E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Gasdanow Nächtliche Wege
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-446-26064-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-446-26064-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tagsüber studiert er, nachts arbeitet der Erzähler als Taxichauffeur. Er verkehrt mit Dieben und Zuhältern, Selbstmördern und Clochards, Verrückten und Alkoholikern. Drei Halbweltdamen haben ihn zu ihrem Vertrauten gemacht: Raldy, die ehemalige Luxusprostituierte, Alice, ihre untreue Schülerin, und Suzanne mit dem Goldzahn. Sie hat den Sprung ins bürgerliche Leben geschafft und hätte mit Fedortschenko fast ihr Glück gefunden. Gasdanow, der im Exil sein Geld als Taxifahrer verdiente, erzählt vom Leben der Emigranten im Paris der dreißiger Jahre, zwischen brennender Nostalgie und einer heillosen Gegenwart. "Nächtliche Wege" ist ein Meisterwerk der literarischen Moderne.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
»Die trinken feste«, flüsterte Aristarch Alexandrowitsch mir zu, »guck nur, voll wie die Haubitzen. Andererseits – kann man Russen etwa einen Vorwurf daraus machen?« Er schüttelte den Kopf und fragte mich dann plötzlich: »Und du trinkst immer noch nicht, wie in Russland?« »Nein.« »Das ist gut«, sagte er mit jäher Zustimmung und schlug mir auf die Schulter. »Das ist großartig, dass du nicht trinkst. Fang um Gottes willen nicht damit an, sonst gehst du vor die Hunde.« Wir saßen noch lange dort und redeten miteinander. Die Kosaken gingen, wir blieben unter uns. In der Mitte des riesigen Zimmers bullerte leise der Ofen, der Regen schlug nach wie vor auf die Bretter, und während ich dem eintönigen Geräusch und dem vergessenen Klang von Tropfen auf Holz lauschte, wurde in mir eine ungemein lebendige Erinnerung an regnerische Herbstabende in Russland wach, an nasse, in sprühendem Dunkel versinkende Felder, an Züge, an die ferne, in schwarzer Luft schaukelnde Laterne des Rangierers, an den nächtlichen gedehnten Pfiff der Lokomotive. Es war tiefe Nacht, als ich ging. »Brauchst du Geld?«, fragte Aristarch Alexandrowitsch. »Sag es nur, mein lieber Kleiner, genier dich nicht. Nimm dir direkt ein Taxi und fahr heim, du wirst doch bei diesem Wetter nicht zu Fuß gehen. An unserem Stellplatz hier steht ein russischer Chauffeur, er war früher Diakon im Gouvernement Wladimir. Mit dem fahre ich immer.« Doch als ich fast ein halbes Jahr später zufällig wieder nach Billancourt kam und in Aristarch Alexandrowitschs Restaurant vorbeischauen wollte, scheiterte ich rätselhafterweise: Ich konnte es nicht finden. Und obwohl ich den Eindruck hatte, ich wäre richtig gegangen und sogar bis zu dem Brachfeld gelangt, wo es gestanden hatte – das Restaurant war nicht da. Da das spurlose Verschwinden eines großen Gebäudes mir unmöglich erschien, dachte ich, ich hätte mich einfach geirrt und den Weg nicht mehr gewusst. Ich hatte keine Zeit, lange nach Aristarch Alexandrowitsch zu fahnden – und fuhr nach Paris zurück in der Hoffnung, beim nächsten Mal mehr Glück zu haben. Freilich kam es mir immer noch so vor, als hätte das Restaurant genau auf diesem Brachfeld gestanden, das jetzt zu Frühlingsbeginn bereits schwermütig sein kümmerliches grünes Gras herzeigte und wo hier und dort irgendwelche formlosen Trümmer herumlagen. Einige Tage darauf sah ich Aristarch Alexandrowitsch in einer entgegenkommenden Metro, zwar nur zwei, drei Sekunden, doch ich bemerkte verwundert, dass er ein abgetragenes Jackett, eine