Garnier | Die Eskimo-Lösung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Garnier Die Eskimo-Lösung


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-99120-075-8
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-99120-075-8
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Es ist die Geschichte eines Mannes, Louis mit Namen, um die vierzig, ein netter Kerl, aber dauernd abgebrannt, der seine Mutter umbringt, um an das Erbe zu kommen.« Auf diese leicht aberwitzige Idee für eine Geschichte kommt ein Schriftsteller, der sich an die Küste der Normandie zurückgezogen hat, um seinen nächsten Roman zu schreiben. Schon bald ermordet Louis mit ausgesuchter Gönnerhaftigkeit und Diskretion auch die Eltern seiner Freunde - was diesen ein sorgenfreies Leben verschafft. Doch der in sich gekehrte und zurückgezogen lebende Autor kommt durch die Ansprüche seiner Familie und seiner Freunde zunehmend in Bedrängnis und gerät immer mehr unter den verstörenden Einfluss einer Frau. Und schon bald verschwimmt sein Alltag auf befremdliche Weise mit dem seiner Figuren ... Achtung! Schwarzer Humor auf weißem Packeis. Oder: Wie man der Morallosigkeit frischen Wind einhaucht. »Garnier stürzt dich in eine bizarre, überhitzte Welt und vermengt dabei Tod, Fiktion und Philosophie. Eine berauschende, schmuddelige, klasse Lektüre.« A. L. KENNEDY

Pascal Garnier (1949-2010) war Romancier, Verfasser von Kurzgeschichten, Kinderbuchautor und Maler. In den Bergen der Ardèche, wo er zu Hause war, schrieb er seine in noir-gefärbten Bücher, zu deren Protagonisten er sich durch die einfachen Menschen der Provinz inspirieren ließ. Obwohl seine Prosa zumeist sehr dunkel im Tonfall ist, glitzert sie aufgrund seines trockenen Humors und der schrullig schönen Bilder. Immer wieder mit Georges Simenon verglichen, ist Pascal Garnier der König des französischen Roman noir.
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1

Louis hat im Bett der Kinder geschlafen, einem Stockbett, auf dem unteren Schlafplatz, inmitten von Plüschmonstern, ein Feuerwehrauto in die Nieren gedrückt. Es muss schon Morgen sein. Irgendwo auf der Straße zertrümmert ein Presslufthammer den Gehsteig. Louis dreht sich um und liegt zusammengekauert da, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, die Hände zwischen den Beinen, die Nase in die flauschige Haut eines rosa Dinosauriers gepresst, der nach Speichel und geronnener Milch stinkt.

Worüber haben sie gestern Abend noch mal gestritten? … Ach ja … Alice hatte gesagt, sie wolle sich einäschern lassen, während er zu einer Erdbestattung tendierte. Für Alice, die mit einem absolut unerschütterlichen praktischen Verstand gesegnet war, war die Lage glasklar: Erstens war eine Einäscherung billiger, zweitens sauberer, drittens vermied man damit sinnlosen Flächenverbrauch (»Stell dir nur mal vor, was man zum Beispiel auf der Fläche des Friedhofs von Thias errichten könnte! …«), und viertens würde ihre Asche – was eine eher romantische Vorstellung war – vor der griechischen Insel Kalymnos (dort hatten sie ihren letzten Urlaub verbracht) vom Bug eines hübschen weißen Bootes ins Meer gestreut werden …

An der Stelle hatte er sie etwas brüsk unterbrochen: Erstens konnten einem, wenn man tot war, die Kosten der eigenen Beerdigung schnuppe sein, zweitens wurden sowieso schon genug Schweinereien ins Meer gekippt, drittens waren Friedhöfe unvergleichlich schöner zum Spazierengehen als Schlafstädte, und viertens war es angesichts des Fortschritts der Wissenschaft nicht auszuschließen, dass man eines Tages anhand von Knochen wieder Leben würde erschaffen können, während mit einer Handvoll im Meer verstreuter Asche, na ja … Das letzte Argument hatte er mit einer saftigen beleidigenden Geste unterstrichen.

