Gasser | Die Launen der Liebe | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Gasser Die Launen der Liebe

Wahre Geschichten von Büchern und Leidenschaften

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-446-26300-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was wäre Literatur ohne die großen Gefühle? Markus Gasser erzählt erstaunliche Liebesgeschichten aus der Weltliteratur: Vom sehnsuchtsvollen Blick über den ersten Kuss und die erste Nacht bis zu Verrat, Trennung, Versöhnung – und über das Ende hinaus. Oft genug verbirgt sich hinter den Werken von Marguerite Duras, John Updike, García Márquez, Vladimir Nabokov oder Sylvia Plath deren eigene Erfahrung – und so schildert Gasser auch, wie Autoren ihre teilweise unbekannten Abenteuer in Literatur verwandelt haben. Dies ist ein Buch über Bücher und Menschen, die liebten und von ihrer Liebe erzählen mussten. Und in manchen der Geschichten wird man sich wiederfinden …
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KAPITEL I   VON DER LIEBE, DIE NIEMALS ENDET   Ein Geheimnis zu Beginn     1
  Im Sommer des Jahres 1974, in dem Richard Nixon von seinem Amt als Präsident der Vereinigten Staaten zurücktrat, verlor Frieda Hughes den Glauben an ihren Vater, der wie Gott für sie war. Ihr Vater, Ted Hughes, machte sie wortreich vertraut mit den Namen der Bäume und der Gestirne, die ihr Schicksal bestimmten, mit dem schwebenden Flug des Bussards in der Spannkraft der Luft. Doch immer wenn sie ihn nach dem frühen Tod der Mutter fragte, erwiderte er nur knapp und in Traurigkeit verschlossen, sie sei an einer Lungenkrankheit gestorben. Blinzelnd nahm sie es hin. Jetzt aber, im Wochenendcamp von Devon, wo die Vierzehnjährige das Schreiben lernen sollte, wie doch nur ihr Vater es konnte, versicherte ihr in einer sonnenstaubigen Kammer des Camps eines der Mädchen mit theatralisch kühlem Blick, ihre Mutter Sylvia Plath hätte Selbstmord begangen. Das wisse doch jeder. Das federnde Bett, in dem sich Frieda Hughes eben noch träumerisch gewiegt hatte, gab stutzend sein Knarren auf, und ihr Vater war im Handumdrehen ein Lügner wie jeder andere Erwachsene auch. Irgendwie hatte sie immer geahnt, dass an der Geschichte ihrer berühmten Dichtereltern etwas nicht stimmte, ein Geheimnis dahinter verborgen lag, und als sie ihren Vater schließlich zur Rede stellte, brach es aus ihm hervor, ohnmächtig, erleichtert, »Wie erklärt man das einer Dreijährigen, einer Zehnjährigen, wie erkläre ich es dir jetzt?« Wie erklärte man überhaupt jemandem, wie erklärte man zuallererst sich selbst, was man als eine geradezu klassische Liebesgeschichte erlebt hatte? Wie erklärte man die unglaubhaft glücklichen Jahre und dann den Absturz ins Nichts?     2
  Als Sylvia Plath und Ted Hughes einander an einem Februarabend 1956 zum ersten Mal erblickten, war es, als hätten ihre Augen nie etwas anderes getan. »Bang!« hatte es gemacht und »Smash!«, notierte Sylvia Plath am späten Morgen nach der Party in ihr Tagebuch; und Ted Hughes ging die Erinnerung an sie– so schrieb er ihr– wärmend durch die Adern wie Brandy. Sie war es, die ihm einen Antrag machte, und sie heirateten heimlich: Ein Hilfsgeistlicher gab den Trauzeugen ab, obwohl er eigentlich eine Busladung Kinder zum Zoo fahren sollte. Sie waren voneinander durchdrungen. Ihre Seelenverwandtschaft ging so weit, dass man später Gedichtentwürfe Sylvia Plaths auf der Vorderseite und von Ted Hughes auf der Rückseite desselben Blattes fand. Sie hörten so andächtig aufeinander, wie man der Meeresbrandung in einer Muschel lauscht. Kaum ein Tag verging, den sie nicht gemeinsam verbrachten. Sie war Cathy, er war Heathcliff aus der »Sturmhöhe« Emily Brontës: Sie lebten aus, wovon die Literatur voll war. Sieben Jahre später, an einem Februarmorgen des Jahres 1963, öffnete Sylvia Plath die Backofentür, nachdem sie Frieda und dem kleinen Nicholas das Frühstück neben die Kinderbettchen gestellt hatte, und kniete sich ins ausströmende Gas. Was war geschehen? Wie konnte eine derart maßlose Zweisamkeit ein so erbärmliches Ende nehmen? Hatte Ted Hughes versagt, ein Verbrechen begangen– und wenn ja, wie und wann genau in jenen Jahren zwischen der ersten Begegnung und ihrem Freitod? An welchem Punkt hätte alles anders kommen können? Obwohl er sie als ihr Nachlassverwalter zu einer Gottheit erhob, zur vollkommensten Dichterin Amerikas jener Jahre, galt Ted Hughes nunmehr als der Mörder seiner Frau. Ein Gerangel um Sylvia Plaths Inbesitznahme begann, als ginge es um das Millionenerbe eines eben verstorbenen Filmstars. Man durchforschte ihre Gedichte nach Vorahnungen des Todes und nach den Wunden, die Ted Hughes ihr geschlagen haben mochte. In Australien brach er eine Lesung ab, weil ihn Sprechchöre aus dem Publikum als Triebtäter beschimpften. Viermal kratzte jemand den Namen »Hughes« aus Sylvia Plaths Grabstein in Yorkshire. Bald wollte Ted Hughes nicht mehr zählen, wie oft er die Polizei verständigt hatte wegen der blutrünstigen Drohbriefe aus der Sylvia-Plath-Gemeinde, die er doch selbst begründet hatte. Zu alledem schwieg er. Und trotzdem fühlte er sich von der Notwendigkeit gepackt, sie beide ins rechte Licht zu rücken. Denn immer häufiger überraschte er sich dabei, laut mit Sylvia zu debattieren, als lebte sie noch. Heimlich für sich hatte er auch bald nach ihrem Tod an Gedichten zu arbeiten begonnen, den »Birthday Letters«, die ihre gemeinsame Geschichte erzählten. In ihnen wollte er Sylvia wie Orpheus Eurydike aus dem Totenreich heraufholen und wiedergewinnen und sie erkennen lassen, dass er immer nur sie geliebt hatte und keine andere und dass er sie lieben würde auch über seinen Tod hinaus, bis eine Hand aus den Schatten behutsam seine Schulter berührte und eine Stimme flüsterte: »Lass mich diesmal nicht im Stich.« Das war sein allerletztes Wort, aus ihrem Mund in seine Feder gesprochen, abgedruckt in der Londoner »Sunday Times«, 1998, zehn Tage vor seinem Tod. Hatte er sie diesmal wirklich nicht im Stich gelassen? In seinen »Birthday Letters« beschwor er die Erinnerung an ihr Leben zu zweit, beschwor Zeile um Zeile Sylvias Gedichte, Tagebücher, Erzählungen. Hatte er damit zumindest postum das Versprechen ihres schöpferischen Beieinanders eingelöst, an dem Sylvia festgehalten hatte bis zum Schluss? Was auch immer er in den »Birthday Letters« verschwiegen, verbrämt, verschleiert und zurechtgebogen hatte: Plötzlich fragten sich die Leser, ob nicht Sylvia Plath versagt und sich selbst in die Verzweiflung getrieben hatte. Plötzlich stand da nur ein Witwer mit zwei Halbwaisen, Frieda und Nicholas, »vom Leben fallengelassen«, so schrieb er– und »Du stirbst nicht und kommst auch nicht nach Haus«. Oft war Ted Hughes eine Gestalt ihrer Gedichte gewesen, Raubtier, Vampir, dunkel, unwiderstehlich, dämonisch; nun war Sylvia Plath die seine. Dank der »Birthday Letters« aus dem Gefängnis seiner Erinnerungen erlöst, machte er sich ans Sterben: Ihrer beider Leben gehörte von nun an allen– nur ihnen beiden nicht mehr. Desto schwerer lastete auf der erschrockenen Nachwelt das Rätsel um dieses unsterblich gewordene Paar: Worin hatte Sylvia Plath versagt, und welches Verbrechen hatte Ted Hughes tatsächlich begangen?     3
