Gardam | Letzte Freunde | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Gardam Letzte Freunde

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25427-5
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-446-25427-5
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Es ist Abscheu auf den ersten Blick, der Edward Feathers und Terry Veneering, die glänzendsten Juristen des British Empire, ein Leben lang verbindet. Als ebenbürtige Gegner in zahllosen Prozessen hassen sie einander schon, bevor sie sich beide in dieselbe Frau verlieben. Und es wird ein Leben lang dauern, bis sie bemerken, dass sie ebenso gut Freunde sein könnten. Was hat Feathers' Frau Betty so angezogen an Veneering, dem Mann mit dem weißblonden Haar, der selbst mit der schönsten Frau Hongkongs verheiratet ist? Worum beneiden die erbitterten Feinde sich mit solcher Intensität? Mit weiser Gelassenheit erzählt Jane Gardam, eine der bekanntesten Schriftstellerinnen in England, von der Fähigkeit zur Liebe und einer späten Freundschaft.

Jane Gardam, geboren 1928 in North Yorkshire, wurde für ihr viel bewundertes schriftstellerisches Werk mehrfach ausgezeichnet. Neben der BestsellerTrilogie um Old Filth erschienen zuletzt »Robinsons Tochter« (2020), »Mädchen auf den Felsen« (2022) und »Gute Ratschläge« (2024). Jane Gardam starb 2025 in Oxfordshire.
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3. Kapitel


Nach dem Gottesdienst wollte die alte Dulcie nicht mehr lange beim Beerdigungskaffee in der Parliament Chamber auf der anderen Seite des Temple Yard bleiben. Die Gespräche schwollen zu einem ganzen Chor an, als sie alle aus der Kirche strömten. Der Zwerg wurde in einem protzigen Wagen davongefahren und warf seinen Hut in die Menge wie ein Held. Menschenströme schoben sich die Treppe zur Inner Temple Hall hinauf Richtung Champagner. Dulcie hielt sich an Susans Arm fest; drinnen, in der Anwaltskammer, beobachtete sie die Leute, wie sie einander verunsichert betrachteten, bevor sie sich ins Getümmel stürzten. Sie beobachtete sie, wie sie einander beobachteten, verstohlen, aus der Ferne. Sie registrierte, wie sie einander mit durchaus unterschiedlicher Emphase nach dem Namen fragten. Sie sah ein paar Dinge, die ihr in letzter Zeit Sorgen gemacht hatten. Und nebenbei spielte sich noch vieles ab, was sie zum ersten Mal bemerkte oder zum ersten Mal analysierte, obwohl sie wusste, dass es alltäglich war – Gewohnheiten wie der Blick auf die Uhr oder das Ausstrecken einer Hand. Aber was um alles in der Welt bedeutete es?

Sie war sicher, dass sie viele der in ihrem Blickfeld auftauchenden plaudernden Gesichter gekannt hätte, wenn sie den Schleier aus Runzeln und Falten hätte heben können. Und diese komische papierartige, trockene Haut! »Ich fürchte, das waren die ganzen Zigaretten«, sagte sie zu einer vorbeikommenden Frau in rosa Seide. Die Frau verschwand auch gleich wieder von der Bühne. In einer Ecke schienen ein paar Rüpel den Hut des Zwergs herumzureichen, und es wurde gejubelt. »Cowboys«, sagte sie. »Hier geht es ja zu wie im Saloon.« Sie ging zu den herrlichen, hohen Fenstern und hörte überall halb vertraute Stimmen und die Namen alter Freunde, von denen bedauert wurde, dass sie schon so lange nicht mehr da waren.

Aber für sie waren sie noch nicht verschwunden. Niemals! Dulcie hatte nach dem Vorbild ihrer Mutter seit der Schulzeit sämtliche Adressbücher und Geburtstagskalender aufbewahrt, ebenso wie ein verschlissenes Vorkriegs-Autogrammbuch. Einige Namen waren auf den Seiten schon verblichen. Manche hatte Susan rigoros durchgestrichen. (»Aber in Wingfield waren immer Vansittarts!« – »Susan, streich die nicht durch! Ich schicke ihnen eine Weihnachtskarte.«) Ich muss mal dieses E-Mail lernen, dachte sie. Morgen. »Susan – können wir bitte nach Hause fahren?«

Susan holte den Mantel ihrer Mutter. Den Hut hatte Dulcie natürlich aufbehalten. Er warf einen angenehm fedrigen Schatten, aber sie wünschte sich, zur jungen Generation zu gehören, die den Hut in der Garderobe gelassen hätte, um zu zeigen, dass ihr Haar nicht, wie bei den meisten anderen, oben dünn wurde. Aber das wagte sie nicht. Ihr Pelzmantel war teuer und leicht wie Wolle und roch nach »Evening in Paris«, was den ein oder anderen alten Nasenflügel beben ließ, als sie vorbeiging.

