Gasdanow Die Rückkehr des Buddha
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25187-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-446-25187-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gaito Gasdanow, 1903 in St. Petersburg geboren und 1971 in München gestorben, gilt als einer der wichtigsten russischen Exilautoren des frühen 20. Jahrhunderts. Seit 1923 lebte er im Exil in Paris, wo er begann, regelmäßig literarische und journalistische Texte zu veröffentlichen. Wegen der existentialistischen Prägung seines Werks wurde Gasdanow wiederholt als der 'russische Camus' bezeichnet. Sein Werk umfasst zahlreiche Romane und Erzählungen. Im Hanser Verlag erschienen die Romane Das Phantom des Alexander Wolf (2012), Ein Abend bei Claire (2014), Die Rückkehr des Buddha (2016), Nächtliche Wege (2018) und zuletzt die Erzählungen Schwarze Schwäne (2021).
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Fast jede Woche war ich bei Pawel Alexandrowitsch zu Besuch und unterhielt mich jeweils lange mit ihm. Insbesondere wollte ich herausfinden, wie er in die Verfassung hatte geraten können, in der er war, als ich ihm begegnete, und wie er, einmal in dieser Verfassung, zu bewahren verstand, was ihn so heftig von seinen Leidensgefährten unterschied. Ich wusste, dass einem Menschen, ist er Bettler geworden, der Weg zurück gewöhnlich für immer versperrt ist, nicht nur im Sinne einer Rückkehr zu materiellem Wohlstand – viele Bettler waren verhältnismäßig reich, solche habe ich oft erlebt –, sondern hauptsächlich in dem, was gesellschaftliche Hierarchie genannt wird: von dort stiegen die Menschen nicht mehr auf. Natürlich stellte ich die Frage niemals direkt, ich deutete sie nicht einmal an. Aber wenn ich einige der fast immer zufälligen Äußerungen Pawel Alexandrowitschs zusammenfügte, gewann ich eine Vorstellung, die der Wahrheit wohl nahekam. Etwas war geschehen am Beginn seines Lebens im Ausland, ich erfuhr nie, was genau, irgendein Absturz, der, wie mir schien, mit einer Frau zu tun hatte. Danach begann er zu trinken und verfiel der Trunksucht vollkommen. So ging es jahrelang, und wahrscheinlich hätte ihn nichts retten können, wäre er nicht krank geworden. Er brach eines Nachts auf der Straße zusammen und lag so einige Stunden, bis er gefunden und ins Krankenhaus gebracht wurde. Dort unterzog man ihn einer gründlichen Untersuchung, machte alle notwendigen Analysen, behandelte ihn einige Monate lang, und als es ihm endlich bedeutend besser ging, sagte ihm der Arzt, er werde nur unter einer Bedingung weiterleben – bei völliger Enthaltsamkeit. Pawel Alexandrowitsch konnte sich umgehend davon überzeugen, dass der Doktor die Wahrheit gesagt hatte: Ein Glas Wein, das er trank, rief bei ihm sogleich Erbrechen und heftige Krankheitssymptome hervor. Er verzichtete auf sämtliche Alkoholika und wurde nach einiger Zeit zu einem beinahe normalen Menschen. Unserer Begegnung im Jardin du Luxembourg waren anderthalb Lebensjahre vorausgegangen, in deren Verlauf er nicht trank. Längst hatte er eingesehen, wie bedrückend und schmachvoll seine Lage war; aber er war nicht mehr jung, körperlich schwach, seine Vergangenheit enthielt viele Jahre eines Daseins, wie seine Gefährten es jetzt führten, und er war der Ansicht, wenn sich in nächster Zukunft nichts änderte, bleibe ihm nur ein Ausweg – der Selbstmord.
Dies war die äußerliche Erklärung dessen, was mit ihm geschehen war. Aber es gab, wie mir schien, noch etwas anderes: den beständigen und passiven Widerstand jener ihn prägenden, unbezweifelbaren Kultur gegen diesen tiefen Fall, einen ihm innewohnenden, vielleicht beinahe unbewussten, beinahe organischen Stoizismus, den er selbst beharrlich abstritt.
