Gardam Eine treue Frau
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25186-1
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-446-25186-1
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jane Gardam, geboren 1928 in North Yorkshire, wurde für ihr viel bewundertes schriftstellerisches Werk mehrfach ausgezeichnet. Neben der BestsellerTrilogie um Old Filth erschienen zuletzt »Robinsons Tochter« (2020), »Mädchen auf den Felsen« (2022) und »Gute Ratschläge« (2024). Jane Gardam starb 2025 in Oxfordshire.
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2. Kapitel
Etwas mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor, als auf den Feldwegen der Donheads noch Kühe und Hühner herumliefen, als es noch Schmiede gab und der Dorfladen der Mittelpunkt des Universums war, als die meisten Einwohner – sofern sie im Krieg nicht bei der Armee gedient hatten – noch nie weiter als bis Shaftesbury gekommen waren, stand ein junges englisches Mädchen in einem Zimmer eines zweitklassigen Hotels in Hongkong und presste sich einen Brief ans Gesicht. »Oh«, sagte sie. »Ja.«
»Oh ja«, sagte sie zu dem Brief. »Ja, ich denke schon!« Sie strahlte übers ganze Gesicht.
Etwa im selben Augenblick – vom Orient aus betrachtet am Vortag – saß ein ungewöhnliches Paar im glänzenden neuen Flughafen von London (der heute Heathrow hieß) in England (das heute eigenartigerweise United Kingdom hieß) und wartete auf einen Flug nach Hongkong. Einer der Männer, er war beinahe im besten Alter, also gerade Anfang dreißig, war Engländer und sehr groß. Er trug einen etwas altmodischen, maßgeschneiderten Anzug und Schuhe, die er an der Piccadilly gekauft hatte (St. James’s Street). Ihm war kaum bewusst, wie distinguiert er wirkte, und hätte er einen Hut getragen, dann hätte man ihn für einen Geist halten können. So hatte man nur das Gefühl, er sei aus der Zeit gefallen.
Sein Begleiter war ein chinesischer Zwerg.
So wurde er jedenfalls in der englischen höheren Anwaltschaft beschrieben. Der große Mann war Anwalt vor höheren Gerichten, Junior im Inner Temple, und man sprach bereits voller Respekt über ihn. Der Zwerg war Anwalt vor niederen Gerichten, hatte sich international schon einen Ruf erworben und war nur theoretisch Chinese. Er selbst sah sich lieber als Hakka. Er wurde mit noch größerem Respekt behandelt als der höhere Anwalt – der natürlich Edward Feathers war und bald unter dem Namen »Old Filth« zu Ruhm kommen sollte (wobei »Filth« das Akronym von »Failed in London Try Hong Kong« ist) – denn er verfügte geradezu über eine Goldmine laufender Zivilprozesse in aller Welt, überall, wo englisches Recht galt. Der Zwerg hatte einen guten Riecher für Gewinner.
Sein Name war Albert Loss. Eigentlich hieß er Albert Ross, aber er hatte Schwierigkeiten, das R auszusprechen, obwohl er sonst akzentfrei Englisch sprach. Das ärgerte ihn, denn »Loss« klang so nach Verlieren, und das war kein gutes Signal seinen Mandanten gegenüber. Er behauptete, er wäre in Eton gewesen, aber selbst Feathers war seine tatsächliche Herkunft schleierhaft. Er bemühte sich nach Kräften, seinen Namen mit dem schottischen Ross-Clan in Verbindung zu bringen, und ließ gelegentlich Anspielungen auf Glamis Castle und die Hirschjagd in den Glens einfließen. Manchmal wurde er scherzhaft »Albatros« genannt, daher auch »Coleridge« oder »Ancient Mariner«, was er gewöhnlich mit einem huldvollen Senken des Kopfes quittierte. Er war unglaublich eitel. Aber er war Eddie Feathers seit dessen siebzehntem Lebensjahr ein großartiger, wenn auch strenger Freund gewesen.
