Gassmann | Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten (E-Book) | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Reihe: Preselect

Gassmann Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten (E-Book)

16 Interviews mit Profis aus Schule, Kurszentrum und Betrieb
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-0355-0276-3
Verlag: hep verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)

16 Interviews mit Profis aus Schule, Kurszentrum und Betrieb

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Reihe: Preselect

ISBN: 978-3-0355-0276-3
Verlag: hep verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Die Berufsbildung steht mehr als auch schon im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. In einigen Branchen droht ein Fachkräftemangel – oder er ist schon Tatsache. Nach Jahren der Lehrstellenknappheit kommen den Betrieben vor allem leistungsstarke Jugendliche abhanden. Viele entscheiden sich für den gymnasialen Weg.

Dabei wird das duale System der Schweiz oft über allen Klee gelobt: Ihm verdanke das Land seine tiefe Jugendarbeitslosigkeit. Einige vermuten darin sogar ein Rezept, das weltweit wirtschaftliche Probleme lösen könnte, und möchten es deshalb exportieren.

In all den Debatten kommen die eigentlichen Helden der Berufsbildung, die das System in erster Linie tragen, kaum zu Wort: die Lehrpersonen und Ausbildner/-innen. Insofern betritt die Publikation unbekanntes Territorium: 16 Berufsbildungs- Profis reden im persönlichen Gespräch über ihren Werdegang, ihren Ausbildungsalltag, ihre Positionen, Visionen und Träume. Vertreten sind alle drei Lernorte: die Betriebe, vom Kleingewerbe bis zum internationalen Konzern, der schulische Bereich, von der Berufsfachschule bis zur Fachhochschule, aber auch der 'dritte Lernort', die Ausbildungs- und Kurszentren. Das Spektrum der angesprochenen Berufe reicht vom Kaufmännischen und Verkauf über
die Maler/-in oder Gipser/-in, die Berufe der Maschinen-, Elektronik- und Metallindustrie und der Pharmabranche bis zur Pflegefachperson und Hebamme.

