E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Garde Das wilde Herz der Lady Gwen
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95818-221-9
Verlag: Ullstein Forever
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Liebesroman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-95818-221-9
Verlag: Ullstein Forever
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kerstin Garde ist eine Berliner Autorin. Sie schreibt seit vielen Jahren Geschichten von mutigen Frauen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und ihre Leidenschaft ausleben, und von Männern, die am stärksten sind, wenn sie Gefühle zeigen.
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Prolog
Sanft drangen die Sonnenstrahlen durch das dichte Blattwerk und blendeten sie. Gwen schloss die Augen, das warme Gefühl auf ihrer Haut genießend. Sie blieb einen Moment stehen, stützte sich auf ihren Stock und atmete die frische Waldluft ein. Der Geruch von Laub und Wiese stieg ihr angenehm würzig in die Nase. Was für ein herrlicher Tag.
Sie war früh aufgestanden, um den Morgen in voller Pracht zu genießen. Das tat sie nicht oft, aber hin und wieder. In ihrer einfachen Gewandung würde niemand, der zufällig des Weges kam, erahnen, dass sie eine Lady war. Ganz im Gegenteil. Die schlichte Kleidung zeichnete sie als einfache Frau aus, niemand also, der etwas von Wert bei sich hatte, das für einen Dieb interessant sein konnte.
Sie lauschte. Wie schön der Wald am Morgen klang. Die Blätter rauschten sanft im Wind. Raschelten verspielt. Äste knarzten leise. Aus der Ferne erklang ein Zwitschern, die ersten Vögel wurden wach, um ihr Morgenlied anzustimmen. Es war ein Schauspiel, intensiv und lebendig, nicht zu vergleichen mit dem Alltag auf Burg Hemsworth.
Gwen fühlte sich frei. Und ganz leicht. Als könnte sie jeden Moment abheben und davonfliegen. So fühlte sie sich viel zu selten, saß sie doch auf Burg Hemsworth mehr oder weniger in einem goldenen Käfig, war genötigt, sich auf bestimmte Weise zu verhalten und angemessene Kleider mit viel zu engem Korsett zu tragen. Ihr wahres Wesen war nicht das einer Lady, das hatte ihr der Hauslehrer von klein auf gesagt. Zu wild, zu ungestüm, zu dickköpfig.
Gwen war all das in diesem Moment egal. Hier war sie eins mit der Natur. Der Wald war ihr Freund und Beschützer, der ihr erlaubte, so zu sein, wie sie wirklich war. Schon als Kind hatte sie gern hier gespielt, sich nach den anstrengenden Belehrungen des verzweifelten Lehrers im Unterholz versteckt. Sie kannte jeden Stein, jede Wurzel, jeden knorrigen alten Baum im Umkreis von einer Meile. Der Wald war mehr ihr Zuhause als der kalte Steinkoloss, der sich Burg nannte.
In die Melodie des Erwachens mischte sich plötzlich ein qualvoller Laut. Gwen riss erschrocken die Augen auf und blickte sich um. »Hallo?«, rief sie vorsichtig. Niemand antwortete.
Wahrscheinlich war es ein Tier gewesen, das einem anderen zur Beute gefallen war. Gwen schluckte. Auch das gehörte zum Leben des Waldes. Fressen und gefressen werden.
Sie stieß sich mit dem Stock ab und setzte ihren Weg fort. Viel Zeit hatte sie ja nicht, bis zum Frühstück musste sie zurück sein, weil man spätestens dann ihr Verschwinden bemerken würde.
