Gauß Lob der Sprache, Glück des Schreibens
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7013-6214-1
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-7013-6214-1
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Karl-Markus Gauß: 1954 in Salzburg geboren, wo er heute als Schriftsteller, Herausgeber und Kritiker der Zeitschrift 'Literatur und Kritik' lebt. Seine Reportagen über die kleinen Nationen Europas wurden in viele Sprachen übersetzt und seine Journale und erzählenden Essays mit etlichen Preisen ausgezeichnet (Prix Charles Veillon und dem Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz), zuletzt u.a. mit dem Mitteleuropa-Preis, dem Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und dem Österreichischen Kunstpreis für Literatur (2013).
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II. Vom Sex und seiner Besserung
1. Vorspiel
Getrieben von einem hemmungslosen Verlangen, das mich manchmal überkommt, schaltete ich vor ein paar Wochen den Fernseher an, um mich von der Sendung „Seitenblicke“ in meiner Vermutung bestätigen zu lassen, dass die Welt noch die alte sei und es folglich keine Rechtfertigung gebe, meinen vorschnellen Frieden mit ihr zu schließen. Als ich in die von mir aus selbstverletzender Bosheit gewählte Sendung geriet, war eine junge, hübsche Frau gerade dabei, eine interessante Frage zu beantworten. Der Reporter, der sich womöglich bereits selber für einen solchen hielt, wollte von der Schauspielerin Elke Winkens wissen, wie ihr Traummann beschaffen sei. Sie dachte kurz nach und sagte dann schnippisch: „Halb Softie, halb Macho.“ Sogleich begann sie zu kichern, aber nicht so, wie in den „Seitenblicken“ alle kichern, nach Art des pflichtgemäßen Frohsinns, sondern auf die nicht unsympathische Weise eines Menschen, der bemerkt, dass er gerade etwas von sich preisgegeben hat, ohne es beabsichtigt zu haben, kurz: es handelte sich um jenes Kichern, mit dem wir unsere Betretenheit übertönen wollen, aber bei Strafe, damit erst auf diese aufmerksam zu machen.
Halb Macho, halb Softie, diese Definition eines Mannes, von dem selbst eine umschwärmte Schauspielerin schwärmt, gab mir einiges zu grübeln auf. Ich drehte die Sache hin und her und konnte sie mir endlich nicht anders erklären, als dass es sich bei einem Traummann um so etwas wie ein Raubtier mit moralischen Vorbehalten handeln muss, das beim Frühstück bitterlich darüber greint, sich in der Nacht gar so wild aufgeführt zu haben. Ich überlegte, ob es sich bei Traumfrauen womöglich um ähnliche Wesen handle und versuchte ein paar meiner Freunde auszuhorchen. Ich hoffte auf Antworten wie: „Ehrlich gesagt, richtig scharf bin ich auf den unterwürfig emanzipierten Typ, wenn Du verstehst, was ich meine“, aber nichts dergleichen bekam ich zu hören. Ich hatte aber auch kein Mikrophon und keine Kamera dabei, es war also möglich, dass mir meine Freunde einfach jene Wahrheit vorenthielten, die heute immer sofort heraus muss, sobald die Beichte medial abgenommen und das Private der Öffentlichkeit übergeben wird.
2. Auf geht’s
Gibt man der Suchmaschine Google die Stichworte „Sex“ und „Beratung“ ein, tut sich vor einem das Malheur nach einem Bruchteil von Sekunden in seiner schieren Grenzenlosigkeit auf; sieht man sich doch mit der Tatsache konfrontiert, dass über das Internet eine Million dreihundert Tausend Dateien zu diesem Thema verfügbar sind. Wer sich umfassend mit ihm beschäftigen möchte, wird also mit einem Leben alleine nicht auskommen, und das ist auch nur angemessen, denn mit dem Sex haben sich ja schon Generationen vor uns beschäftigt, ohne dass die Besserung eine definitive geworden wäre, ein endgültig erreichter Standard, hinter den zurückzufallen unmöglich ist, und werden sich nach uns noch Generationen beschäftigen, selbst wenn sich ihnen vielleicht ganz andere Anforderungen stellen als uns.
Als Arbeitshypothese konnte man nämlich bisher mit der nötigen Vereinfachung sagen, dass das Problem mit dem Sex damit zu tun hatte, dass sich die Menschheit in zwei Geschlechtern materialisierte, während wir möglicherweise einer bereits hereinbrechenden Zukunft entgegengehen, in der die Zweigeschlechtlichkeit durch eine vielförmig ausgefächerte Eingeschlechtlichkeit ersetzt sein wird; was, nebenbei, dadurch vorbereitet wurde, dass die Fortpflanzung technisch von der Sexualität abgekoppelt werden konnte und sich eines Tages die Menschen klinisch sauber, ganz ohne die Niedrigkeiten sexuellen Begehrens und die Widrigkeiten sexuellen Vermögens vermehren werden. Wenn es zu einer Art von multipler Eingeschlechtlichkeit kommen wird, wie manche Sexualforscher und futurologisch delirierenden Genetiker meinen, und jeder und jede je nach Anlass, Laune, Obsession abwechselnd beides sein wird und keines mehr auf die alte Weise, Mann und Frau, wird damit tatsächlich vieles, womit die Menschen sich herumschlugen, seit ihr Jahresablauf nicht mehr von der Paarungszeit bestimmt wurde, bedeutungslos geworden sein; allerdings werden sie auch dann gewiss noch nicht mit sich ins Reine gekommen sein, sondern sich nur eine Reihe anderer, von uns noch ungeahnter Probleme aufgehalst haben.
