E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Garnier Der Beifahrer
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-99120-030-7
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-99120-030-7
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
PASCAL GARNIER (1949-2010) war Romancier, Verfas- ser von Kurzgeschichten, Kinderbuchautor und Maler. In den Bergen der Ardèche, wo er zu Hause war, schrieb er seine in noir-gefärbten Bücher, zu deren Protagonisten er sich durch die einfachen Menschen der Provinz inspirieren ließ. Obwohl seine Prosa zumeist sehr dunkel im Tonfall ist, glitzert sie aufgrund seines trockenen Humors und der schrullig schönen Bilder. Immer wieder mit Georges Simenon verglichen, ist Pascal Garnier der König des französischen Roman noir.
Autoren/Hrsg.
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Les histoires d’amour finissent mal en géné…
Ein Zeigefinger mit einem abgeknabberten Nagel beendet jäh den Song von Les Rita Mitsouko. Die plötzliche Rückkehr zur Stille ist schmerzhaft. Dann trommeln zehn Finger auf das Lenkrad. Ein dumpfes Geräusch, ein monotoner Rhythmus. Wie von Regentropfen. Die Anzeigen des Armaturenbretts tauchen die Finger in leuchtendes Grün. Sonst, im Umkreis von mehreren Kilometern, nirgendwo ein Licht. Keine Sterne, nur hinter den Hügeln ein schwacher Schein, der eine weit entfernte Stadt ahnen lässt. Die rechte Hand löst sich vom Lenkrad und liebkost den Schaltknüppel. Mit derselben Bewegung, mit der man einen Hund, eine Katze oder den Kolben eines Gewehrs streichelt. Es ist ein gutes Auto, leistungsstark, robust, grau. Halb zwölf, gleich müssten sie kommen. Der Sekundenzeiger scheint unter dem starren Blick stehen zu bleiben. Aber nein, unbeirrbar setzt er seine Runde fort, dickköpfig oder resigniert, wie ein Esel, der den Mahlstein einer Mühle dreht.
Dann plötzlich, auf der Kuppe des gegenüberliegenden Hügels, das Licht von Scheinwerfern, das Dunkel wird fahl, weicht zurück … Kontakt. Die rechte Hand spannt sich an und legt den Gang ein. Die linke ergreift das Lenkrad. Der rechte Scheinwerfer des Wagens, der den Abhang gegenüber herunterjagt, leuchtet eindeutig in Richtung Straßenrand. Sämtliche Lichter gelöscht, schießt der graue Wagen wie eine Flipperkugel nach vorn. Die Uhrzeit, der schräg stehende Scheinwerfer – das sind sie. Die Nacht schließt die Augen.
Im Wald hat ein Fuchs einem Kaninchen die Kehle durchgebissen. Als er das Quietschen der Reifen auf dem Asphalt und den Lärm des Blechs hört, die durch die Senke hallen, stellt er die Ohren auf. Es dauert nur wenige Sekunden. Dann ergreift die Stille wieder Besitz von allem. Mit den Zähnen reißt er das Fell des Kaninchens auf und schiebt seine spitze Schnauze in die dampfenden Eingeweide. Abertausende Tiere um ihn herum fressen oder bespringen einander, von den größten bis zu den kleinsten, einzig und allein, um das Spiel fortzusetzen.
