E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Funder Alles, was ich bin
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-402003-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-10-402003-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anna Funder, 1966 geboren, studierte in Melbourne und Berlin Germanistik, Englische Literatur und Rechtswissenschaften. Für ihr erstes Buch »Stasiland« (2002) erhielt sie den Samuel Johnson Award. Ihr Roman »Alles, was ich bin« (2014) war ein internationaler Bestseller und wurde allein in Australien mit dem renommiertesten Literaturpreis, dem Miles Franklin Prize, und sechs weiteren Preisen ausgezeichnet. Ihr Werk ist in 25 Sprachen übersetzt. Anna Funder lebt in Sydney.
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Teil I
Ruth 2001
»Es tut mir leid, Mrs Becker, was ich Ihnen mitzuteilen habe, ist gar nicht beruhigend.«
Ich befinde mich in einer noblen Klinik im Stadtteil Bondi Junction mit Blick auf den Hafen. Professor Melnikoff hat silbernes Haar und eine Halbbrille, eine himmelblaue Seidenkrawatte und lange Hände, die gefaltet auf seinem Schreibtisch liegen. Seine Daumen spielen lässig miteinander. Ich überlege, ob dieser Mann je geschult wurde, sich den Menschen außerhalb des ihn interessierenden Körperteils, in diesem Fall mein Gehirn, zu widmen. Wahrscheinlich nicht. Melnikoff mit seiner ruhigen Art wirkt wie ein Mensch, der es bevorzugt, einen großen weißen Atom-Sarkophag zwischen sich und einer anderen Person zu haben.
Und er hat mir ins Gehirn geschaut; nun bereitet er sich darauf vor, mir dessen Form und sein Gewicht und sein schleichendes Versagen mitzuteilen. Vergangene Woche haben sie mich in den MR-Tomographen gelegt, in einem dieser verdammten Hemden, die hinten offen sind und geschaffen wurden, um dich an die Verletzlichkeit der Menschenwürde zu erinnern und die gehorsame Befolgung von Anweisungen zu gewährleisten, auch als Absicherung gegen eine Flucht im letzten Moment. Lautes Klopfen, als die Magnetfelder meinen Schädel durchdrangen. Ich behielt meine Perücke auf.
»Eigentlich Becker«, sage ich. Außerhalb der Schule habe ich sonst nie auf dem Titel bestanden. Aber mit fortschreitendem Alter habe ich herausgefunden, dass Bescheidenheit mir nicht mehr so gut bekommt. Vor zehn Jahren beschloss ich, dass ich nicht als alte Frau behandelt werden will, daher begann ich, den Ehrentitel wieder entschlossen und in vollem Umfang zu benutzen. Und ich bin schließlich nicht hier, um mich trösten zu lassen. Ich will wissen, was er mir mitzuteilen hat.
Melnikoff lächelt, erhebt sich und befestigt die Aufnahmen meines Gehirns, schwarzweiße Schnittbilder von mir, mit Klemmen auf einem Leuchtschirm. Ich bemerke einen echten Miró – keinen Kunstdruck – an seiner Wand. Man hat das hiesige Gesundheitssystem schon vor langem verstaatlicht, und er kann sich das immer noch leisten? Es gab also nichts zu befürchten, oder?
»Also, Frau Kollegin Dr. Becker«, sagt er, »diese bläulichen Abschnitte deuten auf beginnende Plaquebildung hin.«
»Ich bin Dr. phil.«, sage ich. »Wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Sie stehen wirklich nicht so schlecht da. Für Ihr Alter.«
Ich bemühe mich, eine möglichst ausdruckslose Miene zu zeigen. Ein Neurologe sollte zumindest wissen, dass das Alter einen nicht dankbar macht für kleine Gnadenakte. Ich fühle mich gesund genug – jung genug –, um Verlust als Verlust zu erleben. Andererseits war bisher nichts und niemand in der Lage, mich umzubringen.
