Gavalda Nur wer fällt, lernt fliegen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24683-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-446-24683-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anna Gavalda, 1970 geboren, ist eine der erfolgreichsten französischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Sie studierte Literatur in Paris und arbeitete als Lehrerin, bis sie mit ihrem ersten Buch schlagartig berühmt wurde. Bei Hanser erschienen Ich wünsche mir, daß irgendwo jemand auf mich wartet (Erzählungen, 2002), Ich habe sie geliebt (Roman, 2003), Zusammen ist man weniger allein (Roman, 2005), der auch als Verfilmung ein großes Publikum in ganz Europa erreichte, Alles Glück kommt nie (Roman, 2008), Ein geschenkter Tag (2010), Nur wer fällt, lernt fliegen (Roman, 2014) und Ab morgen wird alles anders (Erzählungen, 2017).
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Wir sahen einander böse an. Er, weil er vermutlich dachte, ich sei an allem schuld, und ich, weil das kein Grund war, mich so anzuschauen. Dummheiten hatte ich, seit wir uns kannten, schon dermaßen viele gemacht, und er hatte so dermaßen davon profitiert, hatte sich dermaßen darüber amüsiert, dass es von seiner Seite aus jetzt kleinlich war, mir ausgerechnet die hier vorzuwerfen, nur weil sie vielleicht ein böses Ende nehmen würde …
Scheiße, wie hätte ich das auch ahnen können?
Ich heulte.
»Und? Hast du jetzt wenigstens Schuldgefühle?«, murmelte er und schloss die Augen. »Ach was. Bin ich blöd. Du und Schuldgefühle …«
Er war zu k.o., um mir ernsthaft böse zu sein. Und außerdem nützte das niemandem. In dem Punkt wären wir uns immer einig. Ich und Schuldgefühle, ich weiß nicht mal, wie man das schreibt …
Wir befanden uns in einer Felsspalte oder wie auch immer dieser Mist in Erdkunde hieß. Eine Art … tektonischer Verschiebung im Nationalpark der Cevennen, wo es keinen Handyempfang gab, wo nicht mal der Schwanz eines Schafs zu sehen war – geschweige denn, der eines Schäfers – und wo niemand uns finden würde. Ich hatte mir zwar den Arm demoliert, aber den konnte ich noch bewegen, während er sich, das war klar zu erkennen, komplett zerlegt hatte.
Ich wusste schon, dass er einiges einstecken konnte, aber diesmal überraschte er mich echt.
Einmal mehr.
Er lag auf dem Rücken. Anfangs hatte ich versucht, ihm aus meinen Schuhen ein Kopfkissen zu basteln, aber kaum hob ich seinen Kopf an, schien er fast ins Nirwana zu sinken, also legte ich ihn sofort wieder ab und fasste ihn nicht mehr an. Das war übrigens das einzige Mal, dass er ausgerastet ist, er dachte, sein Rückenmark hätte was abgekriegt, und die Vorstellung, wie ziemlich beste Freunde zu enden, hat ihn dermaßen entsetzt, dass er mich endlos zugelabert hat, ich sollte ihn doch in diesem Loch zurücklassen oder sein Leben beenden.
Hm. Da ich nichts bei der Hand hatte, um ihn anständig abzumurksen, haben wir lieber Doktorspielchen gemacht.
Leider, leider hatten wir zwei uns nicht früh genug kennengelernt, um sie heimlich zu machen, aber wir waren sicher nicht die letzten im Wartezimmer … Als ich das sagte, musste er lachen, und das war gut so, weil, das war alles, was ich mitnehmen wollte, in die Hölle auf dieser oder auf der anderen Seite: ein kleines Lächeln, wenn auch totgeboren und auf die Schnelle mit der Geburtszange herausgezogen, wie dieses hier.