Unterhalb der Taille, jetzt von einem Tisch in der First Class Lounge des Flughafens verdeckt, an dem er saß und eine Patience legte, verjüngte sich Ross’ stämmiger Rumpf zu dürren, kurzen Beinen, die in klobigen Füßen in Gesundheitsschuhen endeten. Die Beine ließen auf eine schwierige Geburt und eine kränkliche Kindheit schließen. Niemand fand je heraus, ob da etwas dran war.
Wie ein König oder Prinz trug er keine Uhr. Eddie Feathers hatte ihm während des Krieges im Hafen von Ceylon, als um sie herum Bomben fielen und Ross sich entschlossen hatte, dennoch dort zu bleiben, eine Uhr geschenkt, seinen wertvollsten Besitz. Sie hatte Eddies Vater gehört. Die Uhr war inzwischen natürlich längst verschwunden, wahrscheinlich gegen Lebensmittel eingetauscht, aber sie war nicht vergessen, und sie wurde nie ersetzt.
Auf dem Kopf trug Ross heute wie jeden Tag einen braunen Trilbyhut in Größe 10, ebenfalls von der St. James’s Street. Zu Füßen der beiden Männer standen zwei lederne Aktentaschen, in die Eddie Feathers’ Initialen in Gold geprägt waren. Unübersehbar Taschen, die mit ihrem Besitzer zusammen alt werden würden, wenn er Queen’s Counsel wurde, Richter, Höherer Richter, vielleicht Lord of Appeal in Ordinary, sogar Queen’s Remembrancer, möglicherweise Gott.
Feathers würde seinen Erfolg verdienen. Er war ein wirklich guter und freundlicher Mann, fleißig und klug. Er war in Britisch-Malaya aufgewachsen, einsam und von niemandem als dem Personal geliebt, und dann als sogenanntes Raj-Waisenkind in eine (schreckliche) Pflegefamilie in Wales gesteckt worden. Dann war er aufs Internat gegangen und hatte in der Luftschlacht um England Freunde verloren, von denen einer ihm mehr bedeutet hatte als jede Familie und über den er nie sprach. Er war als Evakuierter in den fernen Osten zurückgeschickt worden und hatte auf einem maroden Schiff Ross kennengelernt und ihn gleich wieder verloren. Eddie kehrte krank und ohne einen Penny nach England zurück und saß nach einem freudlosen Jura-Studium in Oxford eines Tages unterbeschäftigt im Korridor einer eiskalten, dickenshaften Kanzlei im Lincoln’s Inn (der Inner Temple war komplett zerbombt), als plötzlich wie aus heiterem Himmel Ross vor ihm stand und ihn in Pracht und Herrlichkeit erhob. Ross war inzwischen Anwalt geworden und hatte jede Menge Mandate aus Fernost und einen Sack Märchengold mitgebracht.
Unter seiner Anleitung spezialisierte Eddie sich auf Schadensersatzforderungen wegen Bombenschäden und dann allgemein auf Baurecht. Ross brachte ihn beinahe aus dem Stand so weit, dass er in guten Anzügen rund um die Welt flog und zum Zaren der Bauindustrie (so nannte man ihn heute) wurde. Im Fernen Osten begann der Wolkenkratzerboom.
Und jetzt, in den mageren Attlee-Jahren nach dem Krieg, sprachen seine Kollegen an den Inns of Court beim Walfischsteak über Eddie. Die meisten von ihnen hatten sonst nicht viel zu tun. Rechtsstreitigkeiten waren Anfang der fünfziger Jahre so selten wie Selbstmord im Krieg.
