E-Book, Deutsch, 410 Seiten
Gabriel Der Ketzer und das Mädchen
2014
ISBN: 978-3-8392-4283-4
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 410 Seiten
ISBN: 978-3-8392-4283-4
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Konstanz 1414. Auf der Flucht vor einem Kinderfänger gelangt Ennlin mit ihrem kleinen Bruder nach Konstanz. Könige, Fürsten und Gelehrte aus aller Herren Länder wollen dort beim großen Konzil die Kirche reformieren. Ennlin findet Freunde und begegnet einem Mann, der sie tief beeindruckt - Jan Hus, der Ketzer aus Böhmen. Fassungslos erlebt sie mit, wie er zum Spielball von Intrigen wird. Und auch Ennlin gerät in die Mühlen der Mächtigen und muss um Leib und Leben fürchten …
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Kapitel zwei: Von Räubern und Rittern
Bruder und Schwester schlugen den Weg nach Honstetten ein. Von dort aus ging es noch ein Stück weiter in Richtung Eckartsbrunn, bis – nicht weit entfernt von einem verwahrlosten Brunnen – ein schmaler Pfad in den dichten Wald abzweigte. An dem Brunnen hatten einst auch die Leute ihr Wasser geschöpft, die hier gelebt hatten. Ennlin füllte die Schweinsblase auf, die ihnen als Wasserschlauch diente. Sie kamen nur mühsam voran. Obwohl es längst hell geworden war, stolperten sie im Halbdunkel unter den Bäumen über Wurzeln und Unterholz. Manchmal konnten sie den Weg kaum erkennen, er war stellenweise fast völlig überwachsen. Nur wenige Menschen wagten sich hierher, obwohl hier viel trockenes Knüppelholz zu finden war. Sie fürchteten sich vor den Geistern der Burg. Nach etwa zwei Stunden erreichten sie die Stelle, an der der Pfad über einen Graben hinweg in die lang hingestreckte Vorburg führte. Diese war von einer mächtigen, mit Efeu bewachsenen Ringmauer umgeben. Die Geschwister passierten halb verfallene Mauerreste und eingestürzte Wände. Ein Teil der Ställe stand noch, die Grundrisse einer Schmiede und eines Backhauses waren zu erkennen. Hier sollten einst die Juden gelebt haben. Während der Pestjahre hatte es Verfolgungen gegeben. Das wusste Ennlin vom Vater. Da hatte man sie alle umgebracht. Jakobs kleine Hand schob sich in die der Schwester. Ennlin drückte beruhigend. »Musst dich wirklich nicht fürchten. Hier lebt niemand mehr. Der Verwalter der Leute, denen die Burg gehört, und die Dienstboten sind längst fort. Es ist auch nicht mehr weit. Gleich geht’s noch durch eine Schlucht, und dann sind wir auch schon fast bei der eigentlichen Burg. Die steht oben, direkt auf der Kante des Berges. Es ist schön da. Ich kenne eine Stelle, von der aus man ganz weit übers Land schauen kann. Außerdem weiß ich, wie wir in die Burg reinkommen.« Bald darauf hatten sie ihr Ziel erreicht. Jakob schaute sie entsetzt an, Ennlin zog ihn mit sich. »Bleib jetzt dicht bei mir. Der Regen hat alles aufgeweicht«, befahl sie dem Bruder. »Musst am besten nah an der Mauer gehen, damit du nicht ausrutschst oder stolperst. Hier gibt es immer Mauerstücke oder Abfall, den die Leute früher in den Zwischenraum von Burg und Burgmauer geworfen haben. Man sieht es nur nicht, weil alles so überwachsen ist.