Auf den Rest konnte ich gut und gern verzichten …
Ich kniff ihn überall und zunehmend fester. Wenn es ihm wehtat, strahlte ich. Es war der Beweis dafür, dass sein Gehirn noch voll funktionsfähig war und ich ihn nicht im Rollstuhl zum heiligen Petrus schieben musste. Ansonsten, auch kein Problem, ich wäre ganz klar bereit, ihm den Schädel einzuschlagen. Dafür liebte ich ihn genug.
»Na also, geht doch … du quiekst ja ständig, das heißt, es ist noch alles dran, oder? Meiner Meinung nach hast du dir das Bein gebrochen und vielleicht noch die Hüfte oder das Becken. Na ja, irgendwas in der Richtung …«
»Mhmm …«
Er war nicht überzeugt. Etwas bedrückte ihn, ganz klar. Ich war alles andere als glaubwürdig, ohne meinen weißen Kittel und mein Stethosdingsbums um den Hals. Stirnrunzelnd betrachtete er den Himmel und jammerte leise vor sich hin.
Die Leier kannte ich, in allen Nuancen, und mir war klar, dass ich ihm noch was schuldig war.
Das war das Stichwort …
»Nee, Francky-Boy, nee … ich glaub’s nicht, das kann nicht wahr sein … Du willst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich mir an deinem Ding zu schaffen mache?«
»…«
»Doch?«
Ich merkte ganz genau, wie er mit aller Kraft versuchte, den Sterbenden zu mimen, aber ich, für mich war das kein Problem des Anstands. Eher der Effizienz. Die Situation war ernst, und ich konnte ihn jetzt unmöglich im Stich lassen, nur weil ich nicht sein Fall war …
»He. Es ist ja nicht so, dass ich nicht will. Aber alles, was recht ist …«
Ich kam mir vor wie Jack Lemmon in der Schlussszene von Manche mögens heiß. Genau wie ihm gingen mir die Argumente aus, und ich musste alles auffahren, was ich an Munition zur Verfügung hatte, damit man aufhörte, mir auf den Wecker zu gehen:
»Ich bin ein Mädchen, Franck …«
Und wissen Sie was, wenn ich in diesem Moment … genau in diesem Moment einen tiefschürfenden Vortrag über die Freundschaft halten müsste, so einen Aufriss mit schematischen Zeichnungen, Diashow, kleinen Wasserflaschen und dem üblichen Drum und Dran, um zu erklären, woher sie kommt, woraus sie besteht und wie man sich vor Fälschungen schützt, würde ich an dieser Stelle das Bild anhalten und mit meinem Pointer auf seine Antwort zeigen.
Diese drei geflüsterten Worte, superfies und superfreundlich, mit einem irre schlecht imitierten Lächeln für jemand, der nicht mal wusste, ob er leben oder sterben oder weiterhin Schmerzen haben würde, aber ohne je wieder vögeln zu können:
»Well … Nobody’s perfect …«
Ja, in diesem Moment wäre ich ausnahmsweise mal die Selbstsicherheit in Person, und Pech für den, der den Film nicht gesehen hat, der nichts vom Kino versteht und daher nie einen wahren Freund von einem armseligen Transvestiten wird unterscheiden können, für den kann ich nichts tun.
Aber weil er es war, weil ich es war und weil es uns immer noch gelang, gemeinsam zu fliegen und uns in einem derart jämmerlichen Augenblick in der Luft zu treffen, stieg ich mit einem Bein über ihn hinweg und legte meinen gesunden Arm auf seinen Unterleib.
Ich berührte ihn nur ganz leicht.
»Hör mal, Alte«, grunzte er nach einer kurzen Pause, »ich verlange ja nicht die ganz große Nummer von dir … Du brauchst ihn nur einmal kurz zu berühren, danach verlieren wir kein Wort mehr darüber.«
»Ich trau mich nicht …«
Er stieß einen tiefen Seufzer aus.
