Gebert | Besuchsreise | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 250 Seiten

Gebert Besuchsreise


1. Auflage 2007
ISBN: 978-3-86474-018-3
Verlag: Virulent
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 250 Seiten

ISBN: 978-3-86474-018-3
Verlag: Virulent
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Caro, 37 Jahre alt, besucht zu Weihnachten ihre Eltern nach vielen Jahren Funkstille in der ehemaligen DDR. Sie selbst war als Jugendliche in den Westen geflohen. Sie wollte die Welt sehen und nutzte eine einzige Japan-Reise spontan zur Flucht. Für ihre zurückgelassenen Eltern bedeutete dies eine Katastrophe: Einschränkungen und Ausgrenzungen standen an der Tagesordnung. Dies hat der Vater seiner Tochter nie verziehen. Die Wende liegt schon vierzehn Jahre zurück und nichts ist mehr, wie es einmal war: Die Eltern scheinen der erfolgreichen Fotografin fremd. Es sollte doch ein Fest voller Harmonie werden, doch alte Konflikte und Misstrauen werden lebendig. Als ein unerwarteter Besucher auftaucht, kommen die Geheimnisse der Vergangenheit endgültig zur Sprache.

Gebert Besuchsreise jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Im Alter von sieben Jahren hatte Caro häufig denselben Traum: Sie saß inmitten großer Apfelsinenberge. Sie aß und aß. Die Apfelsinen wurden nicht weniger – ähnlich wie im Märchen vom Grießbrei. Wenn Caro aufwachte, war der Geruch der Apfelsinen noch da. Sie sah sich in ihrem Kinderzimmer um. Enttäuscht. Nirgends Apfelsinen. Auch unter dem Bett keine einzige. Auf dem Nachttisch lag ein angebissener Apfel. Sie nahm ihn in die Hand und legte ihn wieder weg. Bis Weihnachten waren es noch zweiundfünfzig Tage. Dann jedoch würde eine Apfelsine auf Caros buntem Teller liegen, die vom Vater würde sie gegen ihr Marzipan eintauschen und die Apfelsine der Mutter gegen Lakritz ... Achtundvierzig Tage vor Weihnachten saß Caro auf ihrer Schulbank und holte die Brotdose aus ihrem Ranzen. Die Mitschüler und der Lehrer hatten sich schon nach draußen zur Hofpause begeben. Als Caro den Ranzen wieder unter die Bank schob, entdeckte sie auf dem Fußboden eine Apfelsine. Lange starrte sie die Frucht an, hob sie dann eilig auf und steckte sie in ihre Schultasche. »Das werde ich melden!«, hörte sie plötzlich den dicken Tutti sagen. Tutti saß in der letzten Reihe und wollte immer ihr Freund sein. Caro fiel nichts ein, was sie ihm hätte entgegnen können. Langsam ging sie hinaus auf den Schulhof und verbrachte die Pause allein am Zaun. Die Spiele der anderen interessierten sie an diesem Tag nicht. Wenn Tutti etwas sagte und es herauskäme, dass Caro ... Aber auf sie würde sicherlich niemand kommen. Und wenn doch? Die Vorstellung, die Apfelsine essen zu können, war berauschend und lähmend. Als die nächste Stunde begann, stand Cornelia, die Mitschülerin, die bei jeder Kleinigkeit heulte, vorn. Der Lehrer legte seine Hand auf deren Kopf. »Kinder, Cornelia hatte heute eine Apfelsine im Ranzen, und das, obwohl wir doch gemeinsam besprochen hatten, dass ihr keine Sachen aus der BRD mit in die Schule bringen dürft. Nun ist genau das eingetreten, was wir durch diese Maßnahme verhindern wollten: Connis Apfelsine ist spurlos verschwunden. Wer sie gestohlen hat, sollte sich jetzt freiwillig melden.« Das Gefühl in Caros Magen war, als würde sie mit der Achterbahn fahren. Sie wollte sich melden, doch ihre Arme lagen wie gelähmt auf dem Schoß. Die Hände wurden feucht und verkrampften sich ineinander. Unauffällig sah sie sich zu Tutti um. Der grinste sie an, verriet sie jedoch nicht. Du wirst trotzdem nicht mein Freund, dachte Caro. Herr Schulz ging durch die Bankreihen und betrachtete die ihm verdächtigen Kandidaten. »Ja, dann muss ich eben Ranzenkontrollen vornehmen.