Es dauerte nicht lang, da entdeckte sie ein Beet aus herrlich grünem Moos. Genau das, was sie gesucht hatte! Sie eilte hin zu der Stelle, einem alten Baum mit riesigen Wurzeln, die aus dem Erdreich ragten und übersät waren mit dem wertvollen Gewächs. Dabei zückte sie ihr Messer. Moos, besonders dann, wenn es getrocknet war, eignete sich hervorragend als Wundkompresse. Infektionen konnten so eingedämmt werden. Wer eine schwere Wunde hatte, der musste sie mit Moos verbinden. Das hatte ihr die Heilerin am Hof vor vielen Jahren beigebracht. Damals war Gwens Interesse für Heilkunde und all die nützlichen Kräuter erwacht. Natürlich hatte ihr Vater, als er davon erfahren hatte, ihre Bestrebungen zunichtegemacht. Eine Lady konnte nicht gleichzeitig auch Heilerin sein, das ziemte sich nicht. Gwen hatte das Argument nie verstanden, aber dieser und andere Vorfälle hatten sie zu dem gemacht, was sie heute war: eine Meisterin des Heimlichen und der Verkleidung.
Vorsichtig trennte sie das Moos mit dem Messer vom Wurzelwerk und tat es in den Lederbeutel, den sie mitgebracht hatte. Das Beet war ergiebig. Sie würde damit einen großen Vorrat für die Hofheilerin sammeln können.
Der alte Baum spendete sogar so viele Moosmatten, dass sie nicht alle mitnehmen konnte und später noch einmal zurückkehren müsste.
Nachdem der Beutel gefüllt war, zog sie ihn an den Schnüren zu und hängte ihn über ihre Schulter, als erneut jener seltsame Laut erklang, der ihr die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Ein merkwürdiges Stöhnen, das nicht menschlich schien und unvorstellbar qualvoll klang. Sie ertrug es nicht, wenn jemand litt. Völlig gleich, ob Mensch oder Tier. Und wenn Hilfe gebraucht wurde, war sie zur Stelle.
Gwen folgte entschlossen dem Laut. Er führte sie hinunter zum Bach, und dort entdeckte sie einen Hirsch im Gras. Blutspuren am Boden! Das bedeutete nichts Gutes! Rasch eilte sie zu dem Tier hin, das nur erschöpft den Kopf hob, aber zu schwach war, um die Flucht zu ergreifen. Das prächtige Geweih schien es kaum balancieren zu können, der Kopf sank wieder ins Gras. So ein schönes Tier!
»Ganz ruhig«, flüsterte sie und versuchte, das Vertrauen des Hirsches zu gewinnen. Die Blutspur, die sich über eine weite Fläche erstreckte, verriet, dass er offenbar ein Stück weit gelaufen war. Trotz der Verletzung im Schulterbereich. Dort steckte etwas. Es sah aus wie ein Bolzen, der sich ins Fleisch gebohrt hatte.
Ein Jäger! Es musste ein Jäger in der Nähe sein. Gwen blickte sich furchtsam um. Aber nirgends war ein Mensch zu sehen. Sie waren allein. Sanft legte sie ihren Stock zur Seite und die Hand auf den Kopf des Hirsches, um ihn zu streicheln.
»Ganz ruhig, ich werde dir helfen«, versprach sie. Ihre beruhigende Stimme zeigte Wirkung. Das Tier war zu erschöpft, um zu fliehen. Es hatte kaum eine andere Wahl, als sich seinem Schicksal zu ergeben. Dennoch hatte Gwen das Gefühl, das Tier bringe ihr nach und nach Vertrauen entgegen, denn es ließ sie gewähren.
Gwen beugte sich über die Wunde. Der Bolzen steckte zum Glück nicht tief, was darauf hindeutete, dass der Jäger aus einiger Entfernung geschossen hatte, wodurch die Aufprallwucht geringer ausgefallen war. Außerdem war der Bolzen knapp am Schulterblatt vorbeigegangen, sodass der Hirsch keine Bewegungseinschränkung davontragen würde. Das war überlebenswichtig für ein Beutetier.
Im Gegensatz zu einem Pfeil besaß ein Bolzen, soweit Gwen wusste, keinen Widerhaken. Es würde dennoch nicht leicht werden, ihn zu entfernen. Und es würde dem Tier große Schmerzen bereiten.
Gwen wusste, sie durfte nicht zögern. Sie musste den Bolzen packen und in einem Zug herausziehen. Das war ihre einzige Chance! Auch wenn es noch so grausam klang. Jede Alternative wäre nur noch schlimmer.
