E-Book, Deutsch, Band 2, 411 Seiten
Reihe: Reckless
Funke / Wigram Reckless 2. Lebendige Schatten
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-86272-296-9
Verlag: Dressler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 411 Seiten
Reihe: Reckless
ISBN: 978-3-86272-296-9
Verlag: Dressler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Cornelia Funke ist die international erfolgreichste deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin. Viele ihrer Werke wurden ausgezeichnet und auch verfilmt. Cornelia Funke lebt in Volterra, Italien.
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3 GEISTER
Die falsche Welt. Der Sicherheitsbeamte am Flughafen begutachtete die Flasche so gründlich, dass Jacob ihm hinter dem Spiegel wohl irgendwann die Pistole auf die uniformierte Brust gesetzt hätte. Sein Flug landete verspätet in New York, und sein Taxi blieb so oft im Abendverkehr stecken, dass er sich nach einer Droschkenfahrt durch die verschlafenen Straßen Schwansteins sehnte. Vor dem alten Apartmenthaus spiegelte sich der Mond in schmutzigen Pfützen, und von der Backsteinmauer über dem Eingang starrten die grotesken Fratzen herab, die Will als Kind so eingeschüchtert hatten, dass er vor der Tür jedes Mal den Kopf einzogen hatte. Inzwischen hatten die Abgase sie so zerfressen, dass sie kaum von den steinernen Blüten zu unterscheiden waren, die sie umrankten. Jacob spürte ihren starren Blick trotzdem deutlicher als je zuvor, während er die Treppe vor der Eingangstür hinaufstieg, und seinem Bruder ging es sicher nicht anders. Die verzerrten Gesichter hatten einen ganz neuen Schrecken, seit Will eine Haut aus Stein gewachsen war.
Der Portier in der Eingangshalle war derselbe, der sie als Kinder aus dem Aufzug gezerrt hatte, wenn sie allzu oft damit auf und ab gefahren waren. Mister Tomkins. Er war alt und fett geworden. Auf dem Tresen, auf dem er die Post bereithielt, stand immer noch das Glas voll Lollis, mit denen er sie als Kinder bestochen hatte, die Botengänge für ihn zu erledigen. Jacob hatte Will irgendwann eingeredet, dass Tomkins ein Menschenfresser war, worauf er sich tagelang geweigert hatte, in den Kindergarten zu gehen, aus Angst, dabei an dem Portier vorbeizumüssen.
Vergangene Zeiten. In dem alten Haus nisteten sie in jedem Winkel. Hinter den Säulen der Eingangshalle, die Will und er zum Versteckspielen benutzt hatten, in den Kellern, in deren dunklen Gewölben er zum ersten Mal (und ohne Erfolg) nach Schätzen gesucht hatte, oder in dem vergitterten Aufzug, den sie je nach Bedarf zum Raumschiff oder zum Käfig einer Hexe erklärt hatten. Es war seltsam, wie sehr die Aussicht auf den eigenen Tod die Vergangenheit zurückbrachte – als wäre plötzlich jeder gelebte Augenblick präsent und flüsterte: Vielleicht ist das alles, was du bekommst, Jacob.
Die Tür des Aufzugs klemmte immer noch, wenn man sie aufstieß.
Siebter Stock.
Will hatte an der Wohnungstür eine Nachricht für ihn hinterlassen.
Jacob schob den Zettel in die Manteltasche, bevor er die Tür aufschloss. Er hatte mit seinem Leben für dieses Willkommen bezahlt, aber er hätte es noch einmal getan, für das Gefühl, wieder einen Bruder zu haben. Sie waren sich nicht mehr so nah gewesen, seit Will jede Nacht zu ihm ins Bett gekrochen und ihm noch geglaubt hatte, dass Portiers manchmal Menschenfleisch fraßen. Liebe ging furchtbar leicht verloren.