  Seit Goethes Leiden im »Werther« verwandelten Schriftsteller wie Sylvia Plath und Ted Hughes ihre Begegnungen mit der Liebe in Geschichten und ließen ihre Geschöpfe die Gewalt ihrer Leidenschaften durchleben, euphorisch und bitter, ihre Sehnsüchte, Kämpfe und Demütigungen, ihr Elend und ihre Seligkeit. Als Liebende unterschieden sich diese Autoren kaum von anderen Menschen. Genauso wenig wie ihre Leser wussten sie, was die Liebe ihrem Wesen nach ist. Ihnen war es genug, ihre Auswirkungen am eigenen Leib erfahren zu haben, um zu wissen, dass es sie wirklich gibt und dass sie kein Ende nimmt in all ihrem Schrecken und Hochgefühl. Indem sie von ihren Erfahrungen Gebrauch machten, bekenntnishaft oft und rücksichtslos gegen sich und andere, gelangen ihnen Werke von einer derart souveränen Kraft, dass uns ihre Charaktere wie wahre Menschen entgegentreten. Sie treffen uns ein ums andere Mal, wie ein Donnerschlag aus der Stille, mitten ins Herz. Vom Ideal ewig ungetrübten Glücks, das die große Liebe in der westlichen Welt mit sich führt, ließen sich diese Autoren nicht täuschen. Keiner von ihnen hielt bei jenem Augenblick inne, da sich ein Paar nach schier unüberwindlichen Hindernissen– die Braut ist geraubt, einem anderen versprochen, die Familie dagegen– endlich in die Arme schließt und in den Hafen der Ehe einläuft. Für sie fing danach das Abenteuer erst an: Sie erzählten von Paaren, denen bald die Kleinlichkeit, Gereiztheit und schale Beharrlichkeit des Alltags, der Zwist um die richtige Erziehung der Kinder, bald selbstsüchtige Unbesonnenheit, bald ein Treuebruch die Liebe lähmte, bis sie einander die Seele aus dem Leib geplagt hatten und zusammen buchstäblich keinen Sinn mehr ergaben. Sie erzählten, wie die Begierde zu versiegen anfing, die Liebe zu Machtspielen verkümmerte, zu Verhandlungen unter Erpressten und Erpressern der finstersten Sorte, wie die Lebensvorstellung des einen diejenige des anderen durchkreuzte, sich ein Dritter dazwischendrängte und ihr Beisammensein sprengte. Doch alle ihre Paare bewiesen, dass es Durchschnittsmenschen nicht gibt, hat das Erdbeben der Liebe sie einmal erfasst. Banal ist ohnehin keiner, sieht man genauer hin; doch in der Liebe wachsen wir zu unserer wirklichen Größe auf, gehen durch jedes Feuer wie der Salamander aus alten Legenden, werden zu Ungeheuern, Verschwörern und Helden. So erzählten sie auch, wie ein Paar gegen alle Widrigkeiten zusammenstand; erzählten von Menschen, die nach einer Trennung das Leben noch einmal vor sich haben wollten und für einen Neubeginn ihre Schwächen, Ansprüche, Sicherheiten über Bord warfen; und dass der Glaube an die Liebe selbst im Alter wiedergefunden werden konnte bis zur Hoffnung auf ein gemeinsames Leben nach dem Tod. Für diese Autoren– für Vladimir Nabokov etwa und Emily Brontë, für John Updike und Marguerite Duras– war die Liebe weit mehr als nur ihr Thema. Sie war die Triebkraft ihres Tuns. Wie jedem anderen auch gab sie ihnen Rätsel auf: Was wäre geschehen, wenn ich diesem Menschen niemals begegnet wäre, wenn ich ihn, wenn ich sie damals verlassen hätte? Was machte unsere Liebe so stark, dass sie alle Krisen überwand? In welchem Augenblick habe ich den einen Fehler begangen, der uns scheitern ließ? Wer bin ich ohne den anderen? Wäre ich besser allein...


Gasser, Markus
Markus Gasser, 1967 geboren, studierte Germanistik und Anglistik in Innsbruck, wo er heute als Privatdozent lehrt. Er lebt als Essayist und Kritiker in Zürich. Bei Hanser erschienen: Das Buch der Bücher für die Insel (2014) und Eine Weltgeschichte in 33 Romanen (2015). Auf seinem Youtube-Kanal "Literatur ist alles" bespricht Markus Gasser mit großem Erfolg regelmäßig literarische Neuerscheinungen. Weitere Informationen: m-gasser.ch


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