»Isst du das Gemüse zusammen mit dem Fleisch?«
»Ähh … ja.«
»Als du klein warst, hast du es gemacht wie ich: erst das Fleisch, dann das Gemüse. Wir alle verändern uns …«
Sein Vater garnierte seine Sätze gern mit derlei Feststellungen – »Wir alle verändern uns«, »Was muss, das muss«, »So ist das Leben«, »So läuft’s nun mal«. Aus seinem Mund klangen sie wie Sentenzen. Wir alle verändern uns … Wie wahr. Die Nachricht von Charlottes Tod hatte den Alten wirklich schwer getroffen, auch wenn er sie fast fünfunddreißig Jahre lang nicht mehr gesehen hatte. Er war zusammengesackt, war auf seine Grundfesten gesunken, als hätte man ihm plötzlich einen Schemel unter den Füßen weggezogen. Er wirkte wie ausgehöhlt. Hätte man ihm auf den Rücken geklopft, wären ihm das Geräusch eines abgestorbenen Baums und eine Handvoll Eulen entfahren. Fabien hatte es eine Woche zuvor am Telefon bemerkt, in der Stimme seines Vaters hatte ein verzerrtes Echo gelegen, wie bei einem Ferngespräch.
»Nächsten Sonntag ist Flohmarkt in Ferranville. Hast du Lust, mir zu helfen? Dieses ganze alte Zeug …« (Und dann, kurz bevor er aufgelegt hatte:) »Ach ja: Charlotte ist gestorben.«
Seitdem sie sie verlassen hatte – Fabien musste damals fünf Jahre alt gewesen sein –, sprachen sie zu Hause von ihr nicht mehr als »Maman«, sondern als »Charlotte«. Fabien hatte seinen Vater niemals etwas Schlechtes über sie sagen hören, ebenso wenig wie Gutes, ganz einfach, weil er überhaupt nicht über sie sprach. Er hatte sie wie Alfred Dreyfus degradiert und in einen Winkel seiner Erinnerung verbannt, der so weit entfernt war wie die Teufelsinsel.
Über seinen Teller gebeugt, formte der Alte mit den Zinken seiner Gabel aus den Karotten, Kartoffeln und Bohnen, die er in seinem Garten gezogen hatte, ordentliche Häufchen.
»Das lief heute doch eigentlich ganz gut, oder? Wie viel hast du denn eingenommen?«
»Keine Ahnung … Fünfhundert, sechshundert Francs. Hauptsache, ich bin das Zeug los.«
»Ich wusste gar nicht, dass du das alles aufgehoben hast.«
»Wie – das alles?«
»Die Sachen von Charlotte.«
Sein Vater zuckte mit den Schultern, stand auf und warf das Essen auf seinem Teller, das er kaum angerührt hatte, in den Komposteimer. Fabien hatte den Eindruck, er nutzte die Gelegenheit, um sich unbemerkt eine Träne aus dem Auge zu wischen. Er ärgerte sich über sich selbst. Er hätte Charlotte nicht erwähnen sollen, aber er war nun schon drei Tage hier und wartete seitdem vergeblich darauf, dass sein Vater auf sie zu sprechen kam. Wie hätte er ahnen können, dass der Alte seit über dreißig Jahren insgeheim hoffte, Charlotte würde eines Tages aufkreuzen, um ihre Sachen zu holen? Ihre Sachen … Geister haben keine Besitztümer, keine Schuhe aus Eidechsenleder, keine rote Handtasche. Eine junge Frau hatte die Schuhe und die Tasche gekauft, heute Vormittag auf dem Flohmarkt. Zusammen für siebzig Francs. Sein Vater hatte nicht gehandelt. Als er ihr auf den Hundertfrancsschein dreißig herausgegeben hatte, hatte er nicht gezittert. Er hatte der jungen Frau einfach nur nachgesehen, bis sie in der Menge verschwunden war, und sogar noch ein bisschen länger.