Eine Million dreihundert Tausend Angebote von Beratung vor mir, begann ich der Ordnung halber mit der ersten, die Google mir empfahl. Sie ist unter dem Titel „net.doctor.at“ zu erreichen, charakterisiert sich im Untertitel als „Das unabhängige Gesundheitsweb für Österreich“ und erwies sich als so faszinierend, dass ich im Zuge meiner Recherchen niemals über sie hinausgelangte, sondern seither zu den Tausenden Besuchern der täglich 24 Stunden lang abgehaltenen virtuellen Sprechstunden gehöre. Beim Net-Doktor kann sich, wer will, in eine nie abreißende Debatte über alle möglichen Aspekte des sexuellen Alltags- und Feiertagslebens einklinken und sowohl Fragen, die ihn persönlich betreffen, der allgemeinen Diskussion stellen, als auch sich in die oft über Wochen hin geführten Debatten mit eigenen Erfahrungsberichten oder Ratschlägen einmischen.
Worum es in diesen mit anonymer Offenherzigkeit geführten Debatten geht? Um Intimpiercing und Oralverkehr, die bequemsten Stellungen für Männer mit Übergewicht und die unbequemsten für Frauen, die sich nicht regelmäßig im Fitnessstudio gelenkig schwitzen, um neue sexuelle Erfahrungen, an denen man auch den unbekannten Nächsten teilhaben lassen möchte, und die Sprachlosigkeit zwischen altgedienten Partnern… ach, um unglaublich spezialisierte Dinge und solche von geradezu universaler Dimension.
Vor allem aber geht es um den Ernst des Lebens, den der erwünschte, geforderte und doch immer wieder verpasste und verpatzte Spaß am Sex darstellt; um eine fröstelnde Sachlichkeit, mit der die hitzigen Leidenschaften beredet werden; um den streberhaften Eifer, mit dem um die sexuelle Glückseligkeit gekämpft wird.
Anita, 47, und Gerhard, 50, haben ein Problem. Sie bitten die versprengte Gemeinde der Net-Doktoren um Rat, der ihnen zahlreich, wenn auch vielleicht nicht eben hilfreich zuteil wird. 26 Jahre lang sind sie schon zusammen und können für ein glückliches Ehepaar gelten. Aber, sie müssen es sich eingestehen und tun es daher öffentlich: Seit ungefähr einem halben Jahr verspüren sie nur geringes Begehren, es miteinander zu treiben. Anita sagt, ihr gehe es gut, sie fühle sich ausgezeichnet und liebe ihren Gerhard, aber mit ihm zu schlafen, der doch seit 26 Jahren jede Nacht im Bett neben ihr schläft, das reize sie schon seit Monaten leider überhaupt nicht mehr.
Gerhard geht es – man könnte sagen: praktischerweise – ebenso, er nennt sich rundum glücklich, und doch leidet er gleichfalls daran, seine Anita zwar zu lieben, ihr das derzeit aber lieber nicht mittels periodischen Geschlechtsverkehrs beweisen zu wollen. Den beiden unagil Liebenden wird von geschätzten achtzig Ratgebenden allerlei und auch das Gegenteil davon empfohlen, unter anderem, dass sie es doch an einem gemütlichen Videoabend mit dem gemeinsamen Betrachten von Pornofilmen probieren mögen, dass sie das Bett flüchten und versuchen sollten, einander an ungewöhnlichen, gar an öffentlichen Schauplätzen in sexuelle Stimmung zu bringen, oder dass sie vereinbaren müssten, einander zu betrügen – was genau genommen ein seltsamer Betrug wäre – und den Schwung, den das Fremdgehen mit sich bringt, gewissermaßen ins heimische Bett hinüber zu nehmen.
Ich sehe sie vor mir, wie sie einander im Dauergerammel des zweiten Pornofilms, den sie sich beflissen besorgt haben, erwartungsvoll anschauen: Jetzt? Oder wie sie, hinter Büschen eines stark frequentierten Parks aufreizend schlecht verborgen, zu jenem Verlangen zurückzufinden trachten, dessen sie in ihrem Bett entraten. Ja, wie ist den beiden, die verbissen bereit sind, sich helfen zu lassen, wirklich zu helfen? Keiner, der sich an der mit grimmigem Ernst geführten Debatte beteiligte, hat Anita und Gerhard gefragt: Sagt mal, wo ist eigentlich euer Problem? Denn so zu fragen, hieße auf ihr öffentlich gemachtes Leiden einen Blick von außerhalb des Koordinatensystems werfen, in das offenbar alle eingefügt sind, die sich in die virtuelle Sprechstunde begeben. Anita und Gerhard waren vielmehr Anlass für einen heftigen, mit privaten, nationalen und internationalen Statistiken geführten Streit. Nadine, 27, meinte, dass Anita und Gerhard es schon bald wieder auf zwei bis drei Geschlechtsakte in der Woche bringen sollten, sonst wäre es gescheiter, sich voneinander zu trennen. Thomas, wiewohl erst 22, befand hingegen, zwei bis drei Mal im Monat wäre auch ausreichend. Und die alterslose Angela bekannte, ihr würden zwei bis drei Mal im ganzen Sommer genügen, im Winter aber benötige sie erheblich mehr.
Wie alles auf unserer Welt kann man auch den Sex quantifizieren, und so erfuhr ich von der Tatsache, dass der Hamburger Universitätsprofessor Sommer die Beischlaffrequenz der Generation der 18- bis 30-jährigen untersucht hat. Lag diese vor dreißig Jahren noch bei passablen zwanzig...