« Auch sie hielt sich eng an die säuberlich behauenen und fensterlos aufgemauerten Steine und vergewisserte sich immer wieder, dass Jakob direkt hinter ihr blieb. Sie wollte zu einer kleinen versteckten Pforte im hinteren Teil der Hauptburg. Ab und an kamen sie an Öffnungen in der äußeren Ringmauer vorbei. Manchmal waren auch einfach Mauersteine ins Tal gestürzt, tief diesen steilen Felsen hinab, auf dem die Burg stand. Dann hatten sie einen freien Blick über bewaldete Täler. Ennlin fragte sich nicht zum ersten Mal, wie viele Wachleute hier gestanden, in die Weite gespäht und die Gegend nach herannahenden Feinden abgesucht haben mochten, als hier noch Menschen gelebt hatten. Viel lieber war ihr aber die Vorstellung, dass die Tochter des Burgherrn sich hinter der Burg mit ihrem Liebsten getroffen haben könnte. Immer wieder hatte sie sich in deren Rolle geträumt. Unverzichtbarer Bestandteil dieses Traumes war ein blonder, gut gewachsener Jüngling, ein Ritter in glänzender Rüstung auf einem weißen Pferd und so tapfer, dass alle Welt ihn bewunderte. Der hatte sich ihr zu Füßen geworfen und ihr ewige Liebe geschworen. Doch darüber hinaus gingen ihre Träume nicht. Kein Ritter würde die Tochter eines Unfreien zum Weib nehmen. Schließlich hatten sie es geschafft. Ennlin atmete erleichtert auf. Die kleine Pforte wollte sich zunächst nicht öffnen lassen. Sie stemmte sich mit aller Macht dagegen. Da gab die Tür knarzend nach, die Geschwister schlüpften hindurch und kamen in einen kleinen düsteren Raum. Ennlin vermutete, dass es die ehemalige Wächterstube war. »Bleib stehen«, befahl sie ihrem Bruder. Sie tastete sich vor zur nächsten Ecke. Dort lag ein Stapel Holz, das sie bei früheren Besuchen in der Umgebung der Burg gesammelt hatte, daneben trockenes Stroh und Heu. Ennlin schichtete etwas Holz auf, holte sich eine Handvoll von dem Heu, legte es darauf und kramte Feuerstein, Feuereisen und Zunder aus dem kleinen Beutel an ihrem Gürtel. Sie konnte hören, wie Jakob erleichtert aufatmete, als endlich die Flammen aus dem trockenen Gras züngelten und das Feuer die Umgebung erhellte. Das Zimmer war leer bis auf eine Kiste, in der Ennlin zwei Decken, eine Schale und Becher versteckt hatte. Alles stammte aus der Burg. Die ehemaligen Bewohner mussten hastig aufgebrochen sein, denn sie hatten noch manch Brauchbares zurückgelassen, das jetzt, von Spinnweben und Staub bedeckt, in diesem alten Gemäuer vor sich hindämmerte und den Mäusen als Nest diente. Im flackernden Schein der Flammen tauchte auch ein Ständer aus dem Dämmerlicht auf. Daran hingen einige getrocknete Sträußchen aus Kräutern, die auf der Burgmatte und im Wald wuchsen und die sie gesammelt hatte. Ennlin sah sich um. Ja, es war besser, sie blieben vorläufig hier. Hier waren sie sicher, die Spukgeschichten würden ungebetene Besucher fernhalten. Außerdem boten die dicken Mauern vor den Bären Schutz. Und vor den Wölfen, die durch die Wälder streiften und besonders in Winternächten so schauerlich heulten, dass man wirklich glauben konnte, in der alten Burg hausten Geister. Sie hatte aber noch nie einen Spuk erlebt. Hier raschelten nur die Ratten und die Mäuse in ihren Löchern. Immer, wenn sie traurig gewesen war, wenn sie das Gefühl gehabt hatte, der drängenden Enge der kleinen Hütte des Vaters entfliehen zu müssen, war sie hierher gegangen. Und mehr als einmal war sie für ihr Verschwinden verprügelt worden. Doch das machte ihr nichts aus. In dieser Burg fühlte sie sich inzwischen fast zu Hause. Sie öffnete ihr Bündel, reichte Jakob einen Kanten Brot. Dann gab sie ihm den Wasserschlauch. Der Junge trank gierig. Ennlin hatte ebenfalls großen Durst. Sie konnten sich später aus dem