Gast / Wabnitz / Ermann | Dissoziative Störungen erkennen und behandeln | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 182 Seiten

Gast / Wabnitz / Ermann Dissoziative Störungen erkennen und behandeln


3. erweiterte und überarbeitete Auflage 2023
ISBN: 978-3-17-039776-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

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ISBN: 978-3-17-039776-7
Verlag: Kohlhammer
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Dissoziative Störungen sind Trauma-Folgeerkrankungen - häufig von emotionaler, körperlicher und sexueller Gewalt im Kindesalter. Im klinischen Alltag werden sie oft übersehen. Der Leser erfährt, wie diese Störungen entstehen, erkannt und in das Spektrum posttraumatischer Störungen eingeordnet werden. Anhand klinischer Fallbeispiele wird das therapeutische Vorgehen erläutert. Die 3. Auflage berücksichtigt die ICD-11, in der die Dissoziative Identitätsstörung - in Vollbild und partieller Form - eine evidenzbasierte Aufwertung erfährt.

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2 Wie entstehen Dissoziative Störungen?
2.1 Zusammenhang von Trauma und Dissoziation
Schon in den frühen Fallbeschreibungen der dissoziativen Störungen wurde ein Zusammenhang zwischen traumatischen Erfahrungen und Dissoziation beschrieben.129 In den letzten 25 Jahren konnte dieser Zusammenhang zwischen Trauma und Dissoziation durch retrospektive und prospektive Studien gut belegt werden.130 Insbesondere kindliche Traumatisierungen in Form von emotionaler, körperlicher und sexueller Misshandlung begünstigen die Entwicklung dissoziativer Symptome und Störungen. Neben diesen Faktoren spielen aber auch emotionale Vernachlässigung und elterliches Fehlverhalten eine ähnlich gravierende Rolle. Die Bindungsforschung hat durch ihre unmittelbare Beobachtung der Interaktion zwischen dem Kind und seinen Beziehungspersonen wichtige Aufschlüsse zum Zusammenhang zwischen Bindung (insbesondere bei desorganisierter Form) und Dissoziation erbracht. So können auch traumatische Erinnerungen der Eltern durch ängstliches oder ängstigendes Verhalten in der Eltern-Kind-Interaktion transgenerational weitergegeben werden. Kasten 5: Trauma und Dissoziation Kinder, die Traumatisierungen in Form von emotionaler, körperlicher und sexueller Misshandlung ausgesetzt sind, haben ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung dissoziativer Symptome und Störungen. Daneben spielen aber auch emotionale Vernachlässigung und elterliches Fehlverhalten und desorganisierte Bindungsform eine ähnlich gravierende Rolle. Auch können traumatische Erinnerungen der Eltern durch ängstliches oder ängstigendes Verhalten in der Eltern-Kind-Interaktion transgenerational weitergegeben werden. Von dissoziativen Störungen kann daher nicht zwangsläufig auf Gewalt in der Kindheit geschlossen werden. Bei Depersonalisations- und Derealisationsstörungen wird häufig emotionaler Missbrauch in der Kindheit gefunden131, Bei komplexen dissoziativen Störungen, insbesondere bei Dissoziativer Identitätsstörung finden sich in ca. 90?% schwere frühkindliche Traumatisierungen in Form von sexueller, körperlicher und emotionaler Gewalt.132 Traumatisierte Kinder kommen in einer traumatogenen Umwelt in ihrem Alltag besser zurecht, wenn sie traumatische Erfahrungen konsequent »ausblenden«.133 2.1.1 Retrospektive Studien
Hierzu liegt eine Reihe von Korrelationsstudien bzw. von quasi-experimentellen Gruppenvergleichen vor, die übereinstimmend auf einen Zusammenhang zwischen dem Vorliegen von Kindheitstraumatisierungen und dem Ausmaß an dissoziativen Symptomen hinweisen. Eine Meta-Analyse von über 38 Studien zeigt einen positiven Zusammenhang zwischen sexuellen Gewalterfahrungen in der Kindheit und späteren Symptomen in den Bereichen Angst, Wut, Depression, Retraumatisierung, Selbstverletzung, sexuelle Probleme, Zwanghaftigkeit, Dissoziativität, posttraumatische Reaktionen und Somatisierung.134 Dieser Zusammenhang bleibt auch bestehen, wenn die Daten hinsichtlich Phantasieneigung kontrolliert werden.135 Alle Studien geben als retrospektive Zusammenhangsanalysen Hinweise im Sinne von Indizien auf eine kausale Verbindung zwischen Kindheitstraumata und einer späteren dissoziativen Störung. 2.1.2 Prospektive Studien
Bei der ersten prospektiven Studie handelt es sich um eine Longitudinalstudie mit einer Stichprobe von N = 130 Kindern und einem Langzeitverlauf von 19 Jahren, in der das Bindungsverhalten und der Zusammenhang zu dissoziativem Verhalten und psychopathologischen Auffälligkeiten in der Adoleszenz untersucht wird.136 Als Stichprobe diente die Minnesota-poverty-sample-Studie.137 Desorganisiertes Bindungsverhalten, das als Indikator für traumatische Erfahrungen gilt, erwies sich als signifikanter Prädiktor für späteres dissoziatives Verhalten. Außerdem fand sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen diesem Bindungsstil und psychopathologischen Auffälligkeiten. Aus der Stichprobe konnten drei Jugendliche mit dissoziativen Störungen identifiziert werden, alle drei wiesen