« In diesem Moment glaubte Caro, dass man tatsächlich vor Angst sterben könne. Sie hob den Arm nicht. Ihr Schulranzen war als letzter an der Reihe. Als der Lehrer ihn öffnete, setzte sie sich auf ihre Hände, weil diese so stark zitterten. Alles lief wie in einem Stummfilm ab: Herr Schulz, der die Apfelsine hochhob, seine Rede, die entsetzten Augen der Mitschüler, Conni, die sich erleichtert die Tränen im Gesicht verschmierte, Tutti, der ihr in den Rücken grinste. Erst, als der Lehrer Caro aus der Bank zerrte, begann sie zu weinen. Am Abend saß Herr Schulz im Wohnzimmer ihrer Eltern. Caro lag nebenan im Bett, träumte ihren orangefarbenen Traum. Und bis Weihnachten waren es noch siebenundvierzig Tage ... In den dreißig Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte Caro gelernt, dass der Tag, auf den sie sich so sehr freute, nicht Weihnachten hieß, sondern Heilig Abend. Caro hatte inzwischen ebenfalls gelernt, dass man Apfelsinen Orangen nannte. Nachdem sie 1987 in den Westen »abgehauen« war, hatte sie wochenlang so viele Orangen gegessen, dass ihr Gaumen von der Säure entzündet und die Mundwinkel eingerissen waren. Caro beugte sich nach vorn über das Lenkrad und betrachtete ungläubig die ersten Schneeflocken, die in diesem Jahr fielen. Sie blieben für einen Moment auf der Windschutzscheibe ihres Autos haften, bevor sie zerschmolzen. Im Magen spürte Caro Nervosität, beinahe so wie damals, als sie sich schuldig gemacht hatte. Sie war auf dem Weg zu ihren Eltern. In zwei Stunden würde sie zu Hause sein. Schnee. Ihr Zauberspruch funktionierte also noch. Caro hatte Schnee »bestellt«. Wie früher als Kind, hatte sie sich am gestrigen Abend an das Fenster des Schlafzimmers ihrer Berliner Wohnung gestellt, die Augen geschlossen und sich auf ihren Wunsch konzentriert. Caro lehnte sich lächelnd zurück. Vielleicht hatte sie tatsächlich übernatürliche Fähigkeiten und sollte lieber damit ihren Lebensunterhalt verdienen? Bis kurz vor ihrer heutigen Abreise hatte sie viel gearbeitet. Einzelne Leute fotografiert, Paare, Familien, Kinder, Hunde. Die Menschen liebten es, ihre auf Hochglanzpapier festgehaltenen Antlitze zu Weihnachten zu verschenken. Nach den Feiertagen würde Caro vermutlich vergeblich auf Kunden warten. Gleichgültig. In zwei Tagen war Heilig Abend. Bescherung. Weihnachten. Sie war aufgeregt, seit sie die Einladung der Mutter erhalten hatte. »Kind, dein Vater und ich würden es schön finden, wenn du uns in diesem Jahr über die Feiertage besuchen würdest. Wir werden es uns dann gemütlich machen ...« So oder so ähnlich hatte die Mutter es am Telefon gesagt. Caro freute sich darauf, die Weihnachtstage bei ihren Eltern zu verbringen, darauf, sich zu regelmäßigen Mahlzeiten von der Mutter bewirten zu lassen, auszuschlafen, lange Spaziergänge am Baggersee zu machen, gemeinsam mit dem Vater im Wald den Weihnachtsbaum zu schlagen und währenddessen endlich zu klären, was seit langem geklärt werden musste. Sie freute sich darauf, mit der Mutter in der Küche heimlich eine Zigarette zu rauchen und sich Tratsch über Dorfnachbarn, an die sich Caro kaum noch erinnern konnte, anzuhören, den Baum zu schmücken und wie früher mit Vater »zwischen Frühstück und Gänsebraten« Unterhaltungssendungen im Fernsehen anzusehen. Wann hatten ihre Eltern und sie dies alles zuletzt gemeinsam getan? Caro verachtete Rituale dieser Art, und sie liebte sie. Caro verlangsamte die Geschwindigkeit. Der Schnee fiel dichter, sein Weiß verzögerte