Gasdanow | Ein Abend bei Claire | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Gasdanow Ein Abend bei Claire

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24537-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-446-24537-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Geschichte einer großen Liebe und eine unvergessliche Schilderung Russlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts: 1917 begegnet der verträumte Kolja im vorrevolutionären St. Petersburg der bezaubernden Claire und verliebt sich in sie. Aber das Phantasiebild dieser Frau ist für ihn so viel wirklicher als die Realität, dass er ihr nicht zu folgen wagt, als die verheiratete Claire ihn eines Abends zu sich lädt. Nach der langen, sinnlosen Grausamkeit des Bürgerkriegs will er nun, Jahre später, Claire im Pariser Exil wiederfinden. Mit den Mitteln des modernen Erzählens erweckt Gaito Gasdanow die vergangene Welt seiner Jugend wieder zum Leben. Ein Abgesang auf die romantische Liebe, der bis heute ergreift und berührt.

Gaito Gasdanow, 1903 in St. Petersburg geboren und 1971 in München gestorben, gilt als einer der wichtigsten russischen Exilautoren des frühen 20. Jahrhunderts. Seit 1923 lebte er im Exil in Paris, wo er begann, regelmäßig literarische und journalistische Texte zu veröffentlichen. Wegen der existentialistischen Prägung seines Werks wurde Gasdanow wiederholt als der 'russische Camus' bezeichnet. Sein Werk umfasst zahlreiche Romane und Erzählungen. Im Hanser Verlag erschienen die Romane Das Phantom des Alexander Wolf (2012), Ein Abend bei Claire (2014), Die Rückkehr des Buddha (2016), Nächtliche Wege (2018) und zuletzt die Erzählungen Schwarze Schwäne (2021).
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Mein Leben gab mir die Gewähr,

Ich würde dir dereinst begegnen.

