Gauß | Die sterbenden Europäer | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 236 Seiten

Gauß Die sterbenden Europäer

Unterwegs zu den Sepharden von Sarajevo, Gottscheer Deutschen, Arbereshe, Sorben und Aromunen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-552-07317-3
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Unterwegs zu den Sepharden von Sarajevo, Gottscheer Deutschen, Arbereshe, Sorben und Aromunen

E-Book, Deutsch, 236 Seiten

ISBN: 978-3-552-07317-3
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Karl-Markus Gauß, dessen Aufmerksamkeit seit langem den randständigen Nationalitäten gilt, ist in den vergangenen Jahren immer wieder aufgebrochen zu jenen kleinen Völkern, denen Europa seine Vielfalt an Kultur verdankt. Seine Reisebilder verbinden Naturbeschreibung, Stadtporträt, Exkurs in unbekanntes Gelände der Kulturgeschichte, politische Skizze und Erzählung von unverwechselbaren Menschen zu einer wunderbaren Form von Literatur.

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3
Als ich zum ersten Mal in das düstere, von Rauchschwaden durchzogene Foyer der Jüdischen Gemeinde trat, saßen auf den Stühlen entlang der Wände vielleicht zehn alte Herren. Von dem großen Raum führten links die Türen zu einer Art Cafeteria und in die Büros der Gemeinde, in denen Jakob Finci residierte, nach rechts aber Treppen zu den höher gelegenen religiösen Räumlichkeiten. Die alten Männer saßen da, tranken Mokka aus kleinen Tassen oder gelblich trüben Schnaps aus Gläsern, rauchten und schwiegen. Sie hatten sich nicht um einen Tisch gruppiert, sondern, wie es in den südlichen Ländern im Freien üblich ist, die Stühle der Wand entlang aufgestellt, sodaß sie sich, da etliche Sessel leer waren, reihum im ganzen Raum verteilt hatten. Da saßen sie, die meisten im aufgeknöpften Mantel und mit Hut oder Mütze auf dem Kopf, als hätten sie nur auf einen Sprung vorbeigeschaut und wären bereit, jeden Moment wieder aufzustehen und zu gehen. So halten sie es immer, vielleicht schon ein paar hundert Jahre lang, sie bleiben, aber sie bleiben wie auf Abruf, und es ist das Unglück ihrer späten Tage, daß in den letzten Jahren die meisten ihrer Freunde und Verwandten abberufen wurden, aufgestanden, hinausgegangen und emigriert sind. Als ich eintrat, registrierten sie das gleichmütig, fast ein jeder auf dieselbe Weise, mit einem kurzen Blick, nicht gerade mit aufdringlicher Neugier, aber doch aufmerksam. Da ich nach ein paar Schritten hilfesuchend stehenblieb, erhob sich im äußersten Eck ein drahtiger Mann mit festem grauen Haarschopf, eine erloschene filterlose Zigarette in der einen, ein Schnapsglas in der anderen Hand, und trat mit der Frage, ob er helfen könne, zu mir. Ich sagte ihm meinen Namen, daß ich aus Salzburg und gekommen sei, weil ich mich seit längerem für die Sepharden interessiere, und er antwortete, indem er den Bau meines Satzes spöttisch wiederholte: »And my name is Albahari, I come from Sarajevo, and I am also interested in the Sephardim.« Das war mit wohlwollender Ironie gesagt, doch hatte ich etwas, was daraus sofort Sympathie für mich machte; der Name, mit dem sich der Alte vorstellte, erinnerte mich nämlich an einen Schriftsteller aus Belgrad, von dem ich vor Jahren ein Prosastück in meiner Zeitschrift abgedruckt und den ich später als einen Mann von kaltglühender Verzweiflung kennengelernt hatte, als er einen Abend lang einer Runde österreichischer Zuhörer über Jugoslawien berichtete, das gerade zerfallen war, und über die Jüdische Gemeinde von Belgrad, zu deren Gemeindevorsteher er sich damals, als so viele Juden Serbien verließen, aus einer Art aussichtslosen Pflichtgefühls hatte wählen lassen. Als ich ein wenig übertreibend erwähnte, mit einem Schriftsteller gleichen Namens, David Albahari, befreundet zu sein, ließ der alte Mann die Zigarette im selben Moment fallen, damit er mir kräftig und lange die Hand schütteln konnte, rief »my nephew, my nephew David« und ließ vor Begeisterung den Schnaps aus dem Glas schwappen. Obwohl er damals die Emigration als definitive Niederlage bezeichnet hatte, war David Albahari letztlich doch emigriert und ans andere Ende der Welt, in eine kanadische Universitätsstadt, gezogen; dort lebte er, wie er in seiner Erzählung »Tagelanger Schneefall« berichtete, unbehelligt von europäischen Feindschaften und umgeben von freundlichen Studenten und Kollegen, die ihm gerne erklärten, was in Bosnien am Roten Meer alles falsch gelaufen war und warum sich die Leute von Sarajevo um den Zugang zum Wasser so fürchterlich zerstritten hätten. Sein Onkel, der mir jetzt gegenüberstand, Moshe Albahari, war pensionierter Oberst der jugoslawischen Luftwaffe. 