E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Gänswein / Gaeta Nichts als die Wahrheit
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-451-83022-8
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mein Leben mit Benedikt XVI.
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-451-83022-8
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georg Gänswein, geb. 1956 in Waldshut, Kurienerzbischof, 1984 im Freiburger Münster zum Priester geweiht; seit 1995 an der Römischen Kurie tätig; ab März 2003 Privatsekretär von Kardinal Joseph Ratzinger und ab April 2005 von Papst Benedikt XVI. Am 7. Dezember 2012 Ernennung zum Titularerzbischof und zum Präfekten des Päpstlichen Hauses. Bischofsweihe durch Papst Benedikt XVI. im Petersdom am 6. Januar 2013. Er blieb auch nach dem Amtsverzicht von Benedikt XVI. im Februar 2013 als Privatsekretär an seiner Seite bis zu dessen Tod am 31. Dezember 2022.
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1 Der unkonventionelle »Auserwählte«
Ein ewiges Provisorium
Die vielen Jahre der Erfahrung im Umgang mit den höchsten Ebenen der vatikanischen Hierarchie haben in mir die Überzeugung reifen lassen, dass jedes Mitglied des Kardinalskollegiums die – in irgendeinem Winkel seines Geistes und des Herzens verborgene – Vorstellung in sich trägt, Christus könne ihn eines Tages auffordern, sein Stellvertreter auf Erden zu werden.
Gleichzeitig aber wurde mir ebenso klar, dass niemand aus diesem Kreis – außer er hätte schwerwiegende psychische Probleme – tatsächlich den Ehrgeiz hat, den Stuhl Petri zu besteigen, weil jeder sich dessen bewusst ist, welchen körperlichen Einsatz und vor allem welche geistliche Verantwortung dieses Amt mit sich bringt und verlangt. Daher wird jeder Gedanke in diese Richtung verdrängt und man versucht, diese Eventualität so weit wie möglich auszuschließen.
Blitzartig kommen mir diese Überlegungen in den Sinn, wenn ich an den 14. Februar 2003 zurückdenke, als der damalige Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre mir etwas ankündigte, das mich persönlich betraf und tatsächlich damals und noch mehr später mein Leben radikal verändern sollte.
Wir befanden uns in der Pause des sogenannten »Congresso particolare«, der wöchentlichen Sitzung, die immer am Freitagmorgen stattfand, um jedem Mitglied der Kongregation die Gelegenheit zu geben, seine Vorgesetzten über den Stand der eigenen Arbeit an einem bestimmten Thema zu informieren.
Zwei Tage zuvor war die Berufung von Monsignore Josef Clemens, seit mehr als zwanzig Jahren Privatsekretär von Kardinal Ratzinger, zum Untersekretär der Kongregation für die Institute des geweihten Lebens und für die Gesellschaften des apostolischen Lebens bekannt geworden. (Schon am darauffolgenden 25. November wurde er zum Sekretär des Päpstlichen Rates für die Laien ernannt und gleichzeitig zum Bischof erhoben.)
Während wir Kaffee tranken und uns in kleinen Gruppen unterhielten, bat Ratzinger um unsere Aufmerksamkeit, räusperte sich, beglückwünschte Monsignore Clemens im Namen der Anwesenden zu seiner Ernennung und dankte ihm herzlich für seine Tätigkeit für die Kongregation und für ihn persönlich.
Unmittelbar danach rief er mich mit einem freundlichen Lächeln zu sich, und wandte sich mit Verweis auf mich weiter an die Umstehenden: »Ihr alle kennt Don Giorgio (so wurde ich in der Kongregation genannt): Ich habe ihn hier an meine Seite geholt, damit ihr sehen könnt, dass wir beide hier ein ›Provisorium‹ sind.« Es erhob sich ein Raunen, weil einige wegen der deutschen Aussprache des Kardinals »professori« (Professoren) statt »provvisori« verstanden hatten und sich fragten, was das zu bedeuten habe.