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Wenn du an unsere Berufsbildung denkst?– an den schulischen Teil –, wo siehst du derzeit die wichtigsten Brandherde? Eines der grössten Probleme liegt für mich darin, dass ein fast ausschliesslich schweizerisches Lehrerkollegium kulturell sehr heterogene Klassen unterrichtet. Wenn du vor einem Schulhaus stehst, siehst du auf einen Blick, was ich meine: Eine ?Vielzahl der Jugendlichen haben einen Migrationshintergrund?– die unterschiedlichsten Migrationshintergründe. ?Aber das ist, aus welchem Grund auch immer, in der Berufsbildung heute nach wie vor ein vernachlässigtes Thema. Weiterbildungen zu dieser Thematik finden kaum Resonanz. Der einzige Aspekt, der jeweils ein breiteres Publikum anspricht, ist derjenige der Sprachkompetenz. Die Lehrpersonen sind sich bewusst, dass viele Jugendliche sprachliche Schwierigkeiten haben?– mit den Lehrmitteln, den Arbeitsblättern. Dass da Probleme auftauchen müssen, leuchtet allen ein. Aber die kulturellen Hintergründe, die unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen von Spätmigrierten, die aus anderen Zusammenhängen und Schulsystemen zu uns kommen?– all das, was dazu führt, dass sich die Jungen hier nicht zurechtfinden, wird erstaunlich wenig zur Kenntnis genommen. In einem Deutschkurs in Bern bin ich vor einiger Zeit einer zwanzigjährigen Chinesin begegnet, einer blitzgescheiten jungen Frau. Sie erklärte mir, sie habe in der Schweiz viel Zeit verloren, bis sie verstanden habe, dass man hier fragen müsse. Sie stamme aus einer Kultur, in der «der andere» merken müsse, dass man ein Bedürfnis hat. Und sie habe zusätzlich die Schwierigkeit gehabt, als Frau Männer fragen zu müssen; das sei in ihrer Kultur nicht üblich. Es habe eine ganze Weile gedauert, bis sie sich dazu überwinden konnte. Die Jugendlichen haben vielleicht auch ein bestimmtes Bild von Schule, wenn sie zu uns kommen, eines, das sich stark von der Realität unterscheiden kann, die sie hier antreffen. Ich hatte einmal einen Schüler aus Mazedonien, Mentor hiess er, er kam als Spätmigrierter in die Schweiz, ein Riesenkerl, einszweiundneunzig gross. In der Schule arbeitete er nur, wenn man neben ihm stand und ihm auf die Finger sah. Irgendwann sagte ich zu ihm: Mentor, so geht das hier bei uns nicht, da meinte er nur: Sie müssen mich eben mal anfluchen. Lehrer, die so unterrichteten wie ich, würden in seiner Heimat nicht ernst genommen, den Lehrer respektiere man, wenn er laut sei?– und wenn er strafen könne. Auf die Frage, wie es denn im Betrieb sei (er machte eine zweijährige Malerlehre), sagte Mentor, er arbeite ja immer mit einem ?Vorarbeiter zusammen. Wie es denn sei, wenn er mit zwei Kesseln Dispersionsfarbe in einer Zivilschutzanlage stehe und die streichen müsse, was er dann, völlig auf sich gestellt, anfange? Ich hatte auch mit der Familie Kontakt. Der ?Vater lebte schon seit zehn Jahren in der Schweiz und wusste durchaus, wie hier der Töff läuft. Dennoch war der tiefe Graben zwischen dem mazedonischen Dorf, aus dem die Familie stammte, und der Schweiz noch immer spürbar. Erstaunlich, dass in einer so multikulturellen Gesellschaft wie der unseren solchen Fragen derart wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Erstaunlich, ja. Nicht nur weil es so viele betrifft, auch weil es so komplex ist. Eine Chinesin und ein Mazedonier, das lässt sich wohl kaum vergleichen. Das ist tatsächlich nicht zu vergleichen. ?Als Berufsfachschullehrer müsste man tiefen Einblick in andere Kulturen haben. Dabei geht es eben nicht nur um die Sprache, sondern zum Beispiel auch um die nonverbale Kommunikation, da gibt es riesige Unterschiede und Nuancen. Res, offiziell bist du ja jetzt im Ruhestand ... erzähl doch mal, womit du dich derzeit beschäftigst. Ja, jetzt bin ich pensioniert ... bis 2010 hatte ich neben meiner Tätigkeit fürs EHB noch meinen Schultag an der Berufsfachschule und meine Stützkurse. Dieses Kapitel ist nun schon eine Weile abgeschlossen. Der ganz gewöhnliche Regelunterricht hat mich allerdings schon seit einiger Zeit nicht mehr sonderlich interessiert. Wahrscheinlich hätte ich schon früher den Job gewechselt, wenn ich nicht irgendwann mit lernschwächeren, schwierigeren Schülern zu tun gehabt hätte. ?Attest-Klassen habe ich bis zum Schluss unterrichtet, das hat mich gefesselt. Ich war selbst an der Entwicklung der zweijährigen Grundbildung beteiligt. Aber in der Lehrerweiterbildung bin ich nach wie vor aktiv. Und ich bin jetzt auch selbstständiger Unternehmer, habe eine GmbH gegründet, übernehme Aufträge und Mandate, biete Weiterbildungen an, entwickle Projekte mit Schulleitungen, solche Dinge. Nächstens bin ich zum Beispiel am BBZ Biel. Dort will der Rektor zusammen mit einem Verantwortlichen erreichen, dass die Schule während der Ausbildung weniger Lernende verliert, dass es weniger Lehrabbrüche, weniger Unterbrüche gibt; es geht darum, sich über die Früherfassung von Problemfällen schon im ersten Lehrjahr Gedanken zu machen: ?Wie unterstützt man die, die es brauchen? Damit sind wir wieder beim Thema der Migranten und Fremdsprachigen. Das ist etwas, was die Lehrer kaum wahrnehmen, dass sie fremdsprachige Lernende besser unterstützen müssen. In der Regel können sich diese Jugendlichen auf Deutsch mündlich sehr viel besser ausdrücken als schriftlich?