Melnikoff erwidert mild meinen Blick, seine Fingerspitzen berühren sich. Er legt eine sanfte Gelassenheit im Umgang mit mir an den Tag. Vielleicht mag er mich? Der Gedanke versetzt mir einen kleinen Schock.
»Es ist die beginnende Häufung von Defektzonen – Aphasie, Abbau des Kurzzeitgedächtnisses, vielleicht Beeinträchtigung einiger Aspekte der räumlichen Wahrnehmung, nach der Lokalisation der Plaquebildung zu urteilen.« Er deutet auf trübe Areale im oberen Frontalbereich meines Gehirns hin. »Möglicherweise hat das Auswirkungen auf Ihr Sehvermögen, aber hoffen wir, noch nicht in diesem Stadium.«
Auf seinem Schreibtisch steht ein Drehkalender, ein Gegenstand aus einer Zeit, in der sich die Tage einer auf den anderen legten, ohne Ende. Hinter ihm die bewegte, glitzernde Wasserfläche des Hafens, die große grüne Lunge dieser Stadt.
»Eigentlich erinnere ich mich an mehr, Herr Professor, nicht an weniger.«
Er setzt seine Halbbrille ab. Seine Augen sind klein und wässrig, die Iris scheint nicht mitten im Weiß seiner Augen zu liegen. Er ist älter, als ich angenommen hatte. »Tatsächlich?«
»An Geschehnisse in der Vergangenheit. Glasklar.«
Ein schwacher Geruch von Kerosin, unverkennbar. Obwohl das nicht sein kann.
Melnikoff hält sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und mustert mich.
»Dafür gibt es vielleicht eine klinische Erklärung«, sagt er. »Einige Studien deuten darauf hin, dass mehr lebhafte Langzeiterinnerungen heraufgeholt werden, während gleichzeitig das Kurzzeitgedächtnis abnimmt. Gelegentlich erleben Personen, die in Gefahr sind, ihr Augenlicht zu verlieren, starke sekundäre Symptome. Das sind Hypothesen, mehr nicht.«
»Sie können mir also nicht helfen.«
Er lächelt sein mildes Lächeln. »Brauchen Sie denn Hilfe?«
Ich verlasse ihn mit einem Termin in sechs Monaten, im Februar 2002. Sie legen die Termine nicht so dicht aufeinander, dass es uns Ältere entmutigt, doch auch nicht allzu weit auseinander.
Danach fahre ich mit dem Bus zur Hydrotherapie. Es ist ein Niederflurbus mit Kneeling-Funktion, einer, der die Einstiegsseite absenkt für Lahme wie mich. Mit ihm fahre ich von den rosa Medizintürmen in Bondi Junction auf dem Höhenrücken über dem Wasser in die Stadt hinein. Vor dem Fenster tut sich ein Rosella-Papagei an einem Flammenbaum gütlich, Turnschuhe tanzen an einer Stromleitung hängend. Dahinter faltet sich die Erde zu Hügeln auf, deren Hänge sich zum Hafen, der gelassen und voller Leben daliegt, hinabneigen, als wollten sie ihn küssen.
. Ich hatte einst sehr gute Augen. Was ich allerdings sah, ist eine andere Sache. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Es ist sehr gut möglich, dass man sieht, wie etwas geschieht, und es überhaupt nicht wahrnimmt.
Der Hydrotherapiekurs läuft in der schicken neuen Schwimmhalle in der Stadt. Wie so viele andere Dinge funktioniert Hydrotherapie nur, wenn man daran glaubt.
Das Wasser ist warm, die Temperatur fein abgestimmt, damit die Diabetiker und die zu Herzflimmern Neigenden unter uns nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Ich klebe mir täglich ein Pflaster auf den Brustkorb, das mit einem elektrischen Impuls mein Herz antreibt, wenn es erlahmt. Von früheren, todesmutigen Experimenten weiß ich, dass es im Wasser haften bleibt.
