Gauß | Zwanzig Lewa oder tot | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Gauß Zwanzig Lewa oder tot

Vier Reisen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-552-05852-1
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Vier Reisen

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-552-05852-1
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Karl-Markus Gauß ist wieder auf Reisen gegangen, in Osteuropa und auf dem Balkan. In Moldawien, dem ärmsten Staat des Kontinents, hat er sich mit der „moldawischen Sehnsucht“ infiziert, der Sympathie für Land und Leute. In Bulgarien erkundet er ein anderes Land als jenes, von dem uns immer wieder schlechte politische Nachrichten erreichen. Und in Zagreb entdeckt er das Wechselspiel von Erinnern und Vergessen, das die nationale Kultur von Kroatien prägt. In der Vojvodina schließlich, einst ein Europa im Kleinen, begibt er sich auf die Spur seiner donauschwäbischen Mutter. Kenntnisreich vereint Gauß Reportage, Geschichte und Autobiographie zu Reiseliteratur, wie sie kein anderer zu schreiben weiß.

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1
Seitdem ich wieder zuhause war, gingen mir die Helden und Gespenster von Chi?inau nicht aus dem Kopf. Fast widerwillig war ich in diese Stadt gefahren, an der mich nur reizte, dass niemand, den ich kannte, schon dort gewesen war; doch ungern hatte ich sie wieder verlassen, als wäre ich mit ihr, die mich so herzlich aufgenommen hatte, noch lange nicht fertig. Jetzt wuchs etwas in mir, das ich meine moldawische Sehnsucht nannte. In der südlichen Altstadt, einem Viertel mit brüchigen, doch schnurgeraden Straßen, die einander in rechtem Winkel schnitten, stand an der Strada Kogalniceanu ein großes Haus, in dem die Fakultät für fremde Sprachen und Literaturen untergebracht war. Hier hatte ich einen Vormittag lang auf der Tagung der Deutschlehrer Moldawiens gesprochen, über mich und die paar Texte, die ich ihnen vorgelesen hatte, und über sie, ihre Stadt und die wenigen Ansprüche, die sie sich noch nicht hatten austreiben lassen. Schräg gegenüber befand sich in einem eingezäunten Garten die weißrussische Botschaft, die von einem strammstehenden Soldaten bewacht wurde. Als ich morgens nach der Fakultät Ausschau hielt, fragte ich ihn, einen Bauernburschen, den man in Uniform gesteckt und das reglose Stehen gelehrt hatte, wo sich die Universität befände. Mit unmerklichem Heben der Augenbrauen hatte er mir die Richtung gewiesen und gelächelt, als ich aus meinem kleinen, nur für diese Reise angelegten Vorrat an rumänischen Wendungen ein paar Dankesworte herausholte, gelächelt auf die kaum wahrnehmbare Weise eines Menschen, dem das Lächeln dienstlich verboten und das ungerührte Starren befohlen war. Die Deutschlehrer Moldawiens erwiesen sich ausnahmslos als Deutschlehrerinnen, weil der schlechtbezahlte Beruf des Lehrers auch in Moldawien Frauensache geworden war und sich die Männer, die ihn einst ergriffen hatten, längst auf nach Deutschland, Österreich oder sonst wohin gemacht hatten. Die fünfzig, sechzig Frauen, die auf Schultischen im Halbkreis vor mir saßen, kamen nach den ersten, pflichtgemäß fachlichen Fragen bald auf lebenspraktische Themen und wollten wissen, ob ich Kinder hatte und meiner Frau bei der Erziehung und Hausarbeit half, ob ich trank oder regelmäßig arbeitete, wann ich morgens aufstand und abends nachhause kam, ob ich an Gott glaubte. Mit unserem Gespräch ging die dreitägige Veranstaltung zu Ende, und die Teilnehmerinnen mussten sich mit ihren zur Lesung bereits mitgebrachten Koffern noch zum Busbahnhof in der Nähe des Pia?a Centrala begeben, eines riesigen, dichtgedrängten Marktes, von wo die Busse sie nachhause bringen würden, nach Bal?i oder Soroca im Norden oder südwärts nach