als Kind eine desorganisierte Bindung mit der Mutter auf. Ähnliche Ergebnisse werden einige Jahre später in der Studie von Dutra und Lyons-Ruth ebenfalls gefunden.138 Eine weitere methodisch sehr aufwendige Studie von McFie139 untersucht das Ausmaß dissoziativer Symptome bei missbrauchten versus nicht missbrauchten Vorschulkindern (N = 199) über einen längeren Zeitraum. Traumatisierte Kinder zeigten sowohl zu Beginn der Messung als auch bei dem zweiten Messpunkt nach einem Jahr mehr dissoziative Prozesse als nicht traumatisierte Kinder. Zudem stieg der Grad an Dissoziation bei traumatisierten Kindern zwischen Messpunkt 1 und 2 an, während er bei nicht traumatisierten Kindern zurückging. Die Ergebnisse wurden von den Autoren dahingehend interpretiert, dass mit zunehmendem Alter der Kinder die Dissoziation durch physiologische Reifung abnimmt, während traumatisierte Kinder dissoziative Mechanismen offensichtlich als Coping-Strategie »brauchten«. Auch hier finden sich Bestätigungen in den Studien von Hulette, Freyd und Fisher140 sowie Trickett, Noll und Putnam141. Diese Studien gehen davon aus, dass es eine physiologische Dissoziation im Kindesalter gibt: Bei zu viel oder zu wenig Reizen gehen kleine Kinder spontan in Trance oder in Tagträume. Auch können sie nicht immer sicher zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden. Diese Dissoziationsneigung »verwächst« sich im Laufe der Entwicklung und Zunahme der Realitätskontrolle – nicht jedoch bei traumatisierten Kindern. Diese »brauchen« weiterhin die Dissoziation. Traumatisierte Kinder in einer traumatogenen Umwelt kommen in ihrem Alltag besser zurecht, wenn sie traumatische Erfahrungen konsequent »ausblenden«.142 Diese ursprüngliche Notfall-?, Schutz- und Anpassungsmaßnahme an unerträgliche Belastungen kann sich jedoch zu einem chronischen und sehr umfassenden Vermeidungs- und Verleugnungsverhalten entwickeln. Ferner wurde eine Studie von Diseth publiziert,143 in der ein deutlicher Zusammenhang zwischen gut dokumentierten, medizinischen Traumatisierungen und einer anschließenden dissoziativen Symptomatik im Erwachsenenalter berichtet wurde. Es handelt sich hierbei um Kinder, die ohne einen Darmausgang (Analatresien) zur Welt kommen und die zur Korrektur dieser Anomalie sehr schmerzhaften Behandlungen ausgesetzt waren. Diese Studien belegen, dass die Schwere der Dissoziation im Erwachsenenalter mit dem Alter und dem Beginn der Traumatisierung zusammenhängt, ein Befund, der für eine besondere Vulnerabilität im frühen Kindesalter spricht. 2.1.3 Prävalenz belastender Lebensereignisse bei dissoziativer (Identitäts-)?Störung
Angesichts der bisher beschriebenen empirischen Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen Trauma und Dissoziation ist es naheliegend, dass in Stichproben von hoch-dissoziativen Patientinnen die Prävalenz von traumatischen Erfahrungen besonders hoch sein muss. So wurde in einer Reihe von Studien aus Nordamerika und Europa übereinstimmend über lang andauernde schwere frühkindliche Traumatisierungen berichtet, meist in Form von sexueller Gewalt, häufig verbunden mit körperlicher und emotionaler Misshandlung sowie extremer Vernachlässigung. Entsprechende Vorerfahrungen wurden regelmäßig von über 90?% der befragten Patientinnen berichtet.144 Im Vergleich hierzu liegen die Prävalenzraten für Borderline-Patientinnen bei 50?–?75?%.145 Dalenberg und Kollegen (2010) liefern in ihrem Review zur Evidenz des Trauma- und soziokulturellen Modells der Dissoziation eine Übersicht über den Zusammenhang zwischen Trauma und der Diagnose einer dissoziative Störung. Obgleich zahlreiche Studien über den Zusammenhang von Trauma und Dissoziation in unterschiedlichen Populationen existieren, ist deren Interpretation durch methodologische Unstimmigkeiten erschwert. Dalenberg et al. (2012) geben eine methodisch gut recherchierte Übersicht über Studien, die (1) Effektstärken über den Zusammenhang von Trauma und Dissoziation bereitstellten oder sich aus den Daten errechnen ließen, (2) Teilnehmer ohne traumatische Erfahrungen in die Analyse eingeschlossen, (3) eine Stichprobengröße von > 50 aufwiesen und (4) Teilnehmer/innen aus klinischen Populationen oder der Allgemeinbevölkerung inkludierten. Die Ergebnisse zeigen, dass der durchschnittliche Zusammenhang zwischen Trauma und Dissoziation bei r. = 32 liegt. Bei sexuellem Missbrauch konnte eine Korrelation von r. = 31, bei physischem Missbrauch von r. = 27 errechnet werden. Während Dalenberg und Kollegen Studien, die sich auf den Effekt von emotionalem Missbrauch auf Dissoziation beziehen, von der Auswertung ausgeschlossen haben, zeigen neuere Ergebnisse, dass erlebter...


Privat-Dozentin Dr. med. Ursula Gast, ehemals Chefärztin in Bielefeld, in eigener Praxis bei Flensburg tätig. Mitglied der Leitlinien-Steuergruppe zur Therapie Posttraumatischer Störungen. Prof. Dr. Pascal Wabnitz, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis und Professor an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld.



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