»Das wird jetzt wehtun, mein Freund«, sagte sie mitfühlend und brachte sich in Position. Der Hirsch hob nervös den Kopf, als ahnte er, was sie vorhatte. Entschlossen griff sie mit beiden Händen nach dem Teil des Armbrustbolzens, der herausragte.
Fest biss sie die Zähne zusammen und zog ihn mit aller Kraft heraus. Der Hirsch stöhnte auf. Sie hatte nie einen schrecklicheren Laut gehört. Er war erfüllt von Schmerz und Pein und hallte durch den ganzen Wald. Trotz aller Erschöpfung sprang das Tier ruckartig auf und stürzte los, nur um wenige Schritt entfernt erneut zusammenzubrechen.
Gwen stockte der Atem. Ihr Herz raste. Sie hatte dem Tier nicht wehtun wollen, aber es war nötig gewesen, um es von dem Fremdkörper zu befreien. Sie blickte auf ihre zitternde Hand, in der sie den Bolzen hielt. Blut klebte an ihren Fingern. Erschrocken ließ sie das Geschoss zu Boden fallen.
»Verzeih«, flüsterte sie aufgeregt und ging abermals behutsam auf den Hirsch zu. »Es ist alles gut, das Schlimmste hast du schon hinter dir. Ich werde jetzt deine Wunde versorgen. Vertrau mir nur noch ein Mal.«
Der Hirsch machte keine Anstalten, sich zu wehren. Oder er war schlicht zu benommen, um einen weiteren Fluchtversuch zu wagen. In jedem Fall zeigte er keinen Widerstand, was ihr entgegenkam.
Gwen atmete auf. Ganz vorsichtig zog sie eine der Moosmatten aus ihrem Beutel und legte diese mit der grünen Seite nach unten auf die blutende Wunde. Besser wäre es gewesen, das Moos wäre bereits getrocknet. Da es frisch geerntet war, war es noch feucht. Es würde hoffentlich trotzdem seinen Dienst tun.
»Bleib ruhig liegen«, sagte sie und streichelte den Kopf des Tieres, das panische Laute ausstieß. »Ich weiß, es tut weh, aber der Schmerz wird bald vergehen, versprochen.«
Gwen hatte schon immer mit Tieren umzugehen gewusst, sie waren ihr oft lieber als Menschen, weil sie keine Habgier und keinen Hass kannten.
»Ich suche dir jetzt etwas zu fressen«, flüsterte sie und begab sich zum Ufer des Baches, um frisches Gras zu rupfen.
Plötzlich erklangen das Schnauben eines Pferdes und das plätschernde Geräusch von Hufen, die durch Wasser galoppierten. Gwen hob den Kopf und erstarrte.
Ein Mann in schwarzer Lederrüstung ritt auf einem ebenso dunklen Pferd durch den Bach genau auf sie zu. Über seiner Schulter hing eine Armbrust. Das Gesicht war hinter einem finsteren Visier verborgen. Gwen sah niemanden sonst und ging davon aus, dass der Mann allein war. Es handelte sich keinesfalls um einen Jäger ihres Vaters, möglicherweise war er ein Wilderer. Doch die dunkle Erscheinung, bei deren Anblick sich ihr Atem beschleunigte, ließ sie an etwas noch viel Gefährlicheres denken als nur an einen Wilddieb. Der schwarze Ritter! Er musste es sein. In und um Hemsworthshire rankten sich die furchtbarsten Geschichten um ihn.
Gwen kannte die meisten davon. Und sie waren ausschließlich schauerlicher Natur. Die Leute erzählten sich, er hätte einen Gegner mit einem Speer aufgespießt und einem anderen im Zweikampf den Kopf abgerissen. Er kannte keine Gnade, war ein Monster, dessen Gesicht niemand je gesehen hatte. Einige behaupteten gar, er sei nicht menschlich, sondern ein Oger stecke in der dunklen Rüstung. Und wenn sie ihn so...