Ein Taxi zur Waterloo Station war gerufen worden, und Herman wurde gefunden. Der Junge stand groß und schwerfällig da und sah in Richtung der Themse über die Temple Gardens hinweg, »wo sie«, erklärte er seiner Großmutter, »wie du ja sicher weißt, die Rosenkriege organisiert haben«.

»So ein hervorragender Limonensaft«, sagte Dulcie. »Den haben wir im Krieg vielleicht vermisst!«

Herman sah sie finster an und sagte, heutzutage hätten wohl wirklich nur noch Amerikaner ein Geschichtsbewusstsein.

»Dabei haben die ja nicht mal besonders viel Geschichte«, sagte Dulcie.

»Genießen Sie die romantische Aussicht?«, fragte der ehemalige Vizekanzler, der gerade vorbeikam. »Hallo, Dulcie. Ich bin Cumberledge. Eddie und ich waren zusammen in Wales.«

»Wie schön«, sagte Dulcie. »Das soll ja jetzt Cumbria heißen. So affig. Herman, Schatz, ich denke, wir gehen.«

»Die Themse hat mal so gestunken, dass sie aus dem House of Commons ausziehen mussten«, sagte Herman.

»Heute stinkt es da auch manchmal ziemlich«, sagte ein neuer Queen’s Counsel, der gerade mit einem schwappenden Glas Wein in der Hand vorbeikam.

»Das müssten Sie schon näher erläutern«, sagte Herman, aber der Anwalt war schon vorbei. »Granny, niemand spricht mit mir!«

»Warum sollten sie?«

»Und Musik gibt es auch nicht.«

»Ich glaube kaum, dass Old Filth ein großer Musikliebhaber war, Schatz.«

»Veneering schon. Ich mochte Mr Veneering sowieso lieber.«

»Das sagst du immer«, sagte seine Großmutter. »Ich weiß gar nicht, wieso du ihn überhaupt kanntest. Und er hieß Sir Terence. Sir Terry Veneering.«

»Granny, ich war neun. Er war bei euch zu Hause. Seine Haare waren wie Bindfäden und knallgelb. Er hat auf eurem Klavier Blues gespielt. Weißt du nicht mehr? Da war noch so ein schrecklicher Typ da, Winston Smith oder so. Wie in 1984. Ich hoffe, der hat es auch hinter sich, wie die meisten hier. Warum ist Mr Veneering denn schon tot? Der hat mich wenigstens wahrgenommen. Er war bestimmt Amerikaner. Amerikaner vergessen einen nicht. Old Filth«, (»Sir Edward«, sagte Dulcie), »wusste nie, wer ich bin.«

»Ab ins Taxi, Herman. Halt mal den Mund.«

Ein kleiner, alter Mann begleitete sie, als sie die Feier verließen.

Sie hatte ihn schon in der Kirche gesehen, ihm guckte ein Zweiter-Klasse-Ticket für die Bahn aus der Brusttasche.

Als sie sich ins Taxi setzten, stieg er mit ein. »Dulcie«, sagte er. »Ich bin Fiscal-Smith.«

Sein Name und sein Gesicht waren schon den ganzen Tag am Rande ihrer Wahrnehmung gewesen, wie das verlöschende Licht eines weit entfernten Planeten. Fiscal-Smith!

»Aber«, sagte sie, »Sie haben doch nach Veneerings Party … ich meine, nach seiner Trauerfeier, gesagt, Sie würden nie wieder nach London kommen? Leben Sie nicht irgendwo im Norden?«

»Frühzug. Darlington«, sagte er. »Mein Ghillie hat mich zum Zug gebracht, zwei Stunden nach King’s Cross. Praktisch.«

»Was ist denn ein Ghillie?«, fragte Herman.

»Ich lasse keine Trauerfeier aus. Für etwas anderes wäre ich sicher nicht nach London gekommen. Gut, vielleicht für die Verleihung des Hosenbandordens … Sie erinnern sich ja sicher, dass ich Filths Trauzeuge war. In Hongkong. Sie waren doch auch da. Mit Willy.«

»Ja«, sagte Dulcie nach einer Pause mit glasigem Blick, weil ihr mit erschreckender Deutlichkeit einfiel, dass Veneering nicht bei der Hochzeit gewesen war, natürlich nicht. Nicht in Fleisch und Blut.

