E-Book, Deutsch, 296 Seiten
Gebert Wo du nicht bist
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-86532-679-9
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nach einer wahren Begebenheit
E-Book, Deutsch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-86532-679-9
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Berlin der späten 20er Jahre arbeitet Irma Weckmüller als Verkäuferin im KaDeWe und sorgt allein für sich und ihre Schwester Martha. Doch Irmas Leben ändert sich grundlegend, als sie den charmanten Arzt Erich Bragenheim kennenlernt. Sie fühlt sich sofort zu ihm hingezogen und kann ihr Glück kaum fassen, als Erich ihre Gefühle erwidert. Zwischen den beiden entwickelt sich eine innige und tiefe Liebe. Doch mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus sind sie schon bald großer Gefahr ausgesetzt, denn Erich ist Jude.
Nach dem Krieg: Erich wurde ermordet, Irma bleibt allein zurück. Doch sie ist noch immer entschlossen, seine Frau zu werden …
Autoren/Hrsg.
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1929 »Du bist so schwer, du bist so blaß…« Dr. med. Erich Bragenheim – Frauen- und Geburtsheilkunde stand auf der Messingtafel am Haus Ku’damm 141. Martha versuchte, ihre Hand aus der ihrer älteren Schwester zu lösen, doch Irma zog sie auf den Eingangsbereich des hohen und dank der verzierten Fassade recht herrschaftlich wirkenden Gebäudes zu. Im Vorgarten standen üppige Rhododendronbüsche mit nur noch wenigen purpurfarbenen Blüten. Martha weinte. »Ich gehöre nicht hierher.« Irma holte ein Taschentuch aus ihrem Mantel und wischte ihrer Schwester die Tränen aus dem Gesicht. »Hab keine Angst, ich bin doch bei dir«, sagte sie – wie schon unzählige Male zuvor in ihrem gemeinsamen Leben. Martha lächelte gleich wieder, weil die Spitze des Taschentuches, das Irma umhäkelt hatte, sie im Gesicht kitzelte. Sie versuchte, so tapfer wie möglich die letzten Schritte in dieses Haus zu gehen. Den schweren Gang hatten sie schließlich gemeinsam beschlossen, nachdem Irma Martha klargemacht hatte, wie ihr Leben ansonsten verlaufen würde. Marthas Leben, das auch Irmas Leben war. Nichts hatte die Schwestern bisher trennen können, seit sie nach dem Tod ihrer Eltern auf sich selbst gestellt waren. Sie kamen inzwischen gut allein zurecht – Irma mit ihrer Anstellung im Kaufhaus des Westens und Martha mit der ihren als Haushälterin. Doch diese war ihr schließlich zum Verhängnis geworden. Hatte Schande über sie gebracht. Deshalb betraten sie nun dieses Haus am Kurfürstendamm. Das Haus, das nicht weit entfernt von dem lag, in dem Martha seit zwei Jahren den Haushalt für das Ehepaar Fricke führte, dem sie im Winter die Öfen in den zehn Zimmern anheizte und die Briketts zum Nachlegen aus dem Keller hoch schleppte, nachdem sie die Asche in den Tonnen im Hinterhof entleert hatte. Die Wohnung des Ehepaares, für das sie außerdem tagein, tagaus, so gut sie es vermochte, kochte, putzte und bügelte, lag am Ende des Ku’damms, fast in Halensee. Martha sah kurz auf die Wunde an ihrer Hand, die immer noch schmerzte, nachdem sie sich diese vor Wochen beim Befüllen des Bügeleisens an einer glühenden Kohle zugezogen hatte. Dann blickte sie den Kurfürstendamm hinunter, in Richtung des Hauses, in dem ihr Dienstherr Karl-Heinz Fricke mit seiner Gattin wohnte. Martha hatte Fricke sehr lange widerstanden. Zunächst, als er angefangen hatte, sie mit netten Worten zu bezirzen. Auch dann noch, als er ihr Geschenke machte, die sie laut Irma lieber nicht hätte annehmen sollen. Doch Martha hatte zuvor