Die Dunkelheit, die Jacob hinter der Tür erwartete, war fremd und vertraut zugleich. Will hatte den Flur gestrichen und der Geruch der frischen Farbe mischte sich mit dem ihrer Kindheit. Seine Finger fanden den Lichtschalter immer noch blind. Die Lampe war neu, genau wie die Kommode neben der Tür. Die alten Familienfotos waren verschwunden, und die verblichene Tapete, auf der man auch nach Jahren noch hatte erkennen können, wo das Foto ihres Vaters gehangen hatte, war weißer Farbe gewichen.
Jacob stellte die Tasche auf das ausgetretene Parkett.
Willkommen zu Hause.
Konnte es das wirklich wieder sein, nach all den Jahren, in denen alles, was er hier hatte finden wollen, der Spiegel gewesen war? Auf der Kommode stand eine Vase mit gelben Rosen. Claras Handschrift. Die Aussicht, sie wiederzusehen, hatte ihn etwas nervös gemacht, bevor er durch den Spiegel gekommen war. Er war sich nicht sicher gewesen, ob sein Herz nur der Erinnerung wegen schneller klopfte oder weil das Lerchenwasser immer noch wirkte. Aber es war alles gut. Es war gut, sie mit Will zu sehen, in dieser Welt, in die er selbst schon seit so langer Zeit nicht mehr gehörte. Offenbar hatte sie Will nichts von dem Lerchenwasser erzählt. Aber Jacob spürte, wie die Erinnerung daran sie beide verband, als wären sie im Wald verloren gegangen und hätten gemeinsam zurückgefunden.
Das Zimmer ihrer Mutter hatte Will bislang ebenso wenig verändert wie das Arbeitszimmer ihres Vaters. Jacob öffnete die Tür nur zögernd. Neben dem Bett standen ein paar Kisten mit Wills Büchern, und unter dem Fenster lehnten die Familienfotos, die im Flur gehangen hatten.
Das Zimmer roch immer noch nach ihr. Die Patchworkdecke auf dem Bett hatte sie selbst genäht. Die Stoffflicken waren überall in der Wohnung zu finden gewesen. Blüten, Tiere, Häuser, Schiffe, Mond und Sterne. Was immer die Decke über seine Mutter erzählte, Jacob hatte es nie enträtseln können. Sie hatten oft zu dritt darauf gelegen, wenn sie ihnen vorgelesen hatte. Ihr Großvater hatte ihnen die Märchen erzählt, mit denen er in Europa aufgewachsen war, bevölkert von den Hexen und Feen, deren Verwandte Jacob hinter dem Spiegel begegnet waren, aber die Geschichten ihrer Mutter waren die Amerikas gewesen. Der Kopflose Reiter, Johnny Appleseed, der Wolfsbruder, die Zauberfrau und der Seneca-Riese. Ihre Spuren hatte Jacob noch nicht hinter dem Spiegel entdeckt, doch er war sicher, dass sie dort ebenso existierten wie die Märchenfiguren seines Großvaters.
Auf dem Nachttisch seiner Mutter stand ein Foto, das sie mit ihm und Will unten im Park zeigte. Sie sah sehr glücklich darauf aus. Und so jung. Sein Vater hatte das Foto gemacht. Zu der Zeit hatte er wahrscheinlich schon von dem Spiegel gewusst.
Jacob wischte den Staub von dem Glas. So jung. Und so schön. Was hatte sein Vater gesucht, das er bei ihr nicht hatte finden können? Wie oft hatte er sich das als Kind gefragt. Er war so sicher gewesen, dass sie irgendetwas falsch gemacht haben musste – und so zornig auf sie. Zornig auf ihre Schwäche. Zornig, dass sie nicht aufhören konnte, seinen Vater zu lieben, und auf ihn wartete, wider besseres Wissen. Oder hatte sie vielleicht darauf gewartet, dass ihr ältester Sohn ihn eines Tages finden und zu ihr zurückbringen würde? Hatte er sich das nicht all die Jahre insgeheim ausgemalt? Dass er eines Tages mit seinem Vater zurückkehren und seiner Mutter all die Traurigkeit vom Gesicht wischen würde?