Es war natürlich nicht zu übersehen, dass eine Frau in seiner Wohnung lebte, obwohl ich sie nie zu Gesicht bekam und Pawel Alexandrowitsch darüber nie ein Wort verlor. Aber ich bemerkte so manches Mal Spuren ihrer Anwesenheit: Im Aschenbecher lagen Zigarettenkippen mit dem Abdruck karmesinroter Pomade, und bisweilen hing ein kaum spürbarer Parfümduft noch im Zimmer. Je nun, was hätte natürlicher sein können? Einmal aber lagen, als ich wie immer gegen acht Uhr abends kam, auf dem Tisch nicht zwei, sondern drei Gedecke.
»Wir werden heute zu dritt dinieren«, sagte Pawel Alexandrowitsch, »falls Sie nichts einzuwenden haben.«
»Im Gegenteil, im Gegenteil«, sagte ich hastig. Im selben Augenblick hörte ich Schritte, wandte den Kopf – und zuckte zusammen vor Verwunderung und dem unerklärlich bedrückenden Gefühl, das mich augenblicklich erfasste: Ich erblickte eine junge Frau, in der ich sofort Sinas Tochter erkannte, obwohl sie sich seit dem Tag, als ich ihr zusammen mit ihrer Mutter und dem mausgrauen Schnorrer auf der Straße begegnet war, vollkommen verändert hatte. Sie war gut gekleidet, trug ein dunkelblaues Seidenkleid, ein ziemlich weites mit tiefen Falten, die blonden Haare waren onduliert, die Lippen karmesinrot geschminkt, die Augen ein wenig umrandet. Aber in ihrem Gesicht war geblieben, was ich bemerkt hatte, als ich sie zum erstenmal sah, und was sehr schwer zu bestimmen war – etwas gleichermaßen Anziehendes und Unangenehmes.
Sie reichte mir die Hand und bat um Entschuldigung, dass es ihr nicht immer leichtfalle, Russisch zu reden. Tatsächlich sprach sie mit Akzent und verfiel während des Gesprächs ständig ins Französische, und darin war sie hilflos. Sie redete ungefähr so, wie in armen Pariser Vorstadtvierteln auf der Straße geredet wird, und ich zuckte erneut zusammen, als ich diesen vertrauten Tonfall hörte, diese Lautmasse in Bewegung, armselig und doch auch unverfälscht tragisch. Im übrigen schwieg sie meist, hob nur selten auf Schtscherbakow oder auf mich den Blick, an dem mich eine – etwas alberne, wie mir schien – Bedeutsamkeit störte. Sie war sechsundzwanzig, ihrem Aussehen nach hätte man sie älter geschätzt, da ihre Gesichtshaut schon die frische Spannkraft der frühen Jugend verloren hatte und weil in ihrer Stimme, wenn sie diese senkte, eine leichte Heiserkeit zu hören war. Aber auch darin lag eine eigenartige Anziehungskraft.
An jenem Abend wusste ich fast nichts von ihr. Ich hätte alles erfahren können, aber Mischka war bereits nicht mehr am Leben. Mir blieben allerdings noch andere Informationsquellen, die ich ein wenig später nutzte; ich lud einen der russischen Clochards, den ich vom Sehen kannte, ins Café ein, und beim dritten Glas Wein erzählte er mir vieles über ihr Leben. Aber das geschah erst fünf oder sechs Tage nach unserem Diner zu dritt.
Pawel Alexandrowitsch rührte wie immer den Wein nicht an, ich trank ein paar Schluck. Dafür trank Lida vier Gläser. Nach dem Essen fragte mich Pawel Alexandrowitsch, ob ich gerne Zigeunerromanzen hörte. Ich bejahte.
»Dann lade ich Sie zu einem kleinen Amateurkonzert ein«, sagte er.