Brunnen neues Wasser holen, nachts, damit sie nicht entdeckt wurden. Nun mussten sie sich ohnehin erst einmal ausruhen. Nur ein wenig. Später würden sie sich daran machen, weitere Vorräte zu sammeln, damit sie durch den Winter kamen. Ennlin holte zwei alte Decken aus dem Kasten und legte sie auf den Boden neben dem Feuer. Es prasselte gemütlich. Sie lehnte sich gegen die Wand, Jakob schmiegte sich an sie. Beide dämmerten weg. Sie schrak hoch, weil Jakob sie schüttelte »Linnie, wach auf! Die Geister sind da!« Der Bruder flüsterte. Doch die Angst, die er fühlte, war trotzdem gut herauszuhören. Tatsächlich, da waren Stimmen! »Wart hier. Rühr dich nicht von der Stelle«, raunte sie ihm zu. In der Burg war es dämmrig. Ennlin musste aufpassen, wohin sie trat, um nicht in eines der Löcher auf dem Boden zu geraten und sich womöglich noch den Fuß zu verstauchen. Sie war schon in den Rittersaal eingebogen, als sie begriff, dass es sich um männliche Stimmen handelte. Sie erstarrte. Flammen malten dunkle Schemen an die nackten Wände. Für einen Moment glaubte Ennlin, tatsächlich Geister zu erblicken. Doch beim zweiten Hinschauen erkannte sie, es waren Menschen, denen das flackernde Feuer im Kamin das Aussehen von Dämonen verlieh. Sie hatte Hans von Heudorf gesehen. Und auch den Grafen von Nellenburg. Sie schaute sich gehetzt um. Sie brauchte ein Versteck! Da, die Fensternische! Zurück zur Tür war es weiter. Sie musste es wagen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Schließlich hatte sie es geschafft. Doch die Nische war klein und verbarg ihren Körper kaum. »Das muss aufhören, Ritter Hans. Unsere Bruderschaft vom Sankt Jörgenschild sollte nicht vor allen als eine Vereinigung von Wegelagerern dastehen. Nein, sagt nichts. Ich weiß, dass nicht nur der Herr von Hewen in seiner ehemaligen Burg die Beute aus Raubzügen versteckt«, sagte da der Graf. »Ihr müsst gerade reden«, gab Hans von Heudorf zurück. Wer hat denn immer wieder Wegezoll von den Handelsleuten verlangt, die in die Stadt strömen?« »Und wer hat den König überzeugt und das Konzil nach Konstanz gebracht?«, fuhr Eberhard von Nellenburg auf. »Ihr zieht schließlich auch Euren Vorteil daraus.« »Tut nicht so selbstlos. Ihr spechtet wohl auf die Landgrafschaft im Hegau und Madach«, spottete der Heudorfer. »Eine, von der keiner so recht weiß, wo sie anfängt und wo sie endet. Und das kostet unseren neuen römisch-deutschen König Sigismund nicht viel. Wie ich vernahm, stehen die Nellenburger nun also plötzlich nicht mehr ganz so treu zu Friedrich mit den leeren Taschen, sondern helfen unter der Hand jetzt Sigismund gegen das Haus Habsburg.« Die braunen Augen des hageren Grafen von Nellenburg sprühten. Seine Schwerthand zuckte. An den mahlenden Kiefern im streng wirkenden Gesicht mit den hohen Wangenknochen war zu erkennen, wie sehr ihn die Bemerkung des Herrn von Heudorf getroffen hatte. »Jetzt ist nicht die Zeit für Sticheleien. Und glaubt ja nicht, dass ich dies aus Feigheit sage, das könnte Euch schlecht bekommen«, herrschte er ihn an und strich sich unwillkürlich über eine lange Narbe auf seiner rechten Wange. Sie sieht aus, als stamme sie vom Schwertstreich eines Gegners, fand Ennlin. »Bei einem Hauen und Stechen unter den schwäbischen Rittern verlieren alle«, fügte der Graf sodann ruhiger hinzu. »Wartet nur, bis der König nach Konstanz kommt. Er ist bekannt dafür, dass er an die denkt,...