Aber es gab auch keine große Eifersucht. Baurecht ist nicht so glamourös wie Strafverteidigung. Es ist angeblich eher einfach, im Vergleich zu Transport- oder Regulierungsrecht. Tatsächlich ist es sehr nah am Ingenieurswesen, was in England von jeher verpönt ist. Oft wird es als »Abwasser und Kanalisation« bezeichnet. Nannte man ihn deswegen Filth? Nein, mit Schmutz hatte das nichts zu tun. Filth war ein unbedingt liebevoll gemeinter Spitzname. Eddie, oder Filth, sah stets aus, als käme er gerade aus der Dusche eines Fünfsternehotels. Er war untadelig an Leib und Seele. Beinahe jedenfalls. Man konnte gut mit ihm zurechtkommen, aus einer gewissen Entfernung natürlich, wie es in England eben üblich war. Er war nicht eifersüchtig, und er rief keine Eifersucht hervor. Frauen …
Ach, Frauen. Nun ja, Frauen waren von ihm fasziniert. Er hatte nichts Weichliches. Er war sexuell nicht unattraktiv. Manchmal hatte er so ein Strahlen im Blick. Aber keine kam ihm wirklich nah. Er hatte keine Verpflichtungen, niemand hörte ihn im Schlaf reden, wenn er das leidenschaftliche Malaysisch seiner frühen Kindheit sprach.
Seine Erinnerungen waren so geheimnisvoll und intim wie die anderer Leute auch. Er wusste nur: am fähigsten und am glücklichsten war er unter der fernöstlichen Sonne, beim Prasseln des Monsunregens oder beim Brüllen und Schwappen des warmen Meers an weißem Strand. Die meisten Fälle gewann er im fernen Osten.
Seine einzige Bedrohung war ein anderer englischer Anwalt, ein wenig jünger als er und ein ganz anderer Typ: ein Mann, der keine weitere Sprache außer Englisch sprach, der ein Ingenieursdiplom und irgendein juristisches Examen von einer Art Abendschule in Middlesborough hatte; er war dreist, hässlich, nicht zu bremsen und unerschütterlich gut gelaunt auf eine Weise, die viele Frauen und viele Männer unwiderstehlich fanden. Sein Name war Terry Veneering.
Terry Veneering vertrat die Gegenseite in dem Fall, den Edward Feathers in Hongkong vor sich hatte. Er flog aber mit einem anderen Flugzeug, oder vielleicht war er auch bereits in Hongkong, denn seine Frau war Chinesin. Eddie war inzwischen ganz gut darin, alles über den verabscheuten Widersacher zu verdrängen, und konzentrierte sich stattdessen auf seinen Berater Ross, der ein Kartenspiel von einer Hand in die andere fliegen ließ, die Karten mischte, austeilte, im hohen Bogen durch die Luft schnipste und sie mit der anderen Hand wieder auffing. Ross machte Wind.
»Hör doch mal auf damit«, sagte Filth. »Die Leute gucken schon.«
»Aber nur, weil die das alle nicht können«, sagte Ross. »Das ist eine Gabe!«
»Du hast schon mit Karten herumgespielt, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Willst du nicht lieber stricken lernen?«
»In Hongkong braucht kein Mensch Pullover. Such mal die Herzdame.«
»Ich will die Herzdame nicht. Ich will das verdammte Flugzeug, wo bleibt es denn? Stimmt etwas nicht? Sie lassen einen aber auch im Unklaren.«
»Sollte eigentlich alles gut sein, es ist ein ganz neues. Mit großen, quadratischen Fenstern.«
»Großartig. Nur dass es anscheinend nicht funktioniert. Die alten waren letztes Jahr besser. Wie sie so herumtrudelten. Mit losen Schrauben. Und wo noch erst Männer mit Ölkännchen kamen und die Teppiche anhoben. Wir sind immer angekommen!«
»Da ist unser Aufruf«, sagte Ross. Er ließ die Karten auf einen Stapel zusammenschnurren, steckte den Stapel in ein Etui und nahm dann mit einer Taschenspielergeste die beiden Aktentaschen vom Boden auf und marschierte in Richtung der Aufzüge. Von oben sah er aus wie ein gehender Hut.
Filth ging mit weit ausgreifenden Schritten hinter ihm her und trug...