Tagen frei!«, sagt mein Vater.

»Tut uns leid«, heißt es nur.

Großvater besitzt eine Fischverarbeitungsfirma. Er hat keine Angst, arbeitslos zu werden, weil ihn niemand entlassen kann. Er hat bereits einige Aufträge verloren, aber seit der Verabschiedung der Rassengesetze schickt er einen Angestellten zu Verhandlungen. Er könnte unseren Vater einstellen, aber beide wissen, dass es dort nichts für ihn zu tun gibt: nichts, bei dem seine Fähigkeiten gefragt wären. Eines Tages tippelt Großmutter hastig durch den Flur und betritt...


Geda, Fabio
Fabio Geda, 1972 in Turin geboren, arbeitete viele Jahre mit Jugendlichen. Sein Bestseller „Im Meer schwimmen Krokodile“, der auf einer wahren Geschichte beruht, wurde in über 30 Sprachen übersetzt und machte ihn international bekannt.

Burkhardt, Christiane
Christiane Burkhardt lebt und arbeitet in München. Sie übersetzt aus dem Italienischen, Niederländischen und Englischen und hat neben den Werken von Paolo Cognetti u. a. Romane von Fabio Geda, Domenico Starnone, Wytske Versteeg und Pieter Webeling ins Deutsche gebracht. Darüber hinaus unterrichtet sie literarisches Übersetzen.



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