Kardinal Ratzinger wurde sich des Missverständnisses bewusst und korrigierte schnell: »Nein, ich habe eigentlich ›provvisori‹ gemeint, denn Don Giorgio wird mein Privatsekretär, aber nur für kurze Zeit. Denn ihr wisst, dass ich hier seit fast 21 Jahren Präfekt bin und Johannes Paul II. schon mehrmals darum gebeten habe, mich in Pension gehen zu lassen, wie es die Regel ist, da ich schon seit Monaten das 75. Lebensjahr vollendet habe. Ich muss nur noch den Brief mit der Bestätigung des Papstes abwarten.«
»Wer’s glaubt, wird selig!«, lautete einhellig der Kommentar, den sich die Anwesenden zuflüsterten. Obwohl der Kardinal vollkommen von seiner Aussage überzeugt war, hegte niemand auch nur den geringsten Zweifel daran, dass der genannte Brief seinen Adressaten nie erreichen würde, ja dass er nicht einmal geschrieben oder abgeschickt würde.
Als der Kardinal später privat das Ausbleiben einer Antwort erwähnte, wollte ich durch eine witzige Bemerkung die Situation entschärfen und riet ihm, bei einem der gewohnten Treffen am Freitagnachmittag Johannes Paul II. scherzhaft darauf hinzuweisen, dass der Postverkehr vom Apostolischen Palast zum Heiligen Offizium nicht gut funktioniere. Er aber beschränkte sich auf sein nur angedeutetes Lächeln und schwieg dann. Ich verstand, dass er nicht weiter darauf eingehen wollte, und verbot mir künftig derartige Kommentare.
Tatsächlich war dies ein weiterer Beweis dafür, dass Kardinal Ratzinger ein bisschen »außerhalb der (kirchlichen) Welt« lebte, wie wir scherzhaft sagten, und dass er sich eindeutig in höheren Sphären bewegte als andere purpurtragende Mitbrüder. Dabei war er sich offenbar nicht bewusst, dass viele ihn als einen der ersten Papabili für das absehbare Konklave betrachteten. Oder vielleicht wollte er nur die Angst von sich fernhalten, dass die versteckten Andeutungen, die im Vatikan zirkulierten, Wirklichkeit werden könnten. … Diese Aussicht lag seinen Überlegungen und Wünschen vollkommen fern.
Er war nämlich davon überzeugt, alles so geregelt zu haben, dass das Tor für seinen Nachfolger offenstand. Neben der Beförderung von Clemens und einigen Veränderungen innerhalb der Kongregation – insbesondere der Aufnahme von Charles Scicluna als Kirchenanwalt [promotor iustitiae] – wurde am 10. Dezember 2002 die Ernennung von Tarcisio Bertone, seit 1995 Sekretär der Kongregation und wichtigster Mitarbeiter des Präfekten, zum neuen Erzbischof von Genua bekannt gegeben.
Der offizielle Amtsantritt Bertones in seiner Diözese erfolgte am 2. Februar 2003. Deshalb schrieb Kardinal Ratzinger am 16. Februar 2003 an Esther Betz, mit der er seit dem Konzil ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, als sie Rom-Korrespondentin einer deutschen Zeitung war: »Kein Wunder, dass sich die Gerüchte verdichten, auch mein Ende stehe bevor; der Papst scheint freilich vorerst noch nicht in diese Richtung zu denken. Gottlob haben wir gute neue Leute gefunden. Auf jeden Fall würde ich mich freuen, wenn auch für mich ruhigere Zeiten anbrächen.«
Monsignore Bruno Fink, Sekretär Kardinal Ratzingers während seiner Zeit als Erzbischof von München und in den ersten zwei Jahren in der Kongregation, berichtet in seinen Erinnerungen, der Kardinal habe ihm versichert, höchstens zwei Amtszeiten von fünf Jahren als Präfekt wahrnehmen zu wollen und dann in sein Haus zurückzukehren, das er in Pentling bei Regensburg hatte bauen lassen, um dort die theologischen Werke zu vollenden, die er sich vorgenommen hatte.