Wir sind heute zu siebt im Becken, vier Frauen und drei Männer. Zwei der Männer werden in Rollstühlen über die Rampe ins Wasser hinuntergefahren, wie Schiffe beim Stapellauf. Ihre Betreuer schweben um sie herum, die Räder ihrer Gefährte sind im Wasser ungelenk. Ich bin in der letzten Reihe, hinter einer Frau mit einer altmodischen gelben Badekappe, aus der erstaunliche Gummiblumen sprießen. Wir heben gehorsam die Hände. Ich beobachte das herabhängende Fleisch unserer Arme. Der alternde Körper scheint einen Vorsprung bei der Zersetzung zu haben, wie er in seiner eigenen Hülle dahinschmilzt.
»Die Arme über den Kopf – einatmen – jetzt die Arme senken – ausatmen – die Arme nach hinten drücken – atmen!«
Offenbar muss man uns daran erinnern, Luft zu holen.
Die Übungsleiterin am Beckenrand hat einen Halbmond weißer Igelhaare um den Kopf und ein Mikrophon vor dem Mund. Wir schauen zu ihr auf wie zu einer Geretteten. Sie ist freundlich und respektvoll, doch sie ist eindeutig eine Abgesandte, die – ziemlich verspätet für uns – die Botschaft bringt, dass körperliches Wohlbefinden zum ewigen Leben führen kann.
Ich bemühe mich, an die Hydrotherapie zu glauben, obschon es mir – weiß der Himmel – nicht gelungen ist, an Gott zu glauben. Als ich jung war, während des Ersten Weltkriegs, pflegte mein Bruder Oskar in der Synagoge einen Roman – oder die – unter dem Gebetbuch zu verstecken, damit Vater es nicht mitbekam. Schließlich verkündete ich mit der peinlichen Bestimmtheit einer Dreizehnjährigen: »Erzwungene Liebe tut Gott weh«, und weigerte mich, zur Synagoge zu gehen. Im Rückblick erkenne ich, dass ich damals zu Seinen Bedingungen argumentiert habe; wie kann man jemanden wehtun, der nicht existiert?
Und nun, eine Ewigkeit später, ertappe ich mich dabei, dass ich, wenn ich nicht aufpasse, denke: Warum hat Gott gerettet und nicht all die anderen? Die Gläubigen? Tief im Innersten empfinde ich, dass meine Stärke und mein Glück nur Sinn ergeben, wenn ich zum auserwählten Volk gehöre. Unverdientermaßen, und dennoch auserwählt; ich bin ein langlebiger Beweis seiner Irrationalität. Wenn man darüber nachdenkt, verdienen es weder Gott noch ich zu existieren.
»Jetzt konzentrieren wir uns auf die Beine, benutzen Sie also die Arme, wie Sie wollen, um die Balance zu halten«, sagt die junge Frau. Jody? Mandy? Meine Hörhilfe ist im Umkleideraum. Ich frage mich, ob sie das alles aufnimmt und an die Mütter weitergibt, die ihre Kinder mühsam aus nassen Badeanzügen schälen, an den Schimmel, die Schamhaare und die rätselhaften Knäuel unbenutzten Toilettenpapiers auf dem Fußboden.
»Wir strecken das linke vor und kreisen aus dem Knie heraus.«
Eine Sirene ertönt, heult in Intervallen. Drüben im großen Becken wird es gleich Wellen geben. Kinder laufen eilig mit erhobenen Händen durchs Wasser, weil sie ganz vorn stehen wollen, wo die Wellen am größten sind. Mädchen im Teenageralter überprüfen dezent den Sitz ihrer Bikini-Oberteile; Mütter setzen sich ihre Babys auf die Hüfte und gehen auch ins Wasser, um den Spaß mitzumachen. Ein kleiner Junge mit roter Schwimmbrille stürzt sich bis zum Kinn hinein. Hinter ihm geht eine zierliche junge Frau mit weich ins Gesicht...