E-Book, Deutsch, 168 Seiten
Garnier Die Insel
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-99120-054-3
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 168 Seiten
ISBN: 978-3-99120-054-3
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pascal Garnier (1949-2010) war Romancier, Verfasser von Kurzgeschichten, Kinderbuchautor und Maler. In den Bergen der Ardèche, wo er zu Hause war, schrieb er seine in noir-gefärbten Bücher, zu deren Protagonisten er sich durch die einfachen Menschen der Provinz inspirieren ließ. Obwohl seine Prosa zumeist sehr dunkel im Tonfall ist, glitzert sie aufgrund seines trockenen Humors und der schrullig schönen Bilder. Immer wieder mit Georges Simenon verglichen, ist Pascal Garnier der König des französischen Roman noir.
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Er war fröhlich, glücklich, frei wie ein Tourist, der eine Parallelwelt besucht. Noch bevor er wieder bei Jeanne war, öffnete er die Flasche. Am Fuß der Treppe, vor den Briefkästen, nahm er ein paar kräftige Schlucke, auch auf die Gefahr hin, von Nachbarn entdeckt zu werden. Das steigerte den Reiz nur noch. Er nahm mehrere Stufen auf einmal, wie ein Junge nach einem Klingelstreich.
Rodolphe saß im Wohnzimmer am Tisch, reglos, mit einem Gesicht wie ein schwammiges Omelett. Aus der Küche war zu hören, wie Jeanne mit Töpfen hantierte.
»Guten Morgen! Frische Croissants!«
»Guten Morgen, Olivier. Sie sind gut erzogen. Anders als ich.«
Rodolphe griff nach der Papiertüte, holte ein Croissant heraus und steckte sich die Hälfte in den Mund. Olivier ging zu Jeanne in die Küche. Sie lächelte ihm zu und warf die Haare in den Nacken. In ihren Augenwinkeln strahlten winzige Fältchen. Olivier küsste sie flüchtig auf die Lippen.
»Wie geht’s dir?«
»Bestens. Ich dusch jetzt erst mal und zieh mich um. Ich seh schon aus wie ein richtiger Penner.«
»Bring deine Sachen doch hierher. Das macht es leichter.«
Als er die Wohnung seiner Mutter betrat, verspürte er eine leichte Übelkeit, und um sich dem zu stellen, griff er auf die Wodkaflasche zurück, die er in der Tasche behalten hatte. Der Alkohol war ein Wundermittel, er reinigte die Wunden des Körpers wie die der Seele. Deswegen durfte es nie daran fehlen.
Rolands Geist war aus dem Badezimmer verschwunden, das jetzt einfach nur noch ein trostloses Badezimmer war. Olivier seifte sich gründlich ein, vom Kopf bis zu den Füßen, rasierte sich sorgfältig und zog saubere Kleidung an. Er stopfte alle seine Sachen in seine Tasche und verließ diesen Ort, fest entschlossen, nie wieder einen Fuß hier herein zu setzen.
Von den sechs Croissants hatte Rodolphe fünf vertilgt, sich aber dafür entschuldigt. Jetzt putzte er sich heraus, weil er ausgehen wollte. »Ich muss ein paar Einkäufe erledigen«, hatte er geheimniskrämerisch verkündet. Jeanne und er hatten eine halbe Stunde lang darüber diskutiert, was sie heute Abend essen sollten. Ihr war das völlig schnuppe, für Rodolphe gab es nichts Wichtigeres.
»Verbrechen hin oder her – heute ist Weihnachten!«
Olivier war zurückgekommen, als die Diskussion fast beendet war, und hatte angeboten, sich um die Getränke zu kümmern. Jeanne war gerne bereit zu kochen, weigerte sich aber kategorisch, sich in den Geschäften mit all diesen Idioten in die Schlange zu stellen.