Alexander Puschkin

Claire war krank; ganze Abende hindurch saß ich bei ihr, und wenn ich aufbrach, verpasste ich jedesmal unweigerlich den letzten Zug der Untergrundbahn und ging dann zu Fuß von der Rue Raynouard zur Place Saint-Michel, in deren Nähe ich wohnte. Ich kam an den Pferdeställen der École Militaire vorüber, von dort schlug mir das Klirren der Ketten, mit denen die Pferde angebunden waren, und heftiger, für Paris so unüblicher Pferdegeruch entgegen; dann schritt ich durch die lange und schmale Rue Babylone, und gegen Ende dieser Straße blickte mich aus einer Photovitrine, im trügerischen Licht ferner Straßenlaternen, das Gesicht eines berühmten Schriftstellers an, gänzlich aus schrägen Flächen zusammengesetzt; die allwissenden Augen hinter der europäischen Hornbrille begleiteten mich ein halbes Häuserkarree, bis ich das funkelnde schwarze Band des Boulevard Raspail überquerte. Endlich erreichte ich die Gegend meines Hotels. Geschäftige alte Frauen, die Kleidung zerlumpt, überholten mich, trippelten auf schwachen Beinen; über der Seine brannten zahllose Lichter, im Dunkel versinkend, und wenn ich von der Brücke darauf blickte, hatte ich bald den Eindruck, als stünde ich über einem Hafen und als wäre das Meer bedeckt von ausländischen Schiffen, auf denen die Laternen angezündet waren. Ein letzter Blick zurück auf die Seine, und ich stieg hinauf in mein Zimmer und legte mich schlafen und tauchte sogleich in tiefe Finsternis; darin regten sich irgendwelche bebenden Leiber, manchmal kamen sie gar nicht dazu, sich in Gestalten zu verkörpern, wie mein Auge sie gewohnt war, und verschwanden wieder, unverkörpert; im Traum bedauerte ich ihr Verschwinden, empfand Mitgefühl für ihre, so stellte ich mir vor, unverständliche Traurigkeit, ich lebte und schlummerte in diesem unerklärbaren Zustand, den ich im Wachen niemals erfahren sollte. Das hätte mich bekümmern müssen; morgens hatte ich jedoch vergessen, was mir im Traum erschienen war, und die letzte Erinnerung an den gestrigen Tag war, dass ich wieder den Zug verpasst hatte. Abends begab ich mich erneut zu Claire. Ihr Mann war einige Monate zuvor nach Ceylon gereist, wir beide waren allein; und nur die Dienstmagd, die auf einem Holztablett mit dem Bild eines fein gezeichneten, hageren Chinesen Tee und Gebäck brachte, eine Frau von vielleicht fünfundvierzig Jahren, mit Pincenez, darum keineswegs einem Dienstboten gleich, und ewig war sie gedankenverloren, mal hatte sie die Zuckerzange vergessen, mal die Zuckerdose, mal eine Untertasse oder ein Löffelchen – nur die Dienstmagd unterbrach unsere Zweisamkeit, wenn sie hereinkam und fragte, ob Madame nicht etwas brauche. Und Claire, die aus irgendeinem Grund überzeugt war, die Dienstmagd wäre beleidigt, wenn sie um nichts gebeten würde, sagte: Ja, bringen Sie bitte das Grammophon mit den Schallplatten aus dem Kabinett von Monsieur – obgleich das Grammophon überhaupt nicht gebraucht wurde, und wenn die Dienstmagd gegangen war, blieb es dort stehen, wo sie es hingestellt hatte, und Claire hatte es sofort vergessen. Die Dienstmagd kam und ging gewiss fünfmal im Lauf des Abends; und als ich einmal zu Claire sagte, ihre Dienstmagd habe sich für ihr Alter sehr gut gehalten und ihre Beine verfügten über eine geradezu jugendliche Unermüdbarkeit, doch ansonsten hielte ich sie für nicht ganz normal, sie leide entweder an Bewegungsmanie oder schlicht an einem kaum merklichen, aber unbezweifelbaren Nachlassen ihrer geistigen Kräfte, was mit dem beginnenden Alter zu tun habe – da schaute Claire mich bedauernd an und erwiderte, ich solle meinen spezifischen russischen Scharfsinn besser an anderen wetzen. Und vor allem, meinte Claire, müsse ich mir ins Gedächtnis rufen, dass ich gestern erneut in einem Hemd mit unterschiedlichen Manschettenknöpfen erschienen sei, dass es sich nicht gehöre, wie ich das vorgestern getan hatte, meine Handschuhe auf ihr Bett zu legen und Claire an den Schultern zu packen, als ob ich sie nicht mit Handschlag, sondern an den Schultern begrüßen wollte, was nun wirklich das unmöglichste von der Welt sei, und dass sie, wollte sie alle meine Verstöße gegen die elementarsten Anstandsregeln aufzählen, sehr lange zu reden hätte ... sie dachte nach und sagte: fünf Jahre. Sie sagte das mit ernster Miene, und es tat mir leid, dass solche Kleinigkeiten sie bekümmern konnten, und ich wollte sie um Verzeihung bitten; aber sie wandte sich ab, ihr Rücken erbebte, sie führte ihr Tuch zu den Augen – und als sie mich schließlich anschaute, sah ich, dass sie lachte. Und sie erzählte mir, die Dienstmagd stecke mal wieder in einer Liebesaffäre und der Mann, der sie zu heiraten versprochen hatte, weigere sich jetzt rundweg. Deshalb sei sie so nachdenklich. »Was gibt es da groß nachzudenken??« fragte ich. »Er weigert sich, sie zu heiraten. Braucht es denn soviel Zeit, um diese schlichte Tatsache zu begreifen??« – »Sie stellen die Fragen immer viel zu direkt«, sagte Claire. »Bei Frauen geht das so nicht. Sie denkt nach, weil es ihr leid tut, wieso verstehen Sie das nicht??« – »Hat die Affäre denn lange gedauert??« – »Nein«, antwortete Claire, »ganze zwei Wochen.« – »Seltsam, sie ist doch immer schon so gedankenverloren gewesen«, bemerkte ich. »Vor einem Monat war sie ebenso melancholisch und verträumt wie jetzt.« – »Mein Gott«, sagte Claire, »damals hatte sie einfach eine andere Affäre.« – »In der Tat, sehr einfach«, sagte ich, »verzeihen Sie, ich wusste nicht, dass sich hinterm Pincenez Ihrer Dienstmagd die Tragödie eines weiblichen Don Juan verbirgt, der allerdings gerne geheiratet werden würde, im Gegensatz zum Don Juan der Literatur, der der Ehe ablehnend gegenüberstand.« Aber Claire unterbrach mich und deklamierte voll Pathos einen Satz, den sie auf einem Reklameplakat gelesen und über den sie beim Lesen Tränen gelacht hatte:

Heureux acquéreurs de la vraie Salamandre

Jamais abandonnés par le constructeur1

Danach kehrte das Gespräch zu Don Juan zurück, dann sprang es, irgendwie, zu den Glaubenskämpfern, zum Protopopen Awwakum, aber als ich bis zu den Versuchungen des heiligen Antonius gelangt war, hielt ich inne, da mir einfiel, dass derartige Gespräche Claire nicht sonderlich interessierten; sie bevorzugte andere Themen – Theater, Musik; am liebsten hatte sie jedoch Witze, von denen sie eine Unmenge kannte. Sie erzählte mir diese Witze, die äußerst geistreich und ebenso unanständig waren; daraufhin nahm das Gespräch eine besondere Wendung, auch die allerunschuldigsten Sätze schienen nun Zweideutigkeiten zu enthalten, und Claires Augen begannen zu glänzen; und wenn sie zu lachen aufhörte, wurden die Augen dunkel und frevelhaft und ihre dünnen Augenbrauen zogen sich zusammen; sobald ich jedoch näher zu ihr rückte, stieß sie ein zorniges Flüstern hervor: Mais vous êtes fou!2? – und ich rückte weg. Sie lächelte, und ihr Lächeln drückte deutlich aus: Mon Dieu, qu’il est simple!3 Worauf ich, in Fortsetzung des unterbrochenen Gesprächs, nun anfing, erbittert auf alles zu schimpfen, dem ich sonst gleichgültig gegenüberstand; ich bemühte mich, so barsch und kränkend wie möglich zu reden, als wollte ich mich für die Niederlage rächen, die ich gerade erlitten hatte. Claire stimmte meinen Argumenten spöttisch zu; und weil sie mir hier so leicht nachgab, wurde meine Niederlage noch augenfälliger. »Oui, mon petit, c’est très intéressant, ce que vous dites là4«, sagte sie, ohne ihr Lachen zu verbergen, das sich allerdings gar nicht auf meine Worte bezog, sondern immer noch auf jene Niederlage, und mit dem abschätzigen »là« unterstrich sie, dass sie allen meinen Beweisen nicht die geringste Bedeutung beimaß. Ich bezwang mich, überwand die neue Versuchung, mich Claire zu nähern, da ich einsah, dass es nun zu spät war; ich dachte angestrengt an etwas anderes, und Claires Stimme drang halb gedämpft zu mir; sie lachte und erzählte mir irgendwelche Nichtigkeiten, denen ich mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte, bis ich merkte, dass Claire sich einfach lustig machte. Es amüsierte sie, dass ich in solchen Augenblicken rein gar nichts mehr verstand. Am nächsten Tag kam ich zu ihr, wieder mit mir im reinen; ich hatte mir geschworen, mich ihr nicht mehr zu nähern, und wählte Gesprächsthemen, die der Gefahr auswichen, dass die erniedrigenden Augenblicke von gestern sich wiederholten. Ich sprach über all das Traurige, was ich hatte mitansehen müssen, und Claire wurde still und ernst und erzählte mir ihrerseits, wie ihre Mutter gestorben war. »Asseyez-vous ici5«, sagte sie und deutete auf das Bett, und ich setzte mich ganz nah zu ihr, und sie legte mir den Kopf auf die Knie und sprach: »Oui, mon petit, c’est triste, nous sommes bien malheureux quand même.6« Ich hörte ihr zu und wagte mich nicht zu rühren, da schon meine geringste Bewegung ihren Gram hätte entweihen können. Claire strich mit der Hand über die Decke, mal in der einen, mal der anderen Richtung; und ihre Trauer verausgabte sich gleichsam in diesen Bewegungen, die zunächst unbewusst waren, dann ihre Aufmerksamkeit erregten, und es endete damit, dass ihr am kleinen Finger ein Nagelhäutchen auffiel, das schlecht abgeschnitten war, und sie die Hand zum Nachttisch reckte, wo eine Schere lag. Und wieder lächelte sie ein ausdauerndes Lächeln, als ob sie eine lange Folge von Erinnerungen begriffen und für sich nachvollzogen hätte und als ob diese nun mit einem überraschenden, aber keineswegs betrüblichen Gedanken endeten; und Claire blickte mich aus im Nu dunkel gewordenen Augen an. Vorsichtig legte ich...


Tietze, Rosemarie
Rosemarie Tietze studierte Theaterwissenschaft, Slawistik und Germanistik und arbeitet als Übersetzerin, Dolmetscherin und Dozentin. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und dem Paul-Celan-Preis. 2009 erschien bei Hanser ihre vielgelobte Übersetzung von Lew Tolstois Anna Karenina. Rosemarie Tietze lebt in München.

Gasdanow, Gaito
Gaito Gasdanow, 1903 in St. Petersburg geboren und 1971 in München gestorben, gilt als einer der wichtigsten russischen Exilautoren des frühen 20. Jahrhunderts. Seit 1923 lebte er im Exil in Paris, wo er begann, regelmäßig literarische und journalistische Texte zu veröffentlichen. Wegen der existentialistischen Prägung seines Werks wurde Gasdanow wiederholt als der „russische Camus“ bezeichnet. Sein Werk umfasst zahlreiche Romane und Erzählungen. Im Hanser Verlag erschienen die Romane Das Phantom des Alexander Wolf (2012), Ein Abend bei Claire (2014), Die Rückkehr des Buddha (2016) und Nächtliche Wege (2018).

Gaito Gasdanow, 1903 in St. Petersburg geboren und 1971 in München gestorben, gilt als einer der wichtigsten russischen Exilautoren des frühen 20. Jahrhunderts. Seit 1923 lebte er im Exil in Paris, wo er begann, regelmäßig literarische und journalistische Texte zu veröffentlichen. Wegen der existentialistischen Prägung seines Werks wurde Gasdanow wiederholt als der „russische Camus“ bezeichnet. Sein Werk umfasst zahlreiche Romane und Erzählungen. Im Hanser Verlag erschienen die Romane Das Phantom des Alexander Wolf (2012) und Ein Abend bei Claire (2014). Im Frühjahr 2016 folgt der Roman Die Rückkehr des Buddha.



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