Und wer würde dann für sein beschissenes Begräbnis aufkommen? … Reichte es denn nicht, dass er schon zu Lebzeiten alle Leute anpumpte, musste er da auch noch weitermachen, wenn er tot war? … Was war er nur für ein Egoist! … Und vielleicht auch noch Blumen jedes Jahr zu Allerheiligen? … Aber natürlich, Blumen! Und Bäume mit Vögeln drauf und Katzen drumherum! Sie war es doch, die immer hin und weg war, wenn sie auf dem Père Lachaise vor den alten, moosbewachsenen Gräbern standen! Zum Beispiel vor dem, dessen Bodenplatte von einem dicken Lorbeer durchbrochen wurde …

Warum legte er dann nicht etwas Geld zur Seite, um sich so ein altes, moosbewachsenes Grab zu kaufen? … Na, warum denn? …

Da hatten sie es wieder: Das Geld, andauernd ging es ums Geld …

Vom Rest der Diskussion weiß er nur noch, dass sie auf schäbige Weise in Alltagsprobleme abglitt, die zutiefst banal und von schneidender Dringlichkeit waren, und dann in einer schier endlosen, mit Zahlen untermauerten Schlacht restlos aus dem Ruder lief. Auf diesem Gebiet fehlte ihm das Format, um mit Alice zu kämpfen. Er hatte das Gespräch gekappt, indem er aufgestanden war und gesagt hatte:

»Wenn das so ist, werde ich einfach nicht sterben. Das ist die billigste Lösung, oder?«

Allerdings war diese Gewissheit im Lauf des letzten Jahres nachhaltig erschüttert worden. Vier seiner Freunde waren gestorben. Natürlich hatte er in seinen vierzig Lebensjahren mehrmals miterlebt, dass Menschen starben, aber das war etwas anderes. Es waren immer alte Leute gewesen, Onkel, Tanten … oder entfernte Bekannte, bei denen er sich zu ihren Lebzeiten nie sicher gewesen war, ob sie überhaupt existierten, und bei den Jüngeren waren es Unfälle gewesen, meistens Verkehrsunfälle, normale Todesarten. Aber die letzten vier waren Leute wie er gewesen, man hatte sie an denselben Orten getroffen, sie hatten dieselben Bücher gemocht, dieselbe Musik, dieselben Filme. Keiner war eines gewaltsamen Todes gestorben, sie alle hatten Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten, sie hatten monatelang mit der Aussicht gelebt und ernsthaft und mit wohlüberlegten Worten darüber gesprochen, so wie man über Geldprobleme spricht, über die Arbeit oder die Probleme in der Beziehung. Diese Haltung einer vernunftgesteuerten Fügsamkeit hatte Louis zutiefst erschüttert. Menschen wie er (na ja, nicht ganz, denn jetzt waren sie ja tot) hatten das Nichthinnehmbare hingenommen. Vier in einem Jahr.

Und was die anderen anging …

Jeden Tag um dieselbe Uhrzeit gehe ich in mein Arbeitszimmer hinauf, und beim Wiederlesen dieser Seiten denke ich mir: Welchen Sinn hat es, eine Geschichte zu schreiben, die ich schon auswendig kenne? Ich habe sie in meinem Umfeld schon so oft erzählt, dass mein Interesse an dieser langweiligen Formalität in etwa so groß ist, wie wenn ich beim Aufschlagen des Fernsehprogramms feststellen würde, dass am Abend auf allen Kanälen Der längste Tag ausgestrahlt wird. Am besten wäre es, ich würde die Geschichte so verkaufen, wie sie ist, im Rohzustand, und zwar an jemanden, der sie mit Begeisterung aufschreiben würde. Oder auch ohne Begeisterung, aber der sie an meiner Stelle aufschreiben würde. Denn es ist trotz allem eine gute Geschichte; nur Madame Beck, meine Verlegerin, äußert Vorbehalte. Es war ein ziemlicher Kraftakt, sie zu überzeugen.

»Es ist die Geschichte eines Mannes, Louis mit Namen, um die vierzig, ein netter Kerl, aber dauernd abgebrannt, der seine Mutter umbringt, um an das Erbe zu kommen.«

Madame Beck ist genau wie ihr Name: irgendwie spitz, ein langes, säuerliches Saugen.

»Nicht sehr originell.«

»Warten Sie! Die Erbschaft ist ziemlich bescheiden. Aber das ist nicht der Punkt. Weil alles glatt verläuft und Louis nicht von der Justiz behelligt wird, fängt er an, auch die Eltern seiner Freunde umzubringen, die ebenfalls klamm sind. Natürlich sagt er ihnen nichts davon. Es bleibt sein Geheimnis – die reine Barmherzigkeit, ein anonymer Wohltäter sozusagen.«

Madame Beck sieht zu Boden. Sie wirkt entkräftet.