»Dann gehe eben ich! Das ist kinderleicht: Ich klopfe einfach mit dem Stock auf den Boden und rufe: ›Kann mir jemand helfen?‹ Damit ist die Sache erledigt. Das ist kein Stock, das ist ein Zauberstab.«
Als Rodolphe weg war und Jeanne sich für den Abend fertig machte, schwirrten Olivier auf einmal tausend lästige Fragen durch den Kopf: Was sollte er jetzt mit Odile machen? … Mit dem Notar? … Mit Emmaus? … Mit dem Bestattungsinstitut? … Bei diesem Ansturm von Fragezeichen schwand seine gute Laune vom Vormittag wieder. Er brauchte drei große Gläser Wodka, um die Fragen abzuwehren, konnte sich jedoch nicht gänzlich von ihnen befreien. All diese »Wer? Was? Warum? Wie?« waren jetzt vorübergehend in einer Ecke seines Kopfes verstaut, doch sie konnten jeden Moment wieder zum Vorschein kommen. Er musste wachsam bleiben. Um all das musste er sich kümmern, aber später, später. Die Wodkaflasche hatte er schon zu drei Vierteln geleert, und es war erst zwanzig vor elf. Er steckte sie in die Tasche und zog den Reißverschluss zu.
Um in den Park zu gelangen und dabei den Menschenmassen aus dem Weg zu gehen, die sich bereits in den Straßen des Stadtzentrums drängten, hatten Jeanne und Olivier die Straße nach Saint-Cyr genommen, waren an der Orangerie vorübergegangen und entlang des Zaunes vor dem Pièce d’eau des Suisses. Außer ein paar hartnäckigen Joggern, die als Rennautos verkleidet waren, sie beide überholten und nach Luft rangen, war niemand unterwegs, keine Spaziergänger. Die normalen Leute drängten sich um diese Uhrzeit in Zehnergrüppchen vor den Auslagen der Geschäfte. Der Neuschnee knirschte unter ihren Schuhen wie Kartoffelstärke. Himmel und Erde lieferten sich einen Wettstreit darum, wer weißer leuchtete. Als sie den Grand Canal erreichten, ein enormes, vom Eis verchromtes Kreuz, fand Olivier Versailles so wieder, wie er es immer gekannt hatte, unveränderlich, wie es dem Himmel seinen geometrischen Stolz entgegenreckte und die Zeitlichkeit herausforderte. Schön, doch von aasgleicher Starre. Sie beschlossen, den Canal zu umrunden, und wandten dem Schloss den Rücken zu. In den Bäumen, die wie eine mit groben Strichen hingeworfene Kohlezeichnung wirkten, waren Tiere zu hören, ein Vogel, der in einer weißen Pulverwolke von einem Ast aufflog.
»Ist dir nicht kalt?«
»Nein, es geht schon.«
Sie schwiegen, bis sie das Ende des Beckens erreicht hatten und dem Schloss gegenüberstanden, das sie aus seinen dunklen Fenstern ansah. Wie ein Blick aus den Augen Rodolphes.
»Ich frage mich, warum die Revolutionäre das nicht alles dem Erdboden gleichgemacht haben.«
»Man ermordet den Vater, behält aber das Erbe.«
»Trotzdem ist das ein einziger hübsch verzierter Klotz der Verachtung. Diese Stadt hat nur Eines im Sinn: dich dazu zu bringen, dass du so schnell wie möglich abhauen willst.«
»Und dann kommst du irgendwann zurück.«
Olivier hob einen Zweig vom Boden auf und warf ihn mit aller Kraft auf das Eis. Er glitt ein Stück weit und drehte sich dann um sich selbst, wie eine Kompassnadel.
