Gasser Eine Weltgeschichte in 33 Romanen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25012-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-446-25012-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Markus Gasser, 1967 geboren, studierte Germanistik und Anglistik in Innsbruck, wo er heute als Privatdozent lehrt. Er lebt als Essayist und Kritiker in Zürich. Bei Hanser erschienen: Das Buch der Bücher für die Insel (2014), Eine Weltgeschichte in 33 Romanen (2015) und Die Launen der Liebe (2019). Auf seinem Youtube-Kanal 'Literatur ist alles' bespricht Markus Gasser mit großem Erfolg regelmäßig literarische Neuerscheinungen. Weitere Informationen: m-gasser.ch
Autoren/Hrsg.
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KAPITEL 1
DIE VERSUNKENE STADT
Evelyn Waugh: »Wiedersehen mit Brideshead«
Lyonesse, England, 1944 n.Chr.
Als man Wachen vor seinem Zelt postieren mußte, damit ihn die eigenen Leute nicht im Schlaf erschlugen, träumte sich Leutnant Evelyn Waugh Nacht für Nacht in eine glücklichere Vergangenheit zurück. Meist sah er sich dann im Bannkreis eines alten herrschaftlichen Hauses wieder mit seinen Säulen, Obelisken und golden aufleuchtenden Kuppeln inmitten eines Parks, wo eine bronzene Sonnenuhr daran gemahnte, daß jeder Tag ohne Lachen ein verlorener war. Damals trank Leutnant Waugh oft freudlos im Übermaß, und aus seinen Phantasieflügen erwachte er finster, verknöchert und kalt vor Zorn.
Sein Universum hatte sich zur Hölle verkehrt. Verflogen war die Freude, mit der er aus freien Stücken in die Armee eingetreten war, seitdem Großbritannien im Krieg gegen Hitler einen Stalin als Kampfgefährten erdulden mußte, der wie Hitler plante, den Kontinent unter seine Herrschaft zu zwingen. Vor die Wahl zwischen diesen beiden Bestien gestellt, hätte er sich ungerührt erschießen lassen. Seine anarchische Spottlust war nie zimperlich gewesen; nun aber kannte sie keine Rangunterschiede mehr. Gemeine Soldaten, die auch nur ein klein wenig Verständnis für die Ausrottungsideologien jener Jahre bekundeten, wies er mit arktisch lächelnden Kränkungen zurecht. Strammbürokratisch blasierte Generäle auf Besuch in Englands Hinterlandquartieren übergoß er scheinbar zufällig mit einem Glas billigen Rotweins und erklärte, er werde seine größte Tugend, die Trinkseligkeit, nicht der Laune einer leeren, wenn auch hochdekorierten Uniform opfern. So war er in Ungnade gefallen – eigentlich Schriftsteller von Beruf und auch darin ein Schandmaul seit je, älter als seine Jahre, untersetzt, dicklich und zuallererst sich selbst eine Last. Er hatte nicht einfach nur Feinde: auch seine besten Freunde brachte er mit einem wohlgezielten Satz gegen sich auf. Selten in der Geschichte des britischen Militärs war ein Antrag auf Diensturlaub begeisterter bewilligt worden: Noch als er längst verschwunden war, dachte man sich in der Offiziersmesse sportsmäßig die qualvollsten Todesarten für ihn aus.
Jenen Kosmos von Frieden und Pracht, den sich Leutnant Evelyn Waugh im Rücken böser Zeit verzweifelt erträumt hatte, gewann er erst im Hotel Eastern Court, Dartmoor, zur Gänze wieder zurück. Das kleine Hotel kauerte, seit dem Mittelalter kaum verändert, wie in einer anderen Zeit – auch wenn es mit derselben Nahrungsknappheit geschlagen war wie der Rest des Königreichs. Spätnachts konnte man hungrige Kobolde auf ihrer Suche nach ein paar Eiern leise vor sich hin schimpfen hören. In den düsteren, geduckten Zimmern qualmten die Kamine, und draußen glucksten die Moore gespenstisch und karg. Mit nie gekannter Schadenfreude hätte sich seine Kompanie daran ergötzt, wie dieser Widerling verdrossen zerkochte Sojabohnen kaute und sich nach seinem Wein verzehrte, der ihm in den schönsten Jahren seines Lebens mit okkulter Kraft zur Gewißheit verholfen hatte, daß die Menschheit jeder Katastrophe gewachsen war.