speckige Schirmmütze und einen grünen Schal trug. Aristarch Alexandrowitsch sah mich nicht. Aber ich hatte mich bestimmt nicht geirrt – er war es. Wieder zwei Monate später erhielt ich eine Postkarte von ihm, er komme in die Stadt, werde dann-und-dann in dem-und-dem Café sein und freue sich, mich zu sehen. Ich traf ihn dort an – in prächtigem grauem Kostüm, Strohhut und schimmernden gelben Schuhen; er war zufrieden und sagte, geschäftlich könne er sich nicht beklagen. Ich erzählte ihm von dem wundersamen Verschwinden des Restaurants, er lachte über meine schlechte Orientierung und erinnerte daran, dass man mich in Russland nie allein zur Geländeerkundung geschickt habe, aus Furcht, ich könne mich verirren. Trotzdem schien mir, als wäre er ein wenig betreten gewesen – allerdings nur ganz kurz. Und erst einige Zeit darauf erfuhr ich, wie sich sowohl das phantastische Verschwinden des Restaurants als auch Aristarch Alexandrowitschs überraschender Garderobenwechsel erklären ließen. Ich bekam es von Leuten erzählt, die ihn schon lange und gut kannten. Er war ein ausgezeichneter Wirt und ein hervorragender Organisator. Regelmäßig ging er in der Fabrik oder im Bergwerk arbeiten und sparte über Monate hinweg Geld. Dann, wenn er über ein bestimmtes Kapital verfügte, von Kameraden geliehen hatte, was sie nur geben konnten, und seine Kreditmöglichkeiten ausgeschöpft waren, eröffnete er ein Restaurant und machte sofort Gewinn. Er beglich seine Schulden, wurde reich, kaufte teure Anzüge, zog in eine gute Wohnung, und so lief es glücklich ein paar Monate, manchmal ein knappes Jahr, bis er eines schönen Tages zu viel trank und aus heiterem Himmel in eine karitative Raserei verfiel. Er stand mitten in seinem Restaurant, das Haar zerzaust, die Krawatte schief, und schrie: »Trinkt, Leute, esst und trinkt, geht alles auf mich! Wir sind doch Russen, Brüder, wenn wir uns nicht helfen, wer hilft uns dann? Alles umsonst, liebe Leute, nur denkt an Aristarch Alexandrowitsch Kulikow; wenn was passiert, dann steht ihm bei!« Massenweise strömten Bekannte, halbwegs Bekannte und gänzlich Unbekannte zu ihm, und im Restaurant herrschte etwa zwei Wochen lang von morgens bis abends Radau und Geschrei. Seine Freunde versuchten währenddessen, alles nur Mögliche fortzuschaffen – Geld, Kleidung und sogar Geschirr, denn sie wussten, dass die Geschichte ihrem Ende zuging, und hofften, wenigstens etwas retten zu können. Doch wenn Aristarch Alexandrowitsch einen von ihnen erwischte, geriet er außer sich, schrie, er werde bestohlen, und nahm dem Betreffenden weg, was der in Sicherheit bringen wollte. Dann legte der Tumult sich eines Tages, das Restaurant wurde geschlossen, die Lieferanten bekamen ihr Geld nicht – und Aristarch Alexandrowitsch, abgemagert, verändert und verstummt, tauchte unter. Er nahm erneut eine Stelle in der Fabrik an, arbeitete lange und beharrlich, beglich wieder seine Schulden, dankte allen demütig, die seine Sachen fortgeschafft und aufbewahrt hatten – und eröffnete nach einiger Zeit erneut ein Restaurant. Und dass ich das Brachfeld unbebaut vorfand, ließ sich keineswegs mit meiner mangelnden Orientierung erklären, sondern damit, dass Aristarch Alexandrowitschs Restaurant, das tatsächlich dort gestanden hatte, abgebrochen und bis zum letzten durchnässten Brett zur Schuldentilgung verkauft worden war. * * * Die Pariser Wintermonate verstrichen, der Frühling brach an, die Nächte waren noch kühl, aber tagsüber und abends war es manchmal schon warm. An einem dieser