Funke | Palast aus Glas | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: Reckless

Funke Palast aus Glas

Eine Reise durch die Spiegelwelt
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-86272-114-6
Verlag: Dressler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Reise durch die Spiegelwelt

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: Reckless

ISBN: 978-3-86272-114-6
Verlag: Dressler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Märchenhaft. Magisch. Mitreißend. So erzählt nur Cornelia Funke! Jahre nachdem wir das erste Mal an der Seite von Jacob Reckless die Spiegelwelt bereisten, entführt uns Cornelia Funke erneut in diesen faszinierenden Kosmos. Wir begleiten Jacob auf seiner Suche nach dem Kamm einer Hexe, erleben, wie Celeste im Kleid der Füchsin zur Gestaltwandlerin wird, begegnen dem Bildhauer Rodin und reisen hinter den Spiegel nach London, Madrid, Stockholm und Hamburg. Der Palast aus Glas enthält zahlreiche Illustrationen der Autorin.

Cornelia Funke ist die international erfolgreichste deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin. Viele ihrer Werke wurden ausgezeichnet und auch verfilmt. Cornelia Funke lebt in Volterra, Italien.
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Es hatte die ganze Nacht geschneit. Die Flocken waren so dicht auf Londra herabgewirbelt, als fielen die Sterne vom Himmel, um die Stadt für den Weihnachtsabend zum Strahlen zu bringen. Der Schnee hatte das Kopfsteinpflaster mit einem Teppich bedeckt, der all die Geräusche dämpfte, mit denen Londra erwachte, und so weich war, dass Tabetha fast vergaß, wie kalt er sich unter ihren ausgetretenen Schuhen anfühlte. Die engen Gassen, die sie hinunter zum Flussufer nahm, waren dieselben wie jeden Tag, aber die schäbigen Häuser, die sie säumten, sahen an diesem frühen Morgen aus, als gehörten sie ins Schaufenster eines Bäckers: mit Dächern aus Zuckerguss und Schornsteinen, die Puderzucker in den sich langsam aufhellenden Himmel bliesen. Für einen Augenblick konnte Tabetha fast daran glauben, dass der Schnee, wenn er wieder schmolz, all die Hässlichkeit und Traurigkeit, die unter ihm lag, mit sich nehmen würde. Vielleicht würde Londra sich dann endlich als der strahlende, magische Ort zeigen, von dem ihre Mutter ihr jeden Abend erzählt hatte, als sie noch in dem Dorf an der Küste gelebt hatten.

Tabetha dachte nicht mehr oft daran zurück. Die zugigen Katen am Strand eines grauen Meeres, die Netze, die sie ihrem Vater geholfen hatte zu flicken, die Fische, die zusammen mit Seesternen und winzigen Seepferdchen ihren letzten Atemzug auf den Planken seines Bootes getan hatten – all das schien so unwirklich wie die schneebedeckten Häuser, an denen sie vorbeiging. Ihr Vater war kurz nach ihrem siebten Geburtstag ertrunken, und ihre Mutter hatte die Taschen gepackt, um ein neues Leben in Londra zu beginnen, in jener weit entfernten, von Licht und Gelächter erfüllten Stadt, von der sie Tabetha so oft erzählt hatte. Aber sie hatten schon sehr bald herausgefunden, dass das Licht und das Gelächter so teuer kamen, dass nur die reichen Bewohner Londras den Preis bezahlen konnten.

Ihre Mutter war zwei Jahre nach ihrer Ankunft gestorben. Sie war am Ende selbst kaum mehr gewesen als eine der Geschichten, die sie so gern erzählt hatte – Märchen, zu schön, um wahr zu sein, inmitten all der Armut und Dunkelheit, die ihre Tochter seither erfahren hatte. Es war nicht leicht, elternlos in Londra zu überleben, doch in drei Tagen würde Tabetha Brown ihren fünfzehnten Geburtstag begehen. Sie hatte sich zur Feier ein kleines Stück Kuchen versprochen, aber noch musste sie das Geld für solch einen Luxus verdienen.

Mit dem Erwachsenwerden wurde das Leben einfacher. In den ersten Jahren nach dem Tod ihrer Mutter war Tabetha oft so hungrig gewesen, dass sie versucht gewesen war, in in ihr Dorf zurückzukehren. Doch dann hatte sie sich daran erinnert, wie oft ihr Großvater ihre Mutter angeschrien und sie die Schläge seiner rauen Hand auf ihrem Gesicht gespürt hatte oder seinen Stock auf ihrem Rücken. Nein. Das Leben war überall schwer und Londra war nun ihr Zuhause.