Wir gingen in die andere Hälfte der Wohnung, wo ich bislang noch nicht gewesen war. Auf dem Boden lag ein Plüschteppich, die Wände waren mit dunkelblauen Tapeten beklebt. Im Salon stand ein Klavier. Pawel Alexandrowitsch setzte sich daran, berührte ein paarmal die Tasten und sagte:
»Auf, Lida …«
Sie begann halblaut zu singen, doch war sogleich zu erkennen, dass sie auf natürliche Weise musikalisch war und gar nicht fähig gewesen wäre, falsch zu singen oder den Rhythmus zu verfehlen. Schon bald schien sie uns vergessen zu haben und sang, als ob sie allein im Raum wäre – allein oder vor einem vielköpfigen Auditorium. Fast ihr gesamtes, ziemlich umfangreiches Repertoire, zu dem französische Chansons, Zigeunerromanzen und viele andere Lieder unterschiedlicher und zufälliger Herkunft gehörten, war mir bekannt. Aber vor diesem Abend hätte ich mir nicht vorgestellt, dass es so klingen könnte. Sie legte in ihre Darbietung, der weder eine gewisse Kunstfertigkeit noch musikalische Überzeugungskraft abzusprechen war, eine nie versiegende, nie sie im Stich lassende schwere Sinnlichkeit, die diesen Liedern sonst meist fehlte. In den Tönen ihrer Stimme, ob langgezogen, ob kurz oder tief, wiederholte sich mit den unterschiedlichsten Nuancen stets ein und dasselbe, und das mit derart nachdrücklicher Beharrlichkeit, dass es zuletzt auch das Klavier, den Gesang wie die Abfolge der Reimwörter überwucherte und einfach bedrückend wurde. Es lag darin eine unerklärbare Schamlosigkeit des Klangs, und wenn ich die Augen schloss, erschien vor mir sogleich der weiße Abgrund eines imaginierten Betts, darauf Lidas nackter Körper und die vage Silhouette eines über sie gebeugten Mannes. Am unangenehmsten war daran so etwas wie ein persönlicher Appell, dass jedem ihrer Zuhörer diese sinnliche Welt, in der die Luft zum Atmen nicht reichte, ebenfalls nicht fremd sei, gar nicht fremd sein könne. Und schon damals, als ich ihrem Gesang lauschte, begriff ich, dass es vielleicht nur eines Zufalls bedürfte, und ich würde unhaltbar von ihr angezogen werden, und gegen diese Anziehungskraft könnte sich sowohl meine unwillkürliche Verachtung für sie als ohnmächtig erweisen wie auch meine hartnäckige Geisteskrankheit, die mich in die kalten und abstrakten Räume fortzog, von denen ich nicht loskam. Ich dachte über all das nach, und plötzlich tat Pawel Alexandrowitsch mir unendlich leid; die Vermutung lag nahe, dass in der Welt, für die sie stand, lebendig und unübersehbar, ihm die traurige Rolle ihres blassen Gefährten beschieden war, genauso wie er in diesem Zusammenspiel von Klavier und Stimme nur akkompagnieren konnte. Aufmerksam betrachtete ich Lida, ihren roten Mund, ihre Augen, die von Zeit zu Zeit einen schläfrig feuchten Ausdruck annahmen, und das rhythmische Schaukeln ihres schmalen Körpers, womit sie ihren Gesang begleitete.
Ein Sonnenstrahl blinkt durch geschlossne Fensterläden,
Wie gestern schwindelt mir, nun trägt es mich weit fort,
Ich hör dein Lachen, unsre nächtlichen Gespräche,
Und jedes Wort von dir klingt mir wie ein Akkord.
Da fiel mir plötzlich Sina ein, ihre Mutter, das alte, ungeschickt geschminkte Gesicht, der zahnlose Mund und die erloschenen Augen, die rheumatischen Füße in den Nachtschlappen. Dann richtete ich den Blick wieder auf Lida, ihre Gesichtszüge verschwammen einen Augenblick, rückten in die Ferne, und da erblickte ich mit plötzlichem Kälteschauer am Rücken die – gleich wieder verschwundene – Ähnlichkeit Lidas mit ihrer Mutter. Bis dahin war es vorerst aber noch weit, und der Gedanke drängte sich auf, dass im Verlauf etlicher, langer Jahre Lidas schmaler Körper sich noch viele Male in diesem wiegenden Rhythmus bewegen würde und jemandes Augen sie mit so gieriger Aufmerksamkeit betrachten würden, wie ich es jetzt tat. Als sie zu...