Schriftsteller schreiben, weil ihnen etwas fehlt, und an einem magenleeren Februarmorgen des Jahres 1944 – die Alliierten waren im Ansturm auf Rom – nahm Waugh verfroren und verschnupft sein Opus Magnum in Angriff, »Brideshead Revisited«, »Wiedersehen mit Brideshead«, und die aus Hitler und Stalin gewirkte Hölle verblaßte darin und verschwand.
Die Kobolde hielten den Atem an. Zersprengt war die Mauer, die ihn vom ersehnten Damals trennte, und auf einmal sah er sich in das champagnerklare Oxford seiner sinnenreich verbummelten Studienjahre zwischen den Kriegen entrückt. In Dartmoor darbte er; zugleich aber lehnte er beschwingt am kühlen Stein einer Kirche in Oxford im Sommer 1923 nach einem majestätisch üppigen Mahl und noch und noch einem Glas Cointreau. Im Erdgeschoß des Eastern Court nahmen ältere Damen angewidert und verzagt ihr bißchen Frühstück ein; er genoß währenddessen, überwältigt von der ersten großen Liebe seines Lebens, in einem hochherzigen Venedig überbackene Sandwiches in »Harry’s Bar« oder rollte in einem schnurrenden Cabriolet durch ein Tal zum Herrensitz Brideshead mit der lachlustigen Sonnenuhr und einem Weinkeller, dessen Flaschen sofort geleert werden mußten, bevor sie verdarben. Nach einem sachten Gewitter kehrten die Schmetterlinge zu ihren Kastanienblüten zurück; und er war daheim.
Niemals wieder kam Waugh dem Himmel so nah. Als die Alliierten im Sommer 1944 sein Europa befreiten, erlöste er Lord Marchmain von Brideshead auf Papier aus der Qual des Sterbens und brachte sein Werk zur Vollendung. Er hatte sein ganz persönliches Lyonesse geborgen, jene mythische »Stadt der Löwen« an Englands Küste, die einst im Meer versunken war. Noch zu seiner Zeit zogen die Fischer von Cornwall in ihren Netzen Hausrat aus dieser Stadt ins Trockene hoch, erspähten die Dächer und Türme und Korallenpaläste und dicht wogenden Wälder im Wasser und hörten die Kirchenglocken vom Grund des Ozeans her läuten zur Warnung für Boote, die der Sturm in den Rachen der Klippen trieb.
Warum kam Evelyn Waugh diese keltische Legende um Lyonesse so bezaubernd vor? Sie rechnete mit dem ältesten Zeitvertreib der Menschheit ab: Kaum war ihr im Kampf um Unsterblichkeit eine Zivilisation geglückt, wünschte sie sich schnurstracks wieder deren Untergang herbei. Bald würde Waugh unter Indiens dunstigen Mangrovenwäldern die Ruinen gestürzter Städte erahnen, die dem zermürbenden Monsun anheimgefallen und nunmehr von Affen bewohnt waren, die ohne Gedächtnis kreischend nicht wußten, worauf sie da hockten. Sie erinnerten ihn an die Utopisten, die plump und roh die Vergangenheit samt und sonders der Plünderung preisgaben und von unaussprechlich Großem im Nebel einer Zukunft schwärmten, die kein Mensch je heil überstand. Wenn es nach denen ging, mußte immerzu irgendwas bröckeln: der nachbarliche Pfahlbau hier, ein Imperium dort. Die indischen Reiseführer indes sprachen von ihren antiken Königen, als wären sie selbst es gewesen, die einst jene Städte errichten ließen. »Sie können nicht vergehen«, versicherten sie und tippten sich an die Stirn: »Hier drin gibt es sie noch«. Wen wird es verwundern, daß für Schriftsteller wie Waugh alles Frühere Lyonesse ist, eine versunkene Stadt? Was soeben noch unwiederbringlich entschwunden schien, holen sie im Feuereifer ihrer Beschwörungsmacht Stück für Stück aus den Fluten an Land.