noch nie ein solch edles, nach Orangenblüten duftendes Seifenstück mit dem Namen Maja besessen, das in Seidenpapier mit der Abbildung einer spanischen Tänzerin eingewickelt war. Frau Fricke benutzte eine solche Seife täglich. Martha hatte jedes Mal heimlich daran gerochen, wenn sie den Toilettentisch im Badezimmer putzte. Aus dem Flakon mit dem Maja-Parfüm hatte sie sich heimlich einen Hauch an den Hals gesprüht. Bis sie sich schließlich von ihrem Hausherrn mit solch feinen Sachen beschenken ließ, auch wenn sie wusste, dass sie diese nur benutzen durfte, ohne dass ihre Schwester Irma es bemerkte. Martha war überzeugt gewesen, Karl-Heinz Fricke weiterhin auf Abstand halten zu können, solange sie nur freundlich, fleißig und dankbar für ihre Anstellung in dessen Haushalt blieb. Unternahm er einmal wieder einen seiner Annäherungsversuche, wehrte sie ihn fröhlich ab und zeigte sich danach noch fleißiger und dankbarer. Sie hatte sich längst für das Ehepaar Fricke unentbehrlich gemacht, glaubte sie. Dass Karl-Heinz Fricke eines Tages anfing, Martha in den Hintern zu kneifen oder sie gegen die Wand zu drücken, zu betatschen und ihr dabei mit seinem nach Weinbrand riechenden Atem unanständige Sachen ins Ohr zu raunen, überging sie, so gut sie es vermochte. Und sie verschwieg all das Irma. Wenn Fricke endlich von Martha abließ, rieb sie sich seine Spucke unauffällig vom Hals. Dass er sie manchmal »mein Täubchen« nannte, gefiel ihr sogar ein wenig. Und auch, dass er sie ab und an fragte: »Wäre ich der Erste für dich?« und dann flehte: »Ich wäre so gern der Erste für dich.« Dass er sie so sehr begehrte und sie sich zierte, kam Martha lange wie ein abenteuerliches Spiel vor. Wenn Herr Fricke sie an die Wand presste, nachdem er sich zur linken und zur rechten Seite des langen Flures umgesehen und sich vergewissert hatte, dass seine Gattin nicht in der Nähe war, glaubte Martha, ein Geheimnis mit diesem sehr wohlhabenden Mann zu teilen. Es war aufregend, wurde aber zunehmend anstrengender, denn Frickes Zudringlichkeiten kamen mit der Zeit immer häufiger vor. Nämlich immer dann, wenn die Hausherrin allein ausging und sich mit ihren Freundinnen zu einem Einkaufsbummel auf dem Kurfürstendamm, im Romanischen Café oder in der Conditorei Wien traf. Martha war noch nie in einem dieser berühmten Kaffeehäuser gewesen und träumte manchmal davon, dass ein vornehmer Herr sie dorthin ausführte. So einer wie Herr Fricke, nur jünger – und noch nicht vergeben. Martha fürchtete zunehmend die Annäherungsversuche ihres Dienstherren, gleichzeitig sorgte sie sich, dass er sie eines Tages unterlassen würde, weil er das Interesse an ihr verlor. Weil sie ihn nicht »ranließ«, wie er es ausdrückte. Wenn Fricke ihr deshalb kündigen würde, dann müsste sie in der Fabrik arbeiten. Dort würde sie zwar etwas mehr als bei den Herrschaften Fricke verdienen, aber die Arbeit wäre viel anstrengender und schmutziger. Kostenfreies Essen und Geschenke bekäme Martha dann auch nicht mehr. Sie wollte ihre Anstellung im Haushalt der Frickes unbedingt behalten. Martha verdiente für ihre Arbeit gute 100 Reichsmark im Monat, und das, obwohl sie niemals eine Hauswirtschaftsschule besucht hatte. Alles, was sie im Haushalt konnte, hatte ihr ihre große Schwester beigebracht. Irma, der scheinbar alles gut von der Hand ging. Irma, die eine gute Anstellung als Verkäuferin in der Stoff- und Kurzwarenabteilung im KaDeWe hatte, weil sie sich nicht nur gut mit Stoffen auskannte, sondern auch nähen konnte. Irma, die in allem so geschickt war. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte Irma den Nachbarn in der Seestraße angeboten, Näharbeiten für sie zu übernehmen. Obwohl sie fast noch ein Kind gewesen war, ersetzte sie ab dann nicht nur in dieser Angelegenheit die Mutter, die für andere aus dem Viertel genäht hatte, um zum Lohn ihres Mannes ein kleines Zubrot für die Familie dazuzuverdienen. Inzwischen nähte Irma nach Feierabend sogar Röcke und Kragen oder umhäkelte Taschentücher mit feinen Spitzen in pastellfarbenen Tönen. Und dies nicht mehr nur für Leute aus dem Viertel, in dem Martha und Irma lebten, sondern auch aus feineren Gegenden. Dabei kam Irma zugute, dass ihr Vorgesetzter im KaDeWe ihr manchmal erlaubte, Stoffreste mit nach Hause zu nehmen, ohne dass er dafür einen Pfennig verlangte. Diese vernähte Irma dann als hübsche Flicken auf verschlissenen Kleidern, Röcken, Hosen oder Schürzen. Manchmal waren unter den Stoffresten auch ziemlich große Stücke dabei, aus denen sie etwas Neues wie Servietten oder Einstecktücher anfertigen und verkaufen konnte. Martha fragte sich insgeheim, weshalb ihre Schwester von ihrem Chef im KaDeWe beschenkt wurde. Aus dem gleichen Grund, aus dem Herr Fricke Martha beschenkte? Weil er sich Hoffnungen bei Irma machte? Hatte Irma ihm vielleicht auch nachgegeben und war einfach nur besser davongekommen als Martha? Mal wieder. Irma gelang ja immer alles besser als ihr. So konnte sie ohne Vorlage Monogramme in Tischtücher und Servietten einsticken, wenn Leute sich solche als Geschenke zu Taufen oder Hochzeiten wünschten. Martha kam sich dagegen oft wie ein Taugenichts vor. Wie häufig hatte sie sich in der Schule von Lehrern anhören müssen: »Nimm dir ein Beispiel an deiner großen Schwester!« Und wie sehr hatte sie das gehasst. Doch sie war sich dessen bewusst, dass sie kaum etwas so gut konnte wie Irma. Oder so gut wie andere Nachbarn im Viertel, die vielen Leute, die hier nach Feierabend fleißig hämmerten, sägten, schraubten, bastelten oder reparierten. Deren Arbeitslärm bis in die späten Abendstunden aus den Kellern und vom Hof durch die Fenster sämtlicher umliegender Wohnungen drang. Erst, wenn das Licht fürs Handwerken nicht mehr ausreichte, kehrte in der Straße und in den Höfen langsam Ruhe ein. Ansonsten war es meistens nur an den Sonntagen etwas stiller. Irma nähte allerdings auch sonntags. Niemand bemerkte es, denn die Nähmaschine ratterte nur leise in der Wohnung. Durch Irmas Zuverdienst hatten die Schwestern ein gutes Auskommen und vielleicht bald so viel Geld, dass sie umziehen könnten. Raus aus der Wohnung im Hinterhaus, wo sie sich mit sechs anderen Mietparteien eine Toilette im Treppenhaus teilten. Hinein ins Vorderhaus, in dem die Toiletten schon innerhalb der Wohnungen lagen. Doch dieser Traum würde sich nur dann erfüllen, wenn Martha es jetzt wagte, das Haus mit dem Messingschild Dr. med. Erich Bragenheim – Frauen- und Geburtsheilkunde zu betreten. Sie ließ sich von Irma hineinziehen. Auf der hellgrauen Marmortreppe hinauf zur Praxis des Frauenarztes lag ein weinroter Läufer, der Stufe für Stufe mit blanken Messingstäben befestigt war. Ein schmaler Fahrstuhl mit einer Tür aus kunstschmiedeeisernem Gitter, welches Irma an eine der dreizehn Fahrstuhltüren im KaDeWe erinnerte, führte hinauf in weitere Stockwerke, in denen Etagenwohnungen lagen, die vermutlich noch mehr als die zehn Zimmer der Fricke-Wohnung umfassten. Als Martha erneut die Tränen kamen, drückte Irma sie behutsam auf eine der Stufen auf dem Treppenabsatz hinter dem Fahrstuhl und reichte ihr das Spitzentaschentuch. »Nun wein...