Ich konnte seine Enttäuschung ja verstehen. Wir hatten zusammen Situationen erlebt, die weitaus peinlicher und für mich alles andere als schmeichelhaft gewesen waren, und ich hatte ihn mit so vielen wilden, so vielen heftigen, so vielen brenzligen Geschichten gequält, darum war ich jetzt überhaupt nicht glaubwürdig.
Ü-ber-haupt nicht!
Aber es war auch keine Show … Ich traute mich nicht.
Man kann im Voraus schlicht nicht wissen, was sich als unberührbar herausstellt. Die Hand noch in der Schwebe wurde mir plötzlich klar, dass eine ganze Welt zwischen meinen sexuellen Abenteuern und seinem Strulli lag. Wenn es sein musste, würde ich jeden Schwanz befummeln, nur seinen nicht, nein, seinen nicht, und diese Lektion erteilte ich mir ausnahmsweise ganz allein.
Ich hatte schon immer gewusst, dass ich ihn furchtbar gernhatte, aber bisher hatte ich noch keine Gelegenheit gehabt herauszufinden, wie sehr ich ihn respektierte, tja, und da lag sie nun vor mir, die Antwort: ein paar Millimeter entfernt …
Mein unendliches Schamgefühl. Unser Schamgefühl.
Ich wusste natürlich, dass ich mich nicht lange von diesen unschuldsengelgleichen Anwandlungen zurückhalten lassen würde, aber erst mal war ich total verblüfft. Im Ernst, ich war vollkommen von den Socken, dass ich so zart besaitet war. Verschüchtert, ängstlich, fast neojungfräulich! Wie Weihnachten.
Okay. Weiter geht’s. Schluss mit dem Gelaber. An die Arbeit, du Jungfrau …
Damit er sich entspannte, trommelte ich mit den Fingern in der Nähe seines Nabels herum und sang: »Alle meine Entchen schwimmen auf dem See, Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen in die Höh«, aber das hat ihn nicht sonderlich entspannt. Anschließend legte ich mich neben ihn, schloss die Augen, legte meine Lippen auf seinen … Gehörgang, konzentrierte mich und flüsterte ganz leise, nein, noch viel leiser, wobei ich ihm Speichelbläschen ins Ohr blies und nervtötende Quieklaute produzierte, seine schlimmsten oder besten und geheimsten Phantasievorstellungen oder was ich dafür hielt ins Ohr, während ich mit einem geistesabwesenden, faulen, unmotivierten … okay, sagen wir es ruhig, geilen Fingernagel das U seiner Reißverschlussnähte nachfuhr.
Die Härchen in seinen Ohren zogen sich entsetzt zusammen, und meine Ehre war wiederhergestellt.
Er fluchte. Er lächelte. Er lachte. Er faselte dummes Zeug. Er sagte, hör auf. Er sagte, du bist doof. Er sagte, ist das schön. Er sagte, willst du wohl damit aufhören! Er sagte, ich hasse dich, er sagte, du bist toll.
Aber das alles war lange her. Als er noch die Kraft hatte, vollständige Sätze zu sagen, und ich im Traum nicht daran dachte, dass ich noch mit ihm heulen würde.
Jetzt wurde es dunkel, mir war kalt, ich hatte Hunger, ich war kurz vorm Verdursten und befand mich am Rande eines Nervenzusammenbruchs, weil ich nicht wollte, dass er litt. Und wenn ich nur ein bisschen ehrlich wäre, würde ich noch hinzufügen »und das durch meine Schuld«.
Aber ich bin nicht ehrlich.
Ich saß neben ihm, lehnte an einem Felsen und welkte vor mich hin.
Vor lauter Gewissensbissen fielen mir die Blätter aus.
Unter Aufbietung all seiner Kräfte, was ich kaum noch für möglich gehalten hätte, löste er den Arm von seinem Körper und berührte mit der Hand mein Knie. Ich legte meine Hand auf seine und fühlte mich noch schwächer.
Es gefiel mir gar nicht, wenn er mir auf die sentimentale Art kam, der Aasgeier. Das war nicht fair.
Nach einer Weile fragte...