»Warum arbeiten Sie nicht weiter an dem Jugendroman? Ihre Kinderbücher verkaufen sich gut …«

»Aber das ist doch ein Kinderbuch! Die Hauptfigur ist ein netter Kerl! Er liebt seine Mutter, seine Freunde, die Eltern seiner Freunde, er liebt die ganze Welt, aber im Moment sitzen wir doch alle in der Klemme, oder? … Er bringt die Eltern seiner Freunde um, so wie die Eskimos ihre Alten auf eine Eisscholle setzen und sie dort sich selbst überlassen, weil das … weil das ganz natürlich ist, weil es ökologisch ist und viel menschlicher und weitaus preisgünstiger, als ihr unendliches Leid in grässlichen Sterbeanstalten zu verlängern. Außerdem tut er ihnen so gut wie nicht weh, er geht sehr sorgfältig vor, jedes Verbrechen plant er und passt es an die jeweilige Person an, so professionell und gewissenhaft wie eine Reise in den Robinson Club. Und nichts hält uns davon ab, der Geschichte ein Ende mit einer Moral zu geben. Ich könnte ihn zum Beispiel von seinem Sohn umbringen lassen, einem zwanzigjährigen Jungen, zu dem er schon lange keinen Kontakt mehr hat und der auf die schiefe Bahn geraten ist. Ein tätlicher Angriff in der Metro, aus heiterem Himmel, irgendetwas in dieser Richtung … Was halten Sie davon?«

Zwei Stunden später überreichte mir Madame Beck mit spitzen Fingern und ohne mich anzusehen einen Scheck.

Dieser dürftige Vorschuss hat mir erlaubt, von einem befreundeten Maler dieses Häuschen am Meer zu mieten, wo ich nun seit knapp zwei Monaten vor mich hin gähne und mir dabei fast den Kiefer ausrenke.

»Wenn ich aufwache, steht mir der Mund offen. Meine Zähne sind belegt: es wäre besser, sie am Abend zu putzen, aber das bringe ich nie über mich.« Mit diesen Sätzen beginnt der Roman Meine Freunde von Emmanuel Bove, und keine Worte könnten treffender beschreiben, in welchem geistigen Zustand ich mich befinde. Daher verlasse ich meine Schreibmaschine, die schon von einer ordentlichen Staubschicht bedeckt ist, und widme mich Aufgaben, die meinen Fähigkeiten mehr entsprechen: Ich spüle ab, putze ein bisschen, fange an, eine Einkaufsliste zu erstellen, Brot, Schinken, Butter, Eier … Diese kleinen, alltäglichen Arbeiten sind mir nicht lästig, sie verhindern, dass ich gänzlich im Dasein eines Bettlägerigen versinke. Außerdem sind Gewohnheiten ein hervorragendes Training, um sich mit der Ewigkeit vertraut zu machen. Anschließend gehe ich an den Strand, egal, wie das Wetter ist. Heute herrscht strahlender Sonnenschein, ein Postkartenhimmel, an dem sich die unvermeidlichen Möwen tummeln. Von meinem Haus aus gelangt man kinderleicht zum Strand, man braucht einfach nur fünf Minuten lang die »Straße zum Meer« geradeaus zu gehen. Jeden Tag staune ich aufs Neue über diese Masse aus grünem Gelee am Ende der Straße und über das »Zufahrt verboten«-Schild, das sich wie ein riesiger Lutscher vom Horizont abhebt. Je näher man dem Meer kommt, desto stärker muss man sich vorbeugen und den Kopf nach unten neigen, wegen des Winds, der über den Strand wacht. Es ist kalt, die Kälte riecht nach Menthol. Die Schornsteine von Le Havre sind gut zu sehen, ebenso die Tanker, die auf die Freigabe für die Einfahrt in den Hafen von Antifer warten. Wenn man nie oder so gut wie nie spricht, können bestimmte Wörter im eigenen Gehirn explodieren wie Feuerwerkskörper: ANTIFER. Oder auch ZAHNBÜRSTE. Hier spreche ich mit niemandem. Nur manchmal mit der Verkäuferin in dem Tabakladen an der Straße zum Meer:

»Bonjour Madame … Wie geht es Ihnen? …«

Es geht ihr wie dem Meer, sie steigt und fällt, denn sie wohnt über ihrem Geschäft und ist nirgendwo anders anzutreffen.

Zwei Menschen befinden sich am Strand. Sie stehen vor den Wellen und zögern. »Nach links? … Nach rechts? …« Sie trennen sich. Der eine drückt den Rücken durch...


Pascal Garnier (1949–2010) war Romancier, Verfasser von Kurzgeschichten, Kinderbuchautor und Maler. In den Bergen der Ardèche, wo er zu Hause war, schrieb er seine in noir-gefärbten Bücher, zu deren Protagonisten er sich durch die einfachen Menschen der Provinz inspirieren ließ. Obwohl seine Prosa zumeist sehr dunkel im Tonfall ist, glitzert sie aufgrund seines trockenen Humors und der schrullig schönen Bilder. Immer wieder mit Georges Simenon verglichen, ist Pascal Garnier der König des französischen Roman noir.



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