Sie hob einen Stein auf und scheuchte eine magere Katze von einer kleinen Gestalt fort, die ausgestreckt im Schnee lag. Es war ein Hob, dem die Kälte die dünnen Arme und Beine stocksteif gefroren hatte. Die winzigen Männer und Frauen waren in Londra beinahe so zahlreich wie Mäuse und Ratten in den armen und reichen Vierteln der Stadt. Hobs wurden nicht viel größer als Krähen und konnten ziemlich mürrisch sein, aber sie waren fleißige Arbeiter. Als Bezahlung für ihre Dienste verlangten sie meist nur ein altes Hemd oder einen Mantel, um sich Kleidung daraus zu schneidern, etwas zu essen für ihre Familien – die, zugegeben, recht groß ausfallen konnten – und eine Behausung unter einer Treppe oder einem Schrank. Sie arbeiteten in Restaurants und Fabriken und in den großen Herrenhäusern auf der anderen Seite der Stadt. Die Dankbarkeit, die sie verdienten, wurde ihnen jedoch nicht immer zuteil, und gerade im Winter fand man viele von ihnen tot auf den Straßen.

Dieser hier atmete noch, also lehnte Tabetha das winzige Geschöpf gegen das Schaufenster eines Ladens, in der Hoffnung, dass die Wärme, die durch die Glasscheibe drang, ihm den Frost aus den Gliedern treiben würde.

Kurz nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie für einen Schornsteinfeger gearbeitet, der sie so viele Schornsteine hatte hinaufklettern lassen, dass ihre mageren Beine schon bald mit Ruß und Narben übersät gewesen waren. Sie war sicher gewesen, dass sie enden würde wie all die anderen Kinder, die die Schornsteinfeger in ihre Dienste zwangen. Irgendwann rutschten sie ab und brachen sich das Genick. Aber bevor das geschah, hatte eine Hobfamilie ihr zur Flucht verholfen. Diese Freundlichkeit hatte sie ihnen nie vergessen.

Dem Schornsteinfeger war nie aufgefallen, dass sie ein Mädchen war. Es war für niemanden leicht, in Londra zu überleben, aber für Frauen war es fast unmöglich – das elende Schicksal ihrer Mutter war trauriger Beweis dafür gewesen –, also trug Tabetha ihr Haar kurz und kleidete sich wie ein Junge. Anfangs hatte sie ihr langes Haar und ihre Kleider vermisst, doch inzwischen waren ihr die Hosen und Hemden, die sie trug, lieber – auch wenn sie immer mehr Lumpenschichten tragen musste, um ihre Brüste zu verbergen.

Fünfzehn … nein, das Leben würde nicht viel leichter werden.

Sie fand drei weitere Hobs, bevor sie die steile Treppe erreichte, die zum schlammigen Ufer der Temse hinabführte, und gleich neben den Stufen eine einzelne Münze, die im Schnee funkelte wie ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk. Das war ein guter Auftakt für einen Tag, der sie gewöhnlich traurig machte. Vielleicht würde sie sich nun sogar endlich ein Paar alte Schuhe von dem Leprechaun kaufen können, der unter der Treppe des Theaters hauste, in dessen zugigem Hinterhof sie nachts Unterschlupf fand.

Schon zwei Dutzend Schlammlerchen waren an diesem frühen Weihnachtsmorgen damit beschäftigt, das gefrorene Flussufer nach Kupferdraht, alten Münzen und anderen Dingen abzusuchen, die sich verkaufen ließen. Tabetha kannte sie alle. Die meisten waren deutlich älter als sie. Das Schlammlerchenhandwerk war kein gesundes Geschäft: Der vor Schmutz starrende Matsch reichte ihnen oft bis zu den Knien und schon die kleinste Wunde konnte tödliche Infektionen verursachen. Dann waren da noch die Gezeiten. Tabetha hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die steigende Flut eine alte Frau und ihren Sohn davongerissen hatte. Aber das Flussufer war ein gefährlicher Ort, selbst wenn Ebbe herrschte und der Schlamm wie an diesem Morgen gefroren war, denn es war das Jagdgebiet von Wassermännern und Kelpies, ganz zu schweigen von betrunkenen Matrosen, Elfenstaub-Dealern und Schmugglern aller Art.

Keiner der anderen Schlammlerchen ahnte, dass Ted, wie Tabetha sich gewöhnlich vorstellte, ein Mädchen war. Sie hielt sich ohnehin von den anderen fern, denn sie war sicher, dass jeder Einzelne sie bestehlen würde, falls sie ihnen die Gelegenheit gab. Man konnte niemandem trauen. Niemandem. Sie hatte nur überlebt, weil sie das nie vergaß.