»Ihr Jungs seid schon komisch. Andauernd müsst ihr irgendwas werfen, einen Stein, ein Stück Holz.«
»Das ist eine Art, sich in die Zukunft zu strecken, um zu wissen, wie weit man kommt. Gehen wir weiter?«
Olivier musste diesen Weg Hunderte Male gemacht haben, meistens mit dem Rad, im Sommer, wenn sich die Ufer des Grand Canal in ein impressionistisches Gemälde verwandelten, mit Liebespaaren, Familien, die verstreut im grünen Gras lagen und den Booten dabei zusahen, wie sie durchs Wasser schnitten, wie Scheren durch eine Bahn aus Seide. Die Jungs taten so, als wollten sie das Boot zum Kentern bringen, die Mädchen hielten sich mit beiden Händen an den Rändern der Bordwand fest und stießen grelle Schreie aus. Man aß Eis …
»Glaubst du, die Imbissbude am Bootssteg hat auf?«
»Das würde mich wundern. Aber das sehen wir gleich, wir kommen da sowieso vorbei.«
Olivier ging schneller. Er ärgerte sich, dass er die Wodkaflasche nicht mitgenommen hatte. Je mehr die Wirkung des Alkohols nachließ, desto mehr kam von der Vergangenheit an die Oberfläche, und mit ihr der ganze Trupp schwarzer Gedanken. Wie zu erwarten gewesen war, hatte die Imbissbude geschlossen. Sie gingen weiter, fast im Laufschritt, verließen den Park und traten auf den Boulevard de la Reine. Sie gingen in das erste Café, das sie fanden. Durch den Lärm, die vielen Menschen und die Hitze hatten sie das Gefühl, eine Ofentür zu öffnen. Olivier bestellte einen doppelten Whisky, Jeanne eine Tasse Tee.
»Stimmt irgendwas nicht?«
»Doch, doch! … Mir ist nur wieder dieser ganze Zirkus eingefallen: Emmaus, der Notar, die Beerdigung …«
»Denk nicht dran. In den nächsten beiden Tagen kannst du sowieso nichts tun. Aber deine Frau solltest du anrufen.«
»Und was soll ich ihr sagen?«
»Keine Ahnung. Einfach so, um sie zu beruhigen, um dich selbst zu beruhigen.«
»Ja, du hast recht. Aber andauernd dieses ›Ich müsste dies tun, ich sollte jenes tun …‹, das geht mir auf die Nerven. Ich will einfach nur da sein, hier und jetzt.«
»Aber das bist du doch! Und ich bin bei dir, mach dir keine Sorgen. Ruf deine Frau an, und alles andere wird sich ergeben.«
Jeanne hatte seine Hand genommen und verschränkte ihre Finger mit seinen. Er spürte, wie ihre Kraft in ihn floss, so warm und tröstlich wie der Alkohol, der jetzt wieder durch seine Adern strömte.
»Entschuldige bitte. Ein Rückfall. Möchtest du noch was? Ich trink noch einen.«
Nachdem Rodolphe die Wohnung verlassen hatte, war er schnurstracks zu Arlette gegangen, die direkt am Bahnhof Chantiers wohnte. Arlette war eine ehrenwerte Nutte, die in eigenen Räumen und auf eigene Rechnung arbeitete und einen Kundenkreis hatte, der keine Probleme machte: Alleinstehende, Rentner, Stammkunden. Er hatte ihr eine Schachtel Schnapspralinen mitgebracht. Nach denen war sie ganz verrückt.
»Vielen Dank, Rodolphe, das ist wirklich lieb von dir, aber ich habe nicht viel Zeit für dich; ich bin noch nicht angezogen und muss noch eine Menge für das Weihnachtsessen einkaufen, dazu die Geschenke für meinen Neffen und meine Nichte, und außerdem bin ich diesmal für die Schnecken zuständig. Und das heute, wo in den Geschäften so viel los ist!«
»Ich bin nicht deswegen hier. Ich wollte dir fröhliche Weihnachten wünschen und ein bisschen plaudern.«
»Wenn du willst, können wir plaudern, während ich mich zurechtmache. Komm mit ins Bad.«
Arlettes Zweizimmerwohnung war eingerichtet mit dem Geruch nach Putzmitteln, Eau de Javel, Bohnerwachs, Seife und Parfüms, die ebenso betörend wie billig waren. Ihre Sauberkeit war ihr Markenzeichen. Alles, was man hier berührte, war weich, seidig, flauschig, so wie Arlettes Körper. Man bekam etwas für sein Geld. Eine Hausfrau, und das Haus einer Frau.
»Also, was gibt’s?«
Rodolphe hörte das Plätschern des Wassers in der Badewanne und das Schmatzen des Waschlappens. Vermutlich wusch sie sich gerade den Hintern. Vor ihm brauchte sie sich nicht zu...