25 Jahre lang hatte er die Piloten einer Armee gegen einen Feind ausgebildet, der nie kam, und als seine Piloten eines Tages doch noch in einem Krieg eingesetzt wurden, da wurde er nicht gegen einen Feind geführt, den es hinter die Grenzen Jugoslawiens zurückzuwerfen galt, sondern gegen die Bundesgenossen, die den gemeinsamen Staat nach alten inneren Grenzen zerfallen ließen. Moshe Albahari war aber auch Konstrukteur gewesen, ein eigenes Kleinstflugzeug, das nur 280 Kilogramm wog, wurde nach seinen Plänen entwickelt, ohne daß die Produktion je in Serie gegangen wäre. Überhaupt sei alles vergebens gewesen, das Flugzeug, die Luftwaffe, die Ausbildung! Wie sein Neffe wäre auch sein eigener Sohn nach Kanada emigriert, sagte Moshe, und fast alle seine Freunde waren tot oder fort. Er deutete auf die Runde alter Männer, die jetzt, als wüßten sie, was er von ihnen erzählte, mit freundlicher Resignation herübernickten — ein Altersheim, verstehen Sie, nichts anderes als ein Altersheim sei die Jüdische Gemeinde von Sarajevo heute. Alle sind sie weg, die Jungen, die es sich zutrauten, anderswo neu anzufangen, die Gebildeten, die in irgendwelchen Colleges in der amerikanischen Provinz Unterschlupf fanden, die Alten, die in Israel Verwandte hatten. Er aber werde bleiben, so wahr er Moshe Albahari heiße, ausharren mit diesen anderen da, die sich Tag für Tag hier trafen, gemeinsam rauchten, tranken — und warteten. Auf der großen Straße, Zmaja od Bosna Ich bin kein Israeli, sagte Moshe, warum soll ich nach Israel? Ich bin kein Amerikaner, was soll ich jetzt in Amerika? Früher hätte es ihn interessiert, sich drüben einmal umzuschauen, aber zum Sterben nach Amerika fahren? Von den 1500 Juden, die vor der Belagerung noch in Sarajevo gelebt hatten, wäre über die Hälfte ausgewandert. Als Sarajevo für drei Jahre eingekesselt und kein Entkommen möglich war, hatten die Kriegsparteien sich darauf geeinigt, die Juden ziehen zu lassen. Im großen Konvoi, der unter dem Schutz der Vereinten Nationen stand, wurden sie aus der Stadt gebracht, die ihnen kein kleines Jerusalem mehr war. Vor 500 Jahren waren die Sepharden in äußerster Bedrängnis aus Spanien hierher gezogen, jetzt verließen sie ihr Sarajevo, ihr Bosnien wieder. Es war aber nicht der Antisemitismus, der sie vertrieb, auf diese Klarstellung legte Moshe großen Wert. Durch den Rauch der Zigaretten, den er beim Reden mit rudernden Armbewegungen im Raum verteilte, faßte er mich immer wieder scharf ins Auge: Nein, in Jugoslawien hat es keinen Antisemitismus gegeben, und selbst zuletzt, als sich jeder gegen jeden aufhetzen ließ, waren die Juden davon ausgenommen. Vielleicht, sagte Moshe, hatten die drei großen Volksgruppen in Bosnien einander so fanatisch gehaßt, daß für den Haß auf die Juden einfach keine Zeit und Kraft mehr übrig war. Achtungsvoll sprach vielmehr eine jede nur von »unseren Juden«, und darum gestatteten sie es ihren Juden auch, die Stadt mitten im Krieg zu verlassen. Die Juden gingen, weil es für sie keinen Sinn hatte, dort zu bleiben, wo der Nationalismus regierte. Sobald Bosnien als Staat der vielen Völker zerstört wurde, konnten sie, die kleinste Bevölkerungsgruppe, die auf das friedliche Zusammenleben der anderen angewiesen war, hier keine Zukunft mehr haben. Aber Bosnien wird umgekehrt auch keine Zukunft ohne Juden haben, denn alle sprechen hier nur mehr für die eigene ethnische Gruppe und deren Platz im Land, einzig die Juden mußten, wenn sie von sich selbst und ihrer Gemeinschaft sprachen, zugleich von ganz Bosnien sprechen. Gibt es kein Bosnien mehr, in dem für alle bosnischen Volksgruppen Platz ist, können die Juden nicht mehr in Bosnien bleiben — aber gibt es keine Juden mehr in Bosnien, gibt es in Wahrheit auch dieses Land nicht mehr. »Sondern was?« »Irgendwas anderes, das mich nicht interessiert. Irgendeinen Staat mit irgendeiner Fahne.« Noch während mir Albahari das alles erzählte, wußte ich, daß ich diesen Mann, wenn sonst aus keinem Grund, sicherlich wegen seiner merkwürdigen Art zu lachen in Erinnerung behalten müßte. Er beendete seine Sätze stets mit einem leisen Lachen, das bitter, aber nicht verbittert war, es klang, als würde er allem, was er mitzuteilen hatte, mit diesem kurzen Auflachen einen endgültigen Punkt, einen Schlußpunkt dahintersetzen, und in der Art, wie er diesen Punkt setzte, war nichts Jammervolles, wenngleich die Unabänderlichkeit, die sie betonte, tieftraurig war: Meine Frau ist tot, mein Sohn ist weg, meine Freunde sind...


Gauß, Karl-Markus
Karl-Markus Gauß, geboren 1954 in Salzburg, wo er auch heute lebt. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet, darunter mit dem Prix Charles Veillon (1997), dem Johann-Heinrich-Merck-Preis (2010) und dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2022). Bei Zsolnay erschienen zuletzt Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer (2019), Die unaufhörliche Wanderung (2020) und Die Jahreszeiten der Ewigkeit (2022).



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