Fiscal-Smith war eigentlich nie einer von uns, dachte sie. Heute weiß niemand mehr irgendetwas über ihn. Er ist aus dem Nichts aufgetaucht. Wie Veneering. Sein ganzes Leben lang hinterm Geld her. Er wird jetzt jeden Moment fragen, ob er mit uns nach Dorset kommen kann, ein paar Tage kostenloses Bed and Breakfast. Als Nächstes macht er mir noch einen Heiratsantrag.

»Ich bin fast dreiundachtzig«, sagte sie und verwirrte ihn.

Er zog sein billiges Rückfahrticket aus der Brusttasche und las es. »Gerade dachte ich«, sagte er, »ob ich mit Ihnen nach Dorset fahre? Für ein paar Tage? Der alten Zeiten wegen? Uns an Willy erinnern? Für eine Woche? Oder zwei? Möglicherweise?«

Im Zug setzte er sich sofort auf Hermans reservierten Platz. »Das«, sagte Herman, »ist illegal.«

»Gerechtigkeit«, sagte Fiscal-Smith, »hat mit der Gesetzgebung nichts zu tun.«

»Sie werden mir helfen müssen, Mutter hier hinauszubekommen. In Tisbury ist die Bahnsteigkante so niedrig, sie müssen sie runterheben.«

»Einen heben würde ich sowieso gern«, sagte Fiscal-Smith. »Gibt es dort einen Kofferkuli?«

Es gab keinen. Die Reise war langwierig. Fiscal-Smith hatte einen Disput mit dem Schaffner, der ihm nicht recht zugestehen wollte, dass er mit dem Rückfahrt-Anteil seines Fun-Day-Special-Tickets ein Anrecht auf einen Erster-Klasse-Platz in einen ganz anderen Teil des Landes hatte. Fiscal-Smith gewann den Fall, wie er es auch früher schon immer wieder geschafft hatte, indem er unnachgiebig immer weiter die Verteidigung demontierte. Der Schaffner gab sich schließlich zitternd geschlagen. »Lächerlicher Mensch. Sagenhaft schlecht ausgebildet«, sagte Fiscal-Smith.

Schließlich hielt der Zug in Tisbury, musste aber zunächst auf einem Nebengleis warten und den Zug aus der Gegenrichtung durchlassen. »Na, das ist ja hervorragend gelöst«, sagte Fiscal-Smith, als sie ans Gleis fuhren und das abenteuerliche Aussteigen aus luftiger Höhe begann, wie auf der Titanic. Die Leute sprangen praktisch in die Luft und hofften, unten aufgefangen zu werden. »Sehr gefährlich«, sagte Fiscal-Smith. »In Kauf genommenes Risiko, bewusste Fahrlässigkeit, diese Linie. Rette sich, wer kann.« Dann verschwand er komplett.

Dulcie und Susan wurden von dem Intellektuellen gerettet, der den Bahnsteig heruntergelaufen kam und Dulcie aus dem Zug hob.

»Wie schnell Sie rennen können«, sagte sie. »Sie haben ja genauso lange Beine wie Edward. Früher erkannte man einen englischen Gentleman an seinen langen Beinen. Wobei sie mit dem Alter alle etwas wacklige Schenkel bekamen.« Plötzlich hatte sie Filths sterbliche Überreste auf dem englischen Friedhof von Dhaka vor Augen, wo niemand war, der ihm Blumen aufs Grab gelegt hätte, und ihr kamen die Tränen. Jetzt waren alle tot, dachte sie. Niemand mehr übrig.

»Kommen Sie doch mit uns zurück«, sagte der Familienvater. »Es ist so ein scheußlicher Abend. Ich bringe Sie zu Hause vorbei. Wir haben eine Decke im Auto.«

Aber sie sagte: »Nein, die Familie soll lieber zusammenbleiben. Sie können Fiscal-Smith mitnehmen«, aber das schien er nicht zu hören.

Fiscal-Smith hatte Susans alten Morris Traveller...


Gardam, Jane
Jane Gardam, geboren 1928 in North Yorkshire, wurde für ihr viel bewundertes schriftstellerisches Werk mehrfach ausgezeichnet. Neben der BestsellerTrilogie um Old Filth erschienen zuletzt »Robinsons Tochter« (2020), »Mädchen auf den Felsen« (2022) und »Gute Ratschläge« (2024). Jane Gardam starb 2025 in Oxfordshire.



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