Hinter dem Spiegel gab es Stundengläser, die die Zeit anhielten. Jacob hatte lange für die Kaiserin nach einem gesucht. In Lombardien drehte sich ein Karussell, das aus Kindern Erwachsene und aus Erwachsenen wieder Kinder machte, und in Varangia besaß ein Fürst eine Spieluhr, die einen, wenn man sie aufdrehte, in die eigene Vergangenheit zurückbrachte. Jacob hatte sich oft gefragt, ob das den Lauf der Dinge tatsächlich änderte oder ob man am Ende doch nur wieder genauso handeln würde, wie man es schon einmal getan hatte: Sein Vater würde immer wieder durch den Spiegel gehen. Er würde ihm folgen und Will und seine Mutter blieben allein zurück.
Die Aussicht auf den eigenen Tod machte sentimental.
Es kam ihm vor, als hätte jemand sein Herz in den letzten Monaten wieder und wieder in die Schmelze geworfen wie einen Klumpen Metall, der einfach nicht die richtige Form annehmen wollte. Falls die Flasche sich als ebenso nutzlos erwies wie der Apfel und der Brunnen, war die Mühe umsonst gewesen, und er würde schon bald wie seine Mutter nur ein Foto in einem staubigen Silberrahmen sein. Jacob stellte ihr Foto auf den Nachttisch zurück und strich die Bettdecke glatt, als könnte seine Mutter im nächsten Moment ins Zimmer treten.
Jemand schloss die Wohnungstür auf.
»Jacob ist hier, Will.« Claras Stimme klang fast so vertraut wie die seines Bruders. »Da steht seine Tasche.«
»Jake?« In Wills Stimme klang nichts mehr nach dem Stein, der ihm die Haut gefärbt hatte. »Wo steckst du?«
Jacob hörte seinen Bruder den Flur herunterkommen, und für einen flüchtigen Moment stand er auf einem anderen Korridor, hinter sich Wills hassverzerrtes Gesicht. Nein, ganz würde es das nie sein, und das war gut so. Er wollte nicht vergessen, wie leicht er Will verlieren konnte.
Und da stand er auch schon in der Tür, kein Gold in den Augen, die Haut weich wie seine, nur wesentlich blasser. Schließlich war Will nicht wie er wochenlang durch eine gottverdammte Wüste geritten.
Er umarmte ihn fast so fest wie früher, wenn Jacob ihn auf dem Schulhof vor irgendeinem prügelwütigen Viertklässler gerettet hatte. Ja, es war den Preis wert, solange sein Bruder nur nichts von der Höhe der Bezahlung erfuhr.
Wills Erinnerungen an seine Zeit hinter dem Spiegel waren wie Scherben, aus denen er vergeblich versuchte, ein Ganzes zusammenzusetzen. Schließlich lebte niemand gern mit dem Gefühl, dass er sich an entscheidende Wochen seines Lebens kaum erinnerte. Wenn Will Clara und ihm Gesichter oder Orte beschrieb, wurde Jacob stets aufs Neue bewusst, wie viel sein Bruder hinter dem Spiegel allein erlebt hatte. Es war fast, als hätte Will einen zweiten Schatten, der ihm wie ein Fremder folgte – und ihn ab und zu erschreckte.
Jacob konnte es nicht erwarten, zurückzugehen, aber Clara bat ihn, zum Essen zu bleiben, und wer wusste schon, ob er sie und Will je wiedersehen würde. Also setzte er sich an den Küchentisch, in den er als Kind mit seinem ersten Messer seine Initialen geritzt hatte, und versuchte, so sorglos wie möglich zu erscheinen. Doch offenbar war ihm auch das Geschick abhandengekommen, seinem Bruder erfundene Geschichten als die Wahrheit zu verkaufen. Jacob fing sich mehrmals nachdenkliche Blicke von ihm ein, als er seinen Ausflug nach...