Frühling | Nichts kann ich mir am besten merken. | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Frühling Nichts kann ich mir am besten merken.


1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-10-402303-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-10-402303-8
Verlag: S.Fischer
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Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Komplett verzichtbar, unglaublich unnütz - absolut unvergesslich! »Von meinem Kollegen Dingsbums kann ich mir seit drei Jahren den Vornamen nicht merken, aber ich weiß, dass er einen roten Renault Twingo fährt, den er laut Nummernschildumrandung im Autohaus Ziplinski gekauft hat. Von allen Klassenkameraden aus der Unterstufe kenne ich noch die Telefonnummern, rufe aber nie an, weil ich den Namen eh kein Gesicht zuordnen könnte.« Von einem, der sich immer nur an den unwichtigen Kram erinnern kann.

Tim Frühling, geboren 1975 im 77 Meter ü. NN gelegenen Wolfenbüttel, ist im Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt aufgewachsen, der bekanntlich nach Budapest das zweithöchste Quellwasseraufkommen Europas hat. Nach dem Abitur folgten ein Praktikum und ein 730-tägiges Volontariat beim Rems-Murr-Bürgerradio in 71332 Waiblingen. Seit 1998 ist Tim Frühling im Frankfurter Dornbusch beim Hessischen Rundfunk (zunächst bei YOU FM, seit 2006 bei hr3), und seit 2008 präsentiert er außerdem im hr-Fernsehen und der ARD das Wetter.
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Hartes Brot, aber es könnte härter sein. In einem der Länder beispielsweise zu leben, deren Kennzeichen keine regionale Zuordnung zulassen (einige Beispiele wurden weiter vorne ja schon aufgeführt). Belgien ist eines davon – allerdings sind die aufschlussarmen Kennzeichen wahrscheinlich das geringste Problem unserer Nachbarn im Westen. Von wo auch immer Sie in dieses klamme Königsreich reisen, es wird Ihnen sofort auffallen, dass Sie angekommen sind. Und zwar nicht nur an den legendären beleuchteten Autobahnen, sondern am grundsätzlichen Modernisierungsstau, der sich wie Mehltau über das Land zwischen Nordsee und Ardennen gelegt hat. Kabel verlegt der Belgier stets überirdisch. Während bei uns für Leitungen von Haus zu Haus Straßen aufgerissen, Röhren versenkt und die Straßen anschließend wieder zugeflickt werden, hängt der Belgier die Kabelläufe einfach von Dach zu Dach. Wenn ein neues Haus gebaut wird, kommt ein neues Kabel dazu. Wenn die Kapazität erschöpft ist, kommt ein neues Kabel dazu. Wenn das alte nicht mehr recht funktioniert, kommt ein neues Kabel dazu. Es gibt Straßenecken in Belgien, die man selbst bei heftigem Regen trockenen Fußes passieren kann, so dicht ist das Netz an Kabeln mittlerweile.

Ebenso groß wie die Vorliebe für Kabel scheint die Abneigung gegenüber Renovierungsarbeiten zu sein. In großen Teilen des Landes könnte man Filme drehen, die in längst vergangenen Jahrzehnten spielen, ohne dafür am Szenenbild auch nur eine Veränderung vornehmen zu müssen. Neben Kaschemmen mit ausgeblichenen Schildern der Brauerei Jupiler leuchten über inhabergeführten Bekleidungsgeschäften geschwungene Neonröhrenlettern mit einer Fettschichtpatina, die sie der benachbarten Frittierstube zu verdanken haben, deren armselige Schaufenstergardinen zum letzten Mal anlässlich der Inthronisation von Königin Fabiola 1960 gewaschen wurden. Ich erinnere mich noch gut an eine Metallbrücke in Bahnhofsnähe von Antwerpen. Sie überspannte eine verkehrsreiche Kreuzung und ermöglichte eine ampelfreie Überfahrt. Stundenlang stand ich mit meiner Kamera daneben, weil ich derjenige sein wollte, der in Bildern festhält, wie dieses über und über korrodierte Bauwerk unter einem Reisebus die Grätsche macht. Sie überstand meinen Antwerpen-Aufenthalt aber überraschenderweise.