Comrat, Basarabeasca, Cahul. Die Hauptstadt liegt beiläufig in der Mitte des kleinen, schmalen Landes, das zu durchqueren viel länger dauerte, als es die Land- und Straßenkarten vermuten ließen, sodass einige der Frauen noch Stunden unterwegs sein würden. Vier waren sogar aus dem abtrünnigen Transnistrien angereist, jenem Streifen Landes jenseits des Flusses Dnister, den der moldawische Staat noch als sein Territorium betrachtete, während es, auch nach dem Willen seiner meisten Bewohner, doch längst eine russische Exklave geworden war. Aber sogar dorthin fuhren die großen Überlandbusse, die im ganzen Land unterwegs waren, wie auch die in die Tausenden gehenden Kleinbusse für vierzehn, sechzehn Leute, die keinen geregelten Fahrplan hatten, keine fixen Haltestellen, und von denen doch jeder wusste, wo sie per Handzeichen angehalten werden konnten und wohin sie einen brachten. Diejenigen, die Russisch sprachen, nannten sie Marschrutka, die Rumänisch sprachen, nannten sie Rutiera, aber sie alle, Russen und Rumänen und wer sonst noch, der in diesem Land lebte, Bulgaren, Gagausen, Roma, Ukrainer, brauchten diese Kleinbusse, die günstige Tarife hatten und selbst die abgelegenen Dörfer anfuhren. Müde vom Reden und von der Verabschiedung, bei der mir nacheinander alle Frauen die Hand schüttelten, ihren Namen, ihre Funktion und die Stadt nannten, in der sie lebten und unterrichteten, verließ ich gegen 14 Uhr die Fakultät, und mein Blick fiel auf den Soldaten, der auf der anderen Straßenseite immer noch reglos seinen Wachdienst versah. Als ich an ihm vorbeiging, gewärtig, ihn meinerseits nur mit einem angedeuteten Nicken zu grüßen, sah ich, dass ich ausgerechnet hier, in Chi?inau, in der holprigen, von einstöckigen Häusern gesäumten Strada Kogalniceanu, die nach einem mutig die Menschenrechte verfechtenden Gelehrten des 19. Jahrhunderts benannt war, ein Weltwunder bestaunen durfte. Was ich sah, konnte es gar nicht geben, und doch stand ich davor: vor einem Menschen, der im Stehen schlief. Mediziner sagen, dass beim schlafenden Menschen die Muskeln erschlaffen, sodass, wer steht und einschliefe, hinfallen würde; selbst die Pferde, Elefanten und Kühe, von denen man lange annahm, sie würden stehend schlafen, dösen in Wahrheit vor sich hin, um wirklich zu schlafen, müssen auch sie sich niederlegen. Nur die Eule und ein paar andere Vögel schlafen tatsächlich im Stehen, der Flamingo kann es sogar auf einem Bein. Dieser Soldat aber schlief, zweifellos, er hatte die Augen geschlossen, atmete langsam und tief und hielt doch vorschriftsmäßig das Gewehr schräg vor der Brust, er schlief fest und stand fest auf zwei Beinen, und fallen würde er nur, wenn ihn jetzt jemand anredete oder stupste. Er war einer meiner namenlosen Helden von Chi?inau, auf die ich in jenem April 2015 traf, als ich zum ersten Mal nach Moldawien kam. Eingeladen, ein paar Vorträge und Lesungen zu halten, blieb ich dann zwei Wochen, um mich in der Stadt und auf dem Land umzuschauen. Der Namen des Landes, »Republica Moldova«, wird gewohnheitsmäßig falsch übersetzt, wenn man daraus jenes Moldawien macht, das sprachlich auf die Zeit zurückgeht, da es noch die »Moldavsjka Sovetskaja Socialisticeskaja Republica« als Teil der Sowjetunion gegeben hat. Im Deutschen freilich ist die Moldau bereits als Fluss in Böhmen bekannt, sodass es dauern wird, bis wir uns vom alten Moldawien auf jene Moldau eingehört haben werden, die heute als offizielle Übersetzung des Staatsnamens gilt. Wie die meisten Städte erkundet man auch Chi?inau am besten zu Fuß, aber es strengte mich an, weil ich dauernd auf den Boden achten musste, so rissig und uneben waren die mit tiefen Löchern durchsetzten Gehsteige. Als ich einmal nicht mehr weiterkonnte, fragte ich einen vierschrötigen Herrn, der