den Einbruch der Dunkelheit. Sie betätigte den Sendersuchlauf ihres Radios. Bro’Sis, Shakira, Eminem, ein Knabenchor singt: »Morgen, Kinder, wird’s was geben«, Robbie Williams und Nicole Kidman: »Something Stupid«. Wenn es wenigstens das Original von Frank Sinatra und seiner Tochter Nancy wäre, dachte Caro und schaltete das Radio aus. Noch eintausend Meter bis zur nächsten Raststätte. Sie sollte dort noch Halt machen, um nicht früher als vereinbart bei ihren Eltern einzutreffen. Sie tankte Benzin nach, bevor sie auf den Eingang der Raststätte zuging, an dem ein lebensgroßer und mit dem Hintern wackelnder Plastikweihnachtsmann »Hallo« sagte. Schneeflocken verfingen sich in Caros Wimpern, sie streckte die Zunge heraus, um den Winter zu schmecken. Erst jetzt fiel ihr durch den im Hintergrund stehenden Plattenbau auf, dass sie an einer Raststätte Halt gemacht hatte, die sich früher im DDR-Grenzgebiet befand. Außer diesem noch nicht renovierten Neubaublock und der weiten, leeren und zum großen Teil betonierten Fläche erinnerte nichts mehr daran, dass man hier noch vor vierzehn Jahren nicht weiter – weg aus der Heimat oder zurück in die Heimat – kam. Caro machte kehrt, um ihre Fototasche aus dem Auto zu holen. Doch dann überlegte sie es sich anders, denn das, was sie eher vor Dieben schützen musste, lag im Kofferraum: das Geschenk für ihren Vater. Caro hatte sich dafür verschuldet, es am bevorstehenden Heilig Abend überreichen zu können. Ihr Vater würde sprachlos vor Freude sein, das wusste sie, und danach würde endlich alles wieder gut und so wie früher sein – zwischen ihm und ihr. In der Raststätte saßen ein paar Familien mit kleinen Kindern. Caro kaufte ein Fläschchen Wodka, das sie noch an der Kasse in ihrer Tasche verstaute, einen Becher Kaffee und Zigaretten. Sie fand einen Platz am Fenster, von dem aus sie ihr Auto beobachten konnte. An der Wand war ein Fernsehapparat angebracht, der ohne Ton lief. Bilder des Jahres: Hochwasserkatastrophe, Kanzlerduell, Geiseldrama von Moskau – im Zeitraffer. Caro wendete sich ab, steckte sich eine Zigarette an und holte das Fläschchen Wodka hervor, aus dem sie einen Schluck in den Kaffee goss. Normalerweise rauchte sie nicht. Wenn doch, dann schmeckten Zigaretten ihr nur in Verbindung mit Alkohol, und sie musste heute etwas trinken, denn heute war ein aufregender Tag. Caro sah zu ihrem Auto, in dem die Fototasche lag. Sie hatte lange überlegt, ob sie sie überhaupt mitnehmen sollte, denn eigentlich hasste sie es, Familienmitglieder vor Tannenbäumen zu fotografieren, doch sie wusste auch, wie sehr sie ihre Mutter damit erfreuen konnte. Zu jedem größeren Anlass legte die Mutter ein neues Fotoalbum an. Zu DDR-Zeiten inszenierte sie bereits Wochen vor dem Fest weihnachtliches Ambiente. Die Mitglieder der Familie Wendland mussten sich dafür festlich kleiden. Selbstauslöser gab es damals noch nicht, also wurde reihum fotografiert: Mutter – Vater – Anja; Mutter – Vater – Caro; Vater – Anja – Caro; Mutter – Caro – Anja. Von den beiden Töchtern, Anja – Caro, wurden immer ein paar Extrafotos gemacht. Diese Aufnahmen eigneten sich hervorragend als Weihnachtspräsente, mit denen man die Westverwandten erfreuen konnte. Diese dankten es mit Westpaketen. (Die Wunschlisten dafür schickten die Wendlands spätestens Anfang November raus.) Die Mutter achtete bei ihren Inszenierungen darauf, dass nicht zu viele der jeweiligen neuesten materiellen Errungenschaften auf den Fotos zu sehen waren, wie zum Beispiel das Porzellan aus der Königlichen Porzellan Manufaktur, das...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.