Nie werden wir hautnah in Erfahrung bringen, wie die Vergangenheit wirklich war; doch was Schriftsteller ihren Fundstücken abgewinnen konnten, wiegt das Verlorene auf, und manches Werk besitzt solche Lebendigkeit, daß es sich gegen jede historische Berichtigung zu behaupten weiß: Der Julius Caesar von Shakespeare wird der Julius Caesar schlechthin bleiben und Marc Anton – »Freunde, Römer, Mitbürger, hört mich an« – auf ewig seine Rede vor Caesars Leichnam gehalten haben, weil Shakespeare sie für ihn geschrieben hat. Plötzlich steckt man in der Menge auf dem Forum Romanum fest und reibt sich die Augen: Sie ist realer als unser Hier und Jetzt um uns her. Was geht hier vor? Wir haben uns lediglich zur Millionengemeinde der leidenschaftlich phantasiehörigen Leser bekehrt. Man glaubt, man hätte nur ein Leben; dann öffnet man ein Buch, tritt ein, hängt ein Schild vor die Tür, »Bitte nicht stören, bin auf Zeitreise« – und schon hat es einen mitten hineinverschlagen in die fernsten Epochen, als gehörten sie unserer privaten Erinnerung an. Wir sind, so heißt es, die Geschichten, die wir von uns erzählen können; mit jedem Buch wächst uns eine neue zu, und nur die Kürze unseres Daseins verhindert, daß wir die gesamte Menschheit in uns versammeln.
Derart verwandelt, ist uns beinah jede Rolle recht. Zustoßen wird uns schon nichts. Niemand kam bislang, nur weil er von den Kreuzzügen las, durch einen Schwerthieb um. In jedem Dereinst hätten wir auch jedermann sein können, etwa der bespöttelt erfolglose Gaukler dort, der sich von Wallensteins Regimentern anwerben läßt, oder jene Korbflechterin, die nachts nicht schlafen kann, weil sie ihre Halbschwester verdächtigt, sie treibe Schwarze Magie; ein blutjunger Priester der Maya, der sein Messer zitternd über die Brust seines Opfers hält und nicht zustechen kann; ein römischer Legionär, der sich, angeekelt von den drogenpilzbegeisterten Folterritualen der Wilden, in der grauen Einöde Britanniens nach seiner Frau auf Sizilien sehnt; der hilflos haspelnde Berater eines Pharao, der bezweifelt, Gott zu sein, und genug davon hat, sich in einem Tempel selber anzubeten, und eine Königin, Hatschepsut, die nichts lieber wäre als Gott und bei öffentlichen Anlässen deshalb einen künstlich befestigten Kinnbart trägt, der ärgerlich kitzelt; oder jener Holzwurm auf Noahs Arche, der darüber staunt, daß der Schöpfer, als er auf sein Schwemmgericht verfiel, dabei nicht gleich mit aller Kreatur reinen Tisch zu machen beschloß. Und der letzte Dinosaurier, der sich beschämt – und als »tumber Kaltblütler«, »feuerverspieener Raublurch« und »Eidechsenschnauze« beschimpft – von den ersten Menschen anhören muß, was für ein Evolutionssegen das Aussterben seiner Spezies doch war.
Seien wir nicht überrascht: Notgedrungen nehmen die schwindelnden Metamorphosen hinauf und hinab zu den Anfängen der Anfänge traumhafte Formen an. Unter Ruinen liegen meist weitere Ruinen begraben, und so gibt es, machen wir uns auf die Suche nach dem Ursprung der Dinge, immer noch und noch ein Davor, das sich zuletzt im Es-war-einmal verliert. Ohnedies verfügen Schriftsteller über den mythischen Blick und phantasieren sich gern bis ins...