außerhalb des Zentrums an seinem kotbespritzten grünen Taxi lehnte, ob ich ihn für eine kleine Stadtrundfahrt verpflichten könnte. Er wirkte verblüfft und blickte mich zweifelnd an, als erwartete er, dass ich mein Ansinnen gleich selbst als Scherz kenntlich machen würde, aber dann war er mit Begeisterung bei der Sache. Er war ein paar Jahre älter als ich, seine Gesichtshaut war großporig, und die fleischige Nase wucherte offenbar schon seit Jahren schorfig entzündet dahin. Viel zu schnell fuhr er über die Boulevards, deutete nach links und rechts und erklärte in einem Deutsch, von dem er sagte, dass er es als Bauarbeiter in Holland erlernt habe, was es mit den Gebäuden auf sich hatte, an denen wir vorbeibrausten. Auf das Zentrum von Chi?inau führen aus allen Richtungen mehrspurige Boulevards zu, die die Innere Stadt mit den großen Wohnsiedlungen verbinden, welche ringsum auf die Hügel gebaut sind und zwischen denen sich ausgedehnte Parks erstrecken. Diese großzügige Struktur verdankt Chi?inau, das als »schönste Stadt des Stalinismus« gerühmt wurde, dem planvollen Wiederaufbau nach 1945, als fast drei Viertel aller Gebäude durch den Zweiten Weltkrieg zerstört waren. Mein Fahrer, der Gefallen an seinem Auftrag fand und dem vielleicht gerade in den Sinn kam, dass er einen begabten Stadtführer abgeben würde, redete in einem fort, und bei jedem Wort, das er sprach, entwich seinem Mund ein fauliges Wölkchen, sodass sich im Wagen bald ein Dunst der Fäulnis ausgebreitet hatte. Als wir beim Gefängnis vorbeifuhren, rief er, dass alle Oligarchen und ihre Lakaien hierhergehörten. Holland sei ein normales Land, Moldawien hingegen wäre absolut nicht normal, weil hier die Verbrecher 50.000 Lei zahlten, freikämen und vom Gericht oder Gefängnis gleich direkt als Abgeordnete ins Parlament übersiedeln würden. Dafür sei aber selbst das schöne Holland bei weitem nicht so schön wie Moldawien, ein Superland mit Supermenschen, aber mit Scheißpolitikern und Scheißoligarchen. Stoßweise pulsierten die Schwaden der Empörung und ekligen Geruchs in dem Wagen, in dem mich ein enthusiastischer Patriot seiner Stadt durch Chi?inau chauffierte, der sich am Ende weigerte, zu der für mich lächerlich geringen Summe, die sein Taxameter anzeigte, noch ein Trinkgeld anzunehmen. Wenn ich müde wurde, bestieg ich oft einen der O-Busse, von denen viele kreuz und quer in der Stadt unterwegs und die auch für Einheimische so billig waren, dass es bei Jung und Alt als Schande galt, beim Schwarzfahren ertappt zu werden. Die bunten, oft arg ramponierten O-Busse waren überfüllt, aber nie erlebte ich es, dass die Stimmung gereizt gewesen oder Unmut laut geworden wäre. Durch das Gedränge schob sich eine Schaffnerin unablässig von hinten nach vorne und wieder zurück, ohne sich je an einem Griff oder einer Stange anzuhalten. In der einen Hand hielt sie eine Rolle, von der sie die Fahrkarten abriss, in der anderen drei Bündel mit Scheinen von ein, zwei und fünf Lei, aus denen sie das Wechselgeld mit dem Daumen gleichsam herauswischte. Die Geldscheine Moldawiens waren alle gleich groß und zeigten das gleiche Bildnis eines Mannes mit finsterem Blick und langen Haaren, auf die eine Krone gesetzt war. Der Wojwode ?tefan cel Mare, Stefan der Große, formte...


Gauß, Karl-Markus
Karl-Markus Gauß, geboren 1954 in Salzburg, wo er auch heute lebt. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet, darunter mit dem Prix Charles Veillon (1997), dem Johann-Heinrich-Merck-Preis (2010) und dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2022). Bei Zsolnay erschienen zuletzt Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer (2019), Die unaufhörliche Wanderung (2020) und Die Jahreszeiten der Ewigkeit (2022).



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