– das Handicap ist also nicht ohne ?Weiteres ersichtlich. Nehmen wir die Hausaufgaben: ?Vielen dieser Lernenden kann in der Familie niemand dabei helfen; vor allem die Frauen haben oft gar nicht die Zeit, sich mit Hausaufgaben zu beschäftigen, weil sie zum Beispiel auf die Kinder der Schwester aufpassen oder mit der Mutter zusammen putzen gehen müssen. Solche Zusammenhänge sind vielen Lehrern nicht bewusst. Berufsschullehrer stammen häufig aus der Mittelschicht und wissen nicht, wie es in der Unterschicht aussieht. Sie kümmern sich auch kaum darum und sind dann erstaunt, wenn ein Teil der Lernenden die Aufgaben nicht gemacht haben?– sie fragen aber auch nicht nach, was die Gründe sind. Das sind Themen, die man in Biel aufzunehmen beginnt. Wie läuft ein solches Projekt ab? Die Lehrer sensibilisieren, das ist der erste Schritt: Ich frage sie also: ?Wenn ihr im Sommer eine neue Klasse übernehmt, wie vermeidet ihr, einfach mit eurem Stoff anzufangen, ohne darauf zu achten, was das für Schüler sind, die in eurer Klasse sitzen? Wie erfasst ihr ihre Lernvoraussetzungen? Dann stellt sich die Frage, wie man Früherfassung systematisieren kann. Was macht der ABU-Lehrer, was der Fachkundelehrer? Wo machen sie dasselbe, wissen aber nicht, was jeder tut? Anschliessend geht es darum, sich auszutauschen und zu organisieren, aufzuteilen, zu schauen, was noch fehlt. Das, worum sich Lehrer häufig nicht kümmern, sind die überfachlichen Kompetenzen. ?Verbreitet sind Sprachstandsanalysen, die Fachlehrer erheben häufig auch die Mathekenntnisse; aber die überfachlichen Kompetenzen werden nicht systematisch erfasst. Zuverlässigkeit zum Beispiel kommt oft erst zur Sprache, wenn die Lernenden in dieser Hinsicht negativ auffallen. Dann ist es aber häufig zu spät. ?Aus wissenschaftlichen Studien, etwa von Evi Schmid oder Barbara Stalder, wissen wir, dass es zu Lehrabbrüchen meist nicht wegen mangelnder Leistung kommt, sondern wegen fehlender Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenzen, wie man früher sagte; wegen überfachlicher Kompetenzen, sehr häufig wegen mangelnder Selbstkompetenz. Da müssten die Lehrer gründlicher hinschauen. Und wenn sie sich ein Bild gemacht haben, müssten sie die anderen Ausbildungspartner fragen: ?Wie zeigt sich der Schüler im überbetrieblichen Kurs, wie im Lehrbetrieb? Das wäre der nächste Schritt. ?Alle diese Schritte gehen wir nun in Biel miteinander an. Anschliessend setze ich mich mit der Schulleitung zusammen, und wir überlegen aufgrund der Rückmeldungen, welche Art von Weiterbildung es als Nächstes braucht. In dieser Phase habe ich hauptsächlich eine beraterische Funktion. Meine Firma heisst Beruf-Bildung-Entwicklung GmbH. Manchmal braucht es alle drei Komponenten. Und manchmal werde ich aus einem ganz bestimmten Grund angefragt, und im Gespräch stellt sich dann heraus, dass etwas anderes gebraucht wird, manchmal gehe ich also mit einem ganz anderen Auftrag aus dem Raum, als ursprünglich geplant war. Dann habe ich auch noch ein Hobby, das Projekt «Stopp Lehrabbruch» im Berner Oberland. ?Wenn wir einen Anruf bekommen, rufen wir innert vierundzwanzig Stunden zurück. Und innert achtundvierzig Stunden führen wir dann ein Gespräch mit den Beteiligten, wenn es gewünscht wird. Nur ein Beispiel, um zu zeigen, wie das ablaufen kann: Eine Mutter ruft an, am ersten oder zweiten Dezember, und sagt: Jetzt hat doch der Lehrmeister meinem Sohn erklärt, wenn er sich nicht ändere, brauche er im Januar überhaupt nicht mehr zur Arbeit zu kommen. Ich dachte zunächst, es gehe um einen Lernenden im ersten Jahr; der Lehrmeister wollte ihm vielleicht einen Zwick mit der Geissel geben, damit er sich endlich in Bewegung setzte. ?Aber nein, es ging um einen Lehrling im letzten Lehrjahr, bei dem im Frühjahr die Prüfung bevorstand. Die Mutter war eine Bauersfrau, alleinerziehend?– der ?Vater war gestorben. Sie wusste schlicht nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Ich rief also den Lehrmeister an ... … worum ging es denn? Der junge Mann arbeite recht, hiess es, auch in Berufskunde stehe er bei einer ?Vierkommafünf?– und könnte vermutlich sogar deutlich mehr leisten. Landschaftsgärtner würden aber in...


Gassmann, Christoph
Christoph Gassmann ist gelernter Buchhändler und hat an der Uni Zürich ein Studium in Geschichte und Philosophie abgeschlossen. Er arbeitete u.a. als Druckereiarbeiter, Setzer, Korrektor, Hausmeister, Reiseberater, Verlagswerber und Lektor (u.a. einige Jahre bei hep) und ist heute wissenschaftlicher Teilzeitmitarbeiter an der PH Zürich (Abteilung Berufsbildung) und ansonsten als Lektor und Korrektor freier fehlervogel.

Christoph Gassmann ist gelernter Buchhändler und hat an der Uni Zürich ein Studium in Geschichte und Philosophie abgeschlossen. Er arbeitete u.a. als Druckereiarbeiter, Setzer, Korrektor, Hausmeister, Reiseberater, Verlagswerber und Lektor (u.a. einige Jahre bei hep) und ist heute wissenschaftlicher Teilzeitmitarbeiter an der PH Zürich (Abteilung Berufsbildung) und ansonsten als Lektor und Korrektor freier fehlervogel.



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