Natürlich konnte jahrelang in Belgien weder eine Fassade noch eine Brücke noch sonst irgendetwas renoviert werden, weil das ganze Geld ja in die Beleuchtung der Autobahnen gesteckt werden musste. Seit 1950 wurden mehr als 150000 Laternenmasten verbaut, weil man der recht exklusiven Einzelmeinung war, dass durch helle Autobahnen weniger Unfälle passieren. Ich weiß nicht genau, was eine belgische Autobahnlampe in der Anschaffung kostet. Wenn wir von 1000,– Euro pro Stück ausgehen (was mir angesichts des Preises mancher Esszimmerlampen extrem günstig vorkommt), hat diese wirre Idee im Lauf der Jahre schon mal stolze 150 Millionen Euro gekostet. Allerdings ist in diesem Preis noch kein Watt Strom enthalten. Nachdem sich die Wallonie Anfang des Jahres 2011 für die Abschaltung der Beleuchtung entschieden hatte, gab sie ein Einsparpotential von jährlich 9,5 Millionen Euro an. Bald darauf zogen auch die Flandern im Norden nach, deren Autobahnnetz sogar noch etwas länger ist als das des Südteils. Wir können also davon ausgehen, dass pro Jahr etwa zwanzig Millionen Euro für helle Autobahnen verbraten wurden. Da ja, wie weiter oben bereits erwähnt, schon 1950 die ersten Schnellstraßen in gelbes Licht getaucht wurden, kann man per Hochrechnung davon ausgehen, dass sich Material und Stromkosten auf deutlich mehr als eine Milliarde Euro addieren. Und für dieses Geld hätte man sich gerade in diesem Land wirklich viele andere schöne Dinge leisten können.

Was man sich hingegen leistet, ist neben der flämischen und der wallonischen noch eine eigene Regierung für die Deutsch sprechenden Belgier im Osten des Landes. Rund 75000 deutsche Muttersprachler wohnen auf einem recht großen, allerdings auch recht dünn besiedelten Gebiet. Und mit ihrer »Deutschsprachigen Gemeinschaft«, kurz DG, nehmen’s die Belgier echt ernst: Neben dem eigenen Parlament mit seinen vier Ministerien gönnt man sich zwei öffentlich-rechtliche Radio- und einen Fernsehsender. Dazu eine deutschsprachige Tageszeitung, eine Festivalreihe und natürlich deutsche Warnhinweise auf Zigarettenschachteln im ganzen Land. Für die einzige Filiale einer berühmten amerikanischen Hamburgerbraterei in der DG werden sogar eigens die papiernen Tablettauflagen auf Deutsch gedruckt. Man kann also zu der Vermutung kommen, dass die 75000 Einwohner hauptsächlich damit beschäftigt sind, Dinge für ihre Sondersprachzone zu verfassen oder zu produzieren, die nicht verfasst oder produziert werden müssten, wenn es diese Sondersprachzone nicht gäbe. Neben unserer Sprache hat die DG aber auch eine unserer Haupttugenden, nämlich die deutsche Ordentlichkeit, übernommen: Zwischen Eupen und Sankt Vith hängen deutlich weniger Kabel über den Straßen als im Rest des Landes.

Um noch mal kurz auf die beleuchteten Autobahnen Belgiens zurückzukommen: Noch irritierter als wir müssen Slowenen sein, die über die einst taghellen Schnellstraßen gerollt sind. Warum gerade Slowenen? Ich erkläre es Ihnen: Das kleine Land südlich der Karawanken ist nämlich weltweiter Vorreiter im Kampf gegen die sogenannte Lichtverschmutzung. Seit 2007 regelt ein Gesetz, dass Straßenlaternen bitte nur den Bereich ausleuchten, dessentwegen man sie aufgestellt hat, nämlich die Straße. Außerdem wurde ihr Licht von Weiß auf Gelb umgestellt, weil gelbes Licht weniger weit streut als weißes. Die slowenische Antilichtverschmutzungsfaustregel (wow, 33 Buchstaben) lautet: Kein Lichtschein darf über den Horizont hinausgehen. Sehenswerte Gebäude werden also nicht mehr von unten nach oben, sondern allenfalls seitlich bestrahlt. So genannte »Sky-Beamer«, wie vor deutschen Großraumdiskotheken gerne verwendet, sind komplett verboten.

Hobby-Sterngucker stören sich schon lange an der künstlich erzeugten Helligkeit, die unsere Nächte mehr an Dämmerung als an komplette Dunkelheit erinnern lassen. Waren früher an einem klaren Tag mit bloßen Auge noch rund 2500 Sterne zu erkennen, sind es jetzt nur noch um die 500 Himmelskörper. Vögelchen werden durch die Lichtverschmutzung ganz chouchou, weil ihre kleinen Köpfchen nicht differenzieren können, ob das Licht von Lampe oder Sonne kommt. Und wir Menschen bilden das wichtige Hormon Melatonin, das uns unter anderem vor Müdigkeit am Tag schützt, nur bei völliger Dunkelheit. Mit diesem Argument hat ein Arzt vor ein paar Jahren das slowenische Parlament so beeindruckt, dass alle Parteien für das Gesetz gestimmt haben. Falls Sie diese kleine Vorreiternation besuchen wollen und noch nicht genau wissen, wo sie liegt, ganz einfach: Reisen Sie rasch zur Raumstation MIR, werfen sie des Nachts einen Blick auf Europa – und da, wo’s dunkel ist, da ist Slowenien.

