E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Gauß Zu früh, zu spät
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-552-07319-7
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwei Jahre
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-552-07319-7
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Worum es in diesem Buch geht? Karl-Markus Gauß schreibt vom Irak-Krieg und von den Illusionen seiner aus der Wojwodina nach Amerika ausgewanderten Verwandten; er berichtet von profitablen Spermabanken und räsoniert über uralte Menschheitsfragen; er forscht seinem Vater nach, der "großen Portalfigur des Scheiterns in meinem Leben"; und die Lektüre berühmter, vergessener oder hierzulande wenig bekannter Autoren gerät ihm immer auch zur existentiellen Selbstprüfung.
Viele literarische Genres stehen diesem Autor zur Verfügung, dem die scheinbaren Nebensachen nicht weniger wichtig sind als die Widrigkeiten der Epoche.
Autoren/Hrsg.
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Es wird Krieg
JEDEN SAMSTAG GINGEN wir ins Nonstop-Kino, um nachzuschauen, ob immer noch Krieg war. Das Kino lag in der Innenstadt, am Ferdinand-Hanusch-Platz, und auf dem Weg aus der Salzburger Vorstadt debattierten mein um vier Jahre älterer Bruder Adalbert und ich mit meinem Vater heftig über alles, was wir letzte Woche gesehen hatten und was uns selber seither widerfahren war. Das Programm wechselte wöchentlich und bestand aus einer Abfolge von Weltnachrichten (Rede des Generalsekretärs U-Thant), Sportberichten (Horst Nemec im Länderspiel gegen Schottland wegen Spuckens ausgeschlossen) sowie einem Naturfilm, einer Slapstick-Episode und einem Zeichentrickfilm. Im Saal war ein dauerndes Kommen und Gehen, denn das einstündige Programm hatte keine festen Beginnzeiten; wenn es mit einem Durchlauf zu Ende war, folgte nonstop der nächste, und man hatte den Saal zu verlassen, wenn auf der Leinwand neuerlich die Bilder erschienen, die man beim Betreten als erste gesehen hatte. Wir verbrachten unseren Samstag nachmittag schon so, als ich noch nicht zur Volksschule ging, und hörten ein Jahrzehnt später damit nur auf, weil sich das Fernsehen durchgesetzt hatte, dem Nonstop-Kino die Besucher wegblieben und es geschlossen wurde. Manchmal schafften mein Bruder und ich es, den Trickfilm zweimal anzuschauen, denn mein Vater, der zwei Berufen nachging, vormittags als Professor eines Mädchen-Gymnasiums, in dem er Deutsch unterrichtete, nachmittags als Chefredakteur der Wochenzeitung Neuland, die sich an die in viele Länder versprengten Donauschwaben richtete, schlief nach den Nachrichten zuverlässig ein. Indem wir auf Tom und Jerry warteten, erfuhren wir, daß in den Straßen von Algier, im Kongo und in Indochina noch immer gekämpft wurde und wer Ben Bella und Ben Barka waren, Lin Piao und Tschiang Kai-schek, Kasavuvu, Tschombé und Mobutu. Im Nonstop-Kino sahen wir, wie Patrice Lumumba, ein schlanker, würdevoller Mann, auf einen Lastwagen gehoben wurde, welcher mit ihm, der einen unvergeßlich traurigen Blick auf uns zurückwarf, und ein paar schwerbewaffneten, grinsenden Soldaten wegfuhr. Was ich vom Krieg wußte, hatte ich aus dem Kino und von dem Gespräch, das auf dem Weg ins Kino und nach Hause niemals abriß. Das Jahr des Krieges begann mit einem Sturmangriff auf den Wiener Stephansdom. Seit den Nachmittagsstunden kamen die Freiwilligenverbände aus allen Bezirken in die Innere Stadt gezogen, wo sie mit den alliierten Hilfstruppen, die namentlich Italien entsandt hatte, zu straff geführten Bataillonen des Frohsinns vereint wurden. An den Buden und Ständen, die den Silvesterpfad markierten, wurden sie mit Punsch und guter Laune so reichlich verproviantiert, daß bereits Stunden vor Mitternacht die ersten Raketen in den Pulk der Verbündeten abgefeuert wurden und ausgelassen der Haß aller gegen alle hochschoß. Einmal muß jeder Österreicher das Gefühl der Gemeinschaft erlebt haben, das sich auf dem Platz vor dem Dom zusammenballt, wenn die Massen aus den Gassen weniger quellen als von der namenlosen Gewalt der Nachrückenden hinausgepreßt werden, sodaß an Umkehr, Entrinnen nicht mehr zu denken ist. Wer jetzt nicht niedergestoßen werden möchte, muß seinen Willen dem Wogen ergeben, in dem er von hier nach dort geschaukelt wird. Vergebens richtet er den Blick nach oben, in den von Feuerwerkskörpern durchzuckten Himmel, in dem die Umrisse des Kirchturms mit seiner berühmten Glocke hinter Schwaden von Schwefel nur mehr zu ahnen sind. Dicht über die Stahlhelme, die keiner trägt, sausen heulend die Raketen hinweg, die an der steinernen Fassade der Kirche mit ihren zahllosen Türmchen und Giebeln einschlagen. Im ganzen Land ist es das Dröhnen