Als Tabetha den Fuß der Treppe erreichte, fiel ihr eine unvertraute Gestalt auf: ein untersetzter Mann mit sich lichtendem Haar, der für eine Schlammlerche viel zu gut gekleidet war. Er drückte Limpey gerade einen Zettel in die Hand. Vielleicht war er ein Prediger, der sie alle davon überzeugen wollte, morgen zum Weihnachtsgottesdienst in irgendeine Kirche zu gehen. Einige der anderen würden einer solchen Einladung sicher nachkommen, denn sie waren alle sehr talentierte Taschendiebe. Tabetha hatte sich in dem Gewerbe auch versucht, aber das Stehlen erfüllte sie mit Scham, während sie auf die Dinge, die sie im Flussschlamm fand, oft sehr stolz war. Sie waren so verwaist und angeschlagen wie sie selbst, aber sie hatten den Fluss überlebt, sie hatten einen weiten Weg hinter sich, und sie alle hatten ihre eigene Geschichte zu erzählen.

Keiner der anderen Schlammlerchen hatte Tabethas Geduld, wenn es darum ging, das Ufer abzusuchen, oder ihre scharfen Augen, wenn es galt, in dem Schlamm und Abfall, den der mächtige Fluss aus weit entfernten Ozeanen herbeitrug, einen Schatz zu erspähen, oder zwischen all dem, was er aus den Ablagerungen längst vergessener Zeiten wusch. Tabetha war nicht sicher, ob sie die Temse liebte oder hasste. Manchmal fühlten sich ihre Ufer wie ihr einziges Zuhause an, aber an Tagen wie diesem – wenn andere Menschen im Kreis ihrer Familien in ihren Häusern saßen – fühlte sie sich beim Anblick all des weiten, rastlos fließenden Wassers nur noch heimatloser.

fuhr sie sich an. Selbstmitleid war das Gift, das sie am meisten fürchtete. Es fraß an ihrem Herzen.

Meist wateten sie alle barfuß mit hochgekrempelten Hosenbeinen durch den giftigen Schlamm, doch die Kälte zwang sie alle, die löchrigen Stiefel anzubehalten.

Das Stück zerschlissenes Seil, das Tabetha schon nach wenigen Schritten entdeckte, war ein gutes Beispiel für die Schätze, die die anderen so leicht übersahen. Sie stellte sicher, dass ihr Gesicht nichts als Langeweile ausdrückte, als sie sich danach bückte, damit sie den anderen nicht verriet, dass sie etwas Wertvolles gefunden hatte. Ein paar schimmernde Schuppen klebten an dem Seil: die Schuppen einer Meerjungfrau. Der Fluss hatte sie den ganzen weiten Weg von der Südküste hergetragen, wo Tabetha sie früher in der Nähe ihres Dorfes oft am Strand gesehen hatte.

Meerjungfrauenschuppen waren bei Schneidern sehr gefragt, denn sie bestickten mit Vorliebe die Gewänder ihrer wohlhabenden Kunden damit. Tabetha schob ihren Fund vorsichtig in einen der Lederbeutel, die sie an den alten Gürtel gebunden hatte, den der Fluss ihr gebracht hatte, als sie bemerkte, dass der gut gekleidete Fremde, den sie von der Treppe aus gesehen hatte, sie beobachtete. Trotz seines Alters sah er kräftig und...


Funke, Cornelia
Cornelia Funke ist die international erfolgreichste deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin. Viele ihrer Werke wurden ausgezeichnet und auch verfilmt. Cornelia Funke lebt in Volterra, Italien.

Funke, Cornelia
Cornelia Funke ist die international erfolgreichste deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin. Viele ihrer Werke wurden ausgezeichnet und auch verfilmt. Cornelia Funke lebt in Volterra, Italien.

Cornelia Funke ist die international erfolgreichste und bekannteste deutsche Kinderbuchautorin. Heute lebt sie in Volterra, Italien, doch ihre Karriere als Autorin und Illustratorin begann in Hamburg. Nach einer Ausbildung zur Diplom-Pädagogin und einem anschließenden Grafik-Studium arbeitete sie als freischaffende Kinderbuchillustratorin. Da ihr die Geschichten, die sie bebilderte, nicht immer gefielen, fing sie selbst an zu schreiben. Zu ihren großen Erfolgen zählen die "Drachenreiter"-Romane, die Reihe "Die Wilden Hühner" und "Herr der Diebe", mit dem sich Cornelia Funke auch international durchsetzte. Mit ihrer Tintenwelt-Trilogie und der Spiegelwelt-Serie eroberte Cornelia Funke weltweit die Bestsellerlisten. Über 60 Bücher hat Cornelia Funke mittlerweile geschrieben, die in mehr als 50 Sprachen erschienen sind. Zahlreiche Titel wie z.B. "Hände weg von Mississippi", "Herr der Diebe", "Die Wilden Hühner" und "Tintenherz" wurden verfilmt. Aber auch in Preisen und zahlreichen Auszeichnungen spiegeln sich ihre Beliebtheit und ihr Einfluss wider.



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