Abende traf ich Raldy wieder. Sie saß auf der Terrasse ihres Cafés und wirkte noch älter und gebrechlicher als früher. Doch sie war nicht allein. Neben ihr, das eine tadellos geformte Bein über das andere geschlagen – der Rock ließ die Knie frei –, saß eine junge Frau von zwanzig, zweiundzwanzig Jahren. Sie war so schön, dass mir, als ich sie sah, für einen Moment der Atem stockte; vor allem fielen ihre außergewöhnlich voll wirkenden roten Lippen, ihre länglichen tiefblauen Augen und ihre herrlichen Zähne auf – als ich sie sah, lächelte sie gerade, während sie mit Raldy sprach. »Das ist meine junge Freundin«, sagte Raldy, als sie mich begrüßt hatte, »sag mir, wie du sie findest.« Und erst da, als ich diese bildhübsche junge Frau aufmerksam betrachtete, bemerkte ich auf ihren Augen jenes halbdurchsichtige Häutchen, jenen Film animalischer Stumpfheit, den ich so gut kannte und der für fast alle Frauen dieses Gewerbes charakteristisch war. Doch sie war dermaßen schön, so über alle Maßen schön, dass meine ganze langjährige Erfahrung und meine gesammelte, stets auf eine Enttäuschung gefasste Traurigkeit nötig waren, um dieses eine, fast unsichtbare Etwas in ihrem Gesichtsausdruck, um diesen einzigen, halb körperlichen, halb seelischen Makel zu entdecken. »Sie ist wundervoll«, sagte ich zu Raldy. Sie sah mich durchdringend an und sagte: »Du wolltest nie mit mir gehen, und letzten Endes ist das verständlich. Doch ich hoffe, dass du es nicht ablehnst, Zeit mit meiner Freundin zu verbringen. Du weißt, dass das für dich nichts kostet.« Ich schüttelte verneinend den Kopf. »Je besser ich dich kenne, desto mehr glaube ich, dass du einfach nicht normal bist«, sagte Raldy seufzend. »Erzähl mir, wie es dir geht, ich habe dich lange nicht gesehen.« Doch ich blickte unverwandt Alice an – sie hieß Alice. Eine Viertelstunde später sah ich sie in Raldys Zimmer vollkommen nackt – sie zog sich vor mir um. Eine solch hinreißende Vollkommenheit hatte ich mir nicht einmal vorstellen können. Sie hatte feste, weit voneinander abstehende Brüste, einen ganz leicht einsinkenden und dann mit zauberischer Unmerklichkeit sich vorwölbenden Bauch, leuchtende Haut und lange Beine von idealer Form; nach einigen Sekunden kam es mir vor, als würde der herrliche Körper ins Fließen geraten und vor meinen Augen verschwimmen. »Bleib so«, sagte Raldy, »ich möchte, dass er dich ausgiebig anschauen kann, während du nackt bist.« Nachdem ich gegangen war, brauchte ich einige Zeit, um zu meinem normalen Zustand zurückzufinden; ich stand neben meinem Auto, um mich ans Steuer zu setzen, tat es aber nicht: Ich sah diesen Körper und dieses Gesicht vor mir, diese leuchtende, unfassbare Schönheit. Und noch viel später stockte mir jedes Mal, wenn ich mich daran erinnerte, für einen Moment der Atem. »Sie ist so wundervoll«, sagte ich zu Raldy, als ich mich ein paar Tage darauf mit ihr unterhielt, »dass allein ihr Anblick ein Vermögen wert ist.« Raldy lächelte – wie immer halb zärtlich, halb spöttisch – und sagte dann, ohne sie, Raldy, wäre Alice für immer ein Straßenmädchen geblieben, sie jedoch werde eine Halbweltdame aus ihr machen. Sie fügte hinzu, es mangele ihr für diese Laufbahn allerdings an vielem, vor allem an Intelligenz und Auffassungsgabe. »Glauben Sie?«, sagte ich. »Mir scheint, allein ihr Aussehen …« »Es gibt viele schöne Frauen«, antwortete Raldy, »doch nur eine von tausend erreicht etwas. Hast du nie daran gedacht? Schönheit allein genügt nicht, oder bist du anderer Meinung?« »Nein,...