Am 25. November 1991, genau zehn Jahre nach seiner Ernennung, hatte der Präfekt tatsächlich versucht, Johannes Paul II. dazu zu bewegen, ihn von seiner schweren Aufgabe zu befreien, und dargelegt, dass er durch den Tod seiner Schwester Maria am 2. November deren wertvolle häusliche Hilfe verloren hatte, während er zugleich durch Probleme am linken Auge infolge einer Gehirnblutung im September dauerhaft körperlich geschwächt war. Doch der Papst ging nicht darauf ein und verlängerte die Amtszeit um weitere fünf Jahre.
Zwischen Ende 1996, als das Mandat auslief, und Anfang des folgenden Jahres, in dem er sein 70. Lebensjahr vollenden sollte, unternahm der Präfekt deshalb einen Schritt, von dem er sich mit einer gewissen Naivität mehr Erfolg versprach. Er ließ dem Papst diskret den Vorschlag zu Ohren kommen, ihn zum Archivar und Bibliothekar der Heiligen Römischen Kirche zu ernennen. In jenen Monaten stand nämlich die Ernennung des Chefs des Geheimarchivs und der apostolischen vatikanischen Bibliothek in Nachfolge des fast 80-jährigen Kardinals Luigi Poggi an.
Der Salesianer Raffaele Farina – den Benedikt XVI. 2007 zum Kardinal erheben sollte – hatte einige Wochen nach seiner Ernennung zum Präfekten der Bibliothek eine Unterredung mit Josef Ratzinger, der ihn über die Aufgaben des Kardinalbibliothekars ausfragte: Mit gespieltem Desinteresse schien er bereits die Wonnen der »Pensionierung« inmitten geschichtsträchtiger Bücher und Dokumente zu genießen. Aber auch in diesem Fall ließ Johannes Paul II. sich nicht darauf ein und zog diese Möglichkeit gar nicht in Betracht.
Mit einem gewissen Bedauern sagte Benedikt XVI. am 25. Juni 2007 bei einem Besuch der Bibliothek zu Kardinal Jean-Louis Tauran: »Ich muss gestehen, dass ich mir bei Vollendung des 70. Lebensjahres sehr gewünscht hätte, Johannes Paul II. würde mir erlauben, mich der Forschung und dem Studium der interessanten, von Ihnen sorgfältig verwahrten Dokumente und Quellen zu widmen, diesen Meisterwerken, die uns erlauben, die Geschichte der Menschheit und des Christentums zu rekonstruieren. Der Herr hat jedoch anderes für mich vorgesehen.«
Vertrauen in die Vorsehung
Johannes XXIII. hatte sich seit seiner Jugend die Maxime des heiligen Franz von Sales zu eigen gemacht: »Nichts verlangen, nichts ablehnen«. Diese Worte lassen sich ohne Schwierigkeit voll und ganz auch auf Kardinal Ratzinger anwenden, wie er selbst am 9. August 1997 in einem Brief an die befreundete Journalistin Esther Betz schrieb: »Ich habe mich einfach von der Vorsehung mitreißen lassen, die gar nicht schlecht mit mir war, auch wenn alles ganz anders gelaufen ist, als ich es mir vorgestellt hatte.« Ohne sein Wissen hatte ihn nämlich schon Paul VI. seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Auge behalten, während Ratzinger eine akademische Karriere verfolgte, immer bedeutendere Texte publizierte und der Überzeugung war, dies werde für immer seine Aufgabe bleiben. Um ihn mit Rom in Kontakt zu halten, hatte der Papst ihn 1969 neben Persönlichkeiten wie Hans Urs von Balthasar, Carlo Colombo, Yves Congar, Henri de Lubac, Jorge Medina Estévez und Karl Rahner zu einem der dreißig Mitglieder der neu geschaffenen Internationalen Theologenkommission ernannt, die mehrmals im Jahr in der Glaubenskongregation...