der großen Kirchenglocke, der Pummerin, das, in Radio und Fernsehen übertragen, den Beginn des Jahres bestimmt; einzig hier, zu Füßen des Turmes, in dem sie hängt, ist ihr Geläute nicht zu vernehmen, denn der Platz ist von einer viel größeren, eben erst erzeugten Glocke überwölbt, in die nichts von oben oder draußen dringt, sondern die in Hall und Widerhall verstärkt, was in ihrem Inneren abgeschossen, losgetreten, weggeschleudert, hochgeworfen wurde. Nirgends erfährt man daher so spät, daß es die erwartete Stunde endlich geschlagen hat, wie hier: an diesem Ort, den die Masse in ihren Besitz gebracht hat, ausgerechnet indem sie diszipliniert außer sich geraten ist. Das neue Jahr ist gekommen, und es mehren sich die Anzeichen des Krieges. Seit Monaten sehen wir im Fernsehen gutgelaunte Leute, deren gute Laune es nicht trübt, daß wir sie für Lügner halten. Sie wissen, daß ihnen die Welt nicht glaubt, wenn sie den Krieg gegen den Irak, den sie jedenfalls führen werden, mit der Entwicklung, gar der Existenz von Massenvernichtungswaffen begründen, die den Despoten bald schon ermächtigen könnten, nicht nur die Iraker zu schinden, sondern den Angriff auf jene Demokratien des Westens zu wagen, die den Bluthund erst groß gemacht haben. Jeder Fernsehzuschauer weiß, daß es diesen Krieg geben wird, gleichgültig, was in den nächsten Wochen in New York verhandelt oder im Irak nicht gefunden wird, und jeder weiß, daß weder die Existenz irgendwelcher Waffen den Krieg herbeigeführt haben noch deren Vernichtung sein Ziel gewesen sein wird. Seit Monaten sickert ein Gift in uns ein, das uns zu lähmen beginnt. Schon halten wir es für unausweichlich, daß wir belogen werden, und zwar von Lügnern, die wissen, daß wir sie dabei ertappen, und die dennoch fortfahren zu wiederholen, woran sie selber nicht glauben. Für unausweichlich, daß wir einer ehrlichen Auseinandersetzung über die wahren Gründe und die zu erwartenden Folgen des Krieges nicht für würdig gehalten werden. Unausweichlich, daß es Krieg geben wird und daß wir alle im privilegierten Status von Zuschauern dabeigewesen sein werden … Die Unausweichlichkeit ist über uns verhängt, und wir erhalten Nachricht, daß der Mensch der Maschine unterlegen ist. Vier Wochen lang hat Gari Kasparow gegen Deep Junior gekämpft, als gelte es mit einem Sieg über den Computer die Ehre der Menschheit selbst zu verteidigen. Der beste Schachspieler wollte gegen den am höchsten entwickelten Schachcomputer beweisen, daß sich Vernunft und Phantasie gegen die Maschine zu behaupten wissen, die von einem bläßlichen Software-Spezialisten gewartet wird. Nimmt man diesen Kampf zum Maß, dann steht es schlecht um die Sache des Menschen, denn Kasparow konnte das Spiel nur eine Zeitlang unentschieden halten und unterlag schließlich mit den Symptomen körperlicher Erschöpfung, intellektueller Ratlosigkeit und moralischen Zerfalls. Aber selbst die Nachricht, daß die Maschine über den Menschen gesiegt habe, ist eine Lüge. Sie läßt uns vergessen, daß der Computer von Menschen hergestellt, programmiert und bedient wurde. Die Maschine, in deliranten Kommentaren gepriesen, weil sie die Menschheit retten, oder verteufelt, weil sie diese vernichten werde, ist nicht das Schicksal des Menschen, sondern seine Erfindung. Und zeigen unsere Erfindungen auch die starke Tendenz, uns zu entgleiten, sind es doch wir, die für sie verantwortlich sind und darüber entscheiden, was wir mit ihnen, unseren Talenten und unserer Welt machen. Tony Blair, dem das Grinsen wie eingewachsen ist und der, jenen gelifteten Frauen ähnlich, die keine Miene verziehen können, gänzlich aus diesem Grinsen zu bestehen scheint, das er nicht mehr aus seinem Gesicht bekommt, hat im englischen Parlament einen denkwürdigen Auftritt. Er weiß, was auch die Agenten des Geheimdienstes wissen, die ihm gefällige Gutachten erstellen: daß die Saddamisten dem Irak zwar ihre aberwitzige Tyrannei aufgezwungen haben, ihr Regime aber, mit seinen Mordapparaten vollauf im eigenen Lande beschäftigt, keineswegs über die Macht verfügt, den Angriff auf die reichsten Staaten der Erde durchzuführen, jene Waffen, oft gesichtet, niemals gefunden, zu entwickeln oder weltweit den Terrorismus zu finanzieren. Blair scheint zu ahnen, daß ihm die Lüge, die er mit der Leidenschaft eines Schauspielers, der den Erweckungsprediger zu geben hat, im englischen Oberhaus, im amerikanischen Senat, vor der Uno verficht, eines Tages zum Verhängnis werden könnte. Deswegen begründet er den Krieg neuerdings nicht nur mit den vernichtenden Waffen, die der Irak binnen 45 Minuten zum Abschuß gegen die Metropolen des Westens bereitmachen könne, sondern auf originellere Weise: Die Welt, sagt...