»Wann geht dein Zug?«
»Um sechs Uhr irgendwas.«
»Dann haben wir ja noch Zeit. Ich ruh mich ein bisschen aus. Der Rücken tut mir weh. Lass das Geschirr stehen, ich spül dann heute Abend ab.«
»Nein, ich mach das schon. Ruh du dich nur aus.«
Die beiden Teller und die Handvoll Besteck waren rasch erledigt. Das war schade; Fabien hätte lieber gespült, bis er zum Zug musste. Er mochte dieses Haus nicht, und das Haus hatte ihn nie gemocht. Sein Vater hatte es gekauft und bezogen, als er in Rente gegangen war. Fabien fühlte sich dort immer wie in einem Wartezimmer, wusste nie, wo er sich hinsetzen sollte, alles war quadratisch, kantig, sauber, funktional. Weil er nicht wusste, wohin mit sich, setzte er sich wieder auf den Stuhl, auf dem er schon während des Mittagessens gesessen hatte. Sein Vater saß dösend in einem dieser grässlichen Sessel, die einen sofort an Krankenhaus und Tod denken ließen; die Brille hatte er auf die Stirn geschoben, und auf seinem Bauch lag ein aufgeschlagenes Buch, Wie Sie in allen Lebenslagen Ihre Haut retten. Er hatte immer nur solche Bücher gelesen, Bücher, die vom Überleben handelten, davon, wie man den Krieg überlebte, Kälte, Hitze, die Umweltverschmutzung, Epidemien, radioaktive Strahlung, und das mit derselben Leidenschaft, mit der sich andere Menschen ein Leben nach dem Tod ausmalten. Was für eine Katastrophe hatte er hinter sich? Charlotte? Nein, es reichte weiter zurück, Charlotte war nur die Bestätigung dafür gewesen, dass das Leben lebensgefährlich war. In dieser feindseligen Welt konnte man auf niemanden zählen, außer auf sich selbst. Seit Jahren fühlte sich Fabien in seiner Gegenwart wie in einem Aquarium. Jedes Mal, wenn er sich von ihm verabschiedete, fühlte es sich an, als wären seine Ohren verstopft, und er hatte das Bedürfnis, tief durchzuatmen, als hätte er lange Zeit ohne Sauerstoff unter Wasser verbracht. Wenn sein Vater sterben würde, würde er ihm einen Berg Schweigen hinterlassen.
Einmal hatte er ihn, um ihn zum Reden zu bringen, in ein Restaurant eingeladen. Sein Vater fand Restaurants furchtbar, so wie Cafés, Hotels und überhaupt alle Orte, an denen das Leben anderer Menschen zu spüren war. Fabien hatte sich ein Mittagessen unter Männern erhofft, vielleicht sogar unter Freunden. An ein solches Wunder hatte er nur glauben können, weil er damals noch so jung gewesen war. Aber er wollte unbedingt etwas aus ihm herausbringen, irgendetwas, über seine (des Vaters) Kindheit oder über seine eigene, über die Zeit vor Charlotte, über die Zeit nach Charlotte. Hatte er Geliebte gehabt? Hatte er noch immer welche? Zumindest ein paar Brosamen. Um ihn dazu zu bewegen, hatte er sich dazu hinreißen lassen, ihm ziemlich intime Einblicke in sein eigenes Leben zu geben, und hatte ein Glas Weißwein nach dem anderen gekippt, um sich Mut anzutrinken. Als sie erst beim Hauptgang waren, war er schon völlig betrunken und redete dummes Zeug, während sein Vater bis dahin nur einmal den Mund aufgemacht und gesagt hatte: »Iss, es wird sonst kalt.«
Als er zahlte und sein Vater sorgfältig seine Serviette zusammenfaltete, fühlte sich Fabien entsetzlich erniedrigt. Anstatt seinen Vater dazu zu bringen, ihn ins Vertrauen zu ziehen, hatte er sich nur albern benommen und sich lächerlich gemacht. Zu Hause war er sofort unter die Dusche gestürzt. Doch das war jetzt rund fünfzehn Jahre her. Heute war es anders. Fabien wusste, dass sein Vater niemals mit ihm reden würde, ganz einfach, weil er ihm vermutlich nichts zu sagen hatte, und das war auch gut so. Fabien war der Spross zweier Geister, und die einzigen verwandtschaftlichen Bande waren die Abwesenheit des einen und das Schweigen des anderen. Und er und sein...