Slowenien weist übrigens eine interessante Parallele zu Bayern auf: Obwohl der Alpenraum nur einen geringen Teil der Landesfläche einnimmt, wird im touristischen Sektor so getan, als sei das ganze Land hochalpin und von schneebedeckten Dreitausendern umstanden. Wenn Sie einen Menschen irgendwo im Ausland auffordern, »Bavaria« zu zeichnen, werden möglicherweise Bierkrüge, vielleicht Lederhosen, eventuell auch Würste, ganz sicher aber die Alpen eine Rolle spielen. Und das, obwohl man problemlos Hunderte Kilometer durch Bayern fahren kann, ohne sie auch nur einmal zu sehen. Nochmal kurz zurück zu Slowenien: Wenn Sie das Land auf einer Europakarte gefunden haben, fällt Ihnen vielleicht auf, was diese Nation, genauso wie Italien, richtig gemacht hat. Falls nicht, verrate ich es Ihnen kurz: In Slowenien und Italien sind die höchsten Berge im Norden und das Meer im Süden. Das ist eine schlaue Anordnung, denn Berge nutzt man gerne zum Skifahren, Meere zum Baden. Im Norden ist es normalerweise kälter als im Süden, was schneereiche Winter in den Bergen bedeutet und milde Frühlingsnächte in den mediterranen Regionen (wir sprechen von der Nordhalbkugel, schon klar). Deutschland ist leider genau andersherum angeordnet: An den badetauglichen Stränden von Nord- und Ostsee steigt das Thermometer selten über 25 Grad, während fiese Föhnwinde in den Alpen dafür sorgen können, dass der Schnee schon im Januar auf einzelne, traurige Fleckchen zusammenschrumpft. Sollten Sie jemals in die Situation kommen, ein komplett neues Land zusammenbasteln zu dürfen, sollten Sie diesen Gedanken nicht außer Acht lassen.

Jetzt aber wieder nach Bayern : Um ehrlich zu sein, ist das Gros dieses Freistaats landschaftlich eher eine triste Angelegenheit. Niederbayern wellt sich unendlich vor sich hin, unterbrochen höchstens mal von einem Atomkraftwerk oder einer BMW-Manufaktur. Das Donautal zwischen Neu-Ulm und Passau weist an gefühlten 350 Tagen im Jahr dichte Nebelschwaden auf, weswegen eventuelle landschaftliche Reize nicht beurteilt werden können. In Mittelfranken sieht es so aus wie überall in Deutschland. In Oberfranken ebenfalls, nur in ärmlich. Unterfranken könnte durch seinen Weinanbau auch für Württemberg gehalten werden, und die Oberpfalz ist schon seit jeher das Armenhaus Süddeutschlands.

Trotzdem wird dem Bayernland und seinen Besuchern vorgegaukelt, dass die Alpen quasi überall in der unmittelbaren Nachbarschaft liegen. Kaum eine Sendung im Bayrischen Fernsehen, in der der Moderator nicht vor einem Bergpanorama auf dem Bluescreen säße – und in...


Frühling, Tim
Tim Frühling, geboren 1975 im 77 Meter ü. NN gelegenen Wolfenbüttel, ist im Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt aufgewachsen, der bekanntlich nach Budapest das zweithöchste Quellwasseraufkommen Europas hat. Nach dem Abitur folgten ein Praktikum und ein 730-tägiges Volontariat beim Rems-Murr-Bürgerradio in 71332 Waiblingen. Seit 1998 ist Tim Frühling im Frankfurter Dornbusch beim Hessischen Rundfunk (zunächst bei YOU FM, seit 2006 bei hr3), und seit 2008 präsentiert er außerdem im hr-Fernsehen und der ARD das Wetter.

Tim FrühlingTim Frühling, geboren 1975 im 77 Meter ü. NN gelegenen Wolfenbüttel, ist im Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt aufgewachsen, der bekanntlich nach Budapest das zweithöchste Quellwasseraufkommen Europas hat. Nach dem Abitur folgten ein Praktikum und ein 730-tägiges Volontariat beim Rems-Murr-Bürgerradio in 71332 Waiblingen. Seit 1998 ist Tim Frühling im Frankfurter Dornbusch beim Hessischen Rundfunk (zunächst bei YOU FM, seit 2006 bei hr3), und seit 2008 präsentiert er außerdem im hr-Fernsehen und der ARD das Wetter.



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