E-Book, Deutsch, Band Band 1, 266 Seiten
Reihe: Günter Grass Werkkommentare
E-Book, Deutsch, Band Band 1, 266 Seiten
Reihe: Günter Grass Werkkommentare
ISBN: 978-3-11-120294-5
Verlag: De Gruyter
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Zielgruppe
Germanist/-innen, Kulturwissenschaftler/-innen, Musikhistoriker/-
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Einführung
Der Titel
Telgte? Wo in aller Welt liegt Telgte? War Günter Grass, das PR-Naturtalent, wirklich gut beraten, als er ein Treffen in Telgte auf den Markt brachte? Die Blechtrommel – Hundejahre – Der Butt – Die Rättin, das sind effektvolle und schlagkräftige Buchtitel, die mit einem einzigen Substantiv Aufmerksamkeit, vielleicht sogar Leseneugier erregen. Ein Treffen in Telgte jedoch löst allenfalls ein müdes Achselzucken aus. Und erst einmal ein Meeting at Telgte, wie es 1981 dem amerikanischen Leser präsentiert wurde, war ja wohl alles andere als eine catchy headline? Das hatte der Zeitungsmann Kleist offensichtlich besser gemacht, wenn er dem Leser mit dem Erdbeben in Chili eine unerhörte Begebenheit versprach; Wassermanns Gold von Caxamalca, dessen Titel nach dem gleichen Muster gestrickt ist – eine Ortsbestimmung und ein aufsehenerregender Sachverhalt –, lockt mit exotischer Kulisse und lässt Abenteuerliches im Reich der Inka erahnen. Und eine Novelle wie Der Tod in Venedig verheißt einen dekadenten Hit in morbidem Ambiente. Doch – Telgte? Weder das unbedeutende westfälische Örtchen noch das ganz unbestimmt-banale „Treffen“ haben auf den ersten Blick irgendetwas Exotisches, etwas Beziehungsreich-Kulturbürgerliches oder gar etwas Werbewirksames an sich. Und doch verbirgt sich hinter diesem Lemma eine der besten von Günter Grass’ Erzählungen, wenn nicht seine kunstvollste überhaupt. Aus einer Laune heraus entstanden, von einer brillanten Idee getragen, spielerisch-leicht entwickelt und stringent zu Ende geführt, hat sie heute, nach über vier Jahrzehnten, längst Klassikerstatus erzielt. Und selbst der scheinbar flaue Titel hat’s in sich. Telgte oder Telligte, wie das Kirchspiel an der Ems in der Frühen Neuzeit hieß, steckt nämlich voller Merkwürdigkeiten, die nur offenen Auges entdeckt werden müssen – oder mit dem Motivsucher einer hellsichtigen Photo-Box. Wie das abgelaufen sein könnte, erzählt eines der zur patchwork-family Grass gehörigen Kinder in der fiktionalisierten Autobiographie Die Box. „Der Alte“ habe sich eine Agfa von Maria Rama, der befreundeten Photographin, ausgeliehen und auf der Telgter Emsinsel nach Sedimenten aus der Barockzeit gefahndet, dann aber nichts gefunden als ein ödes Parkareal: War ne Insel, der Parkplatz, weil ein Fluss linksrechts einen Bogen drumrum machte und genau da wieder zusammenfloß, wo Reste vonner Wassermühle […]. Aber hauptsächlich war er [Grass] auf den total betonierten Parkplatz scharf, weil dort – „genau hier“ hat er gesagt – „vor rund dreihundert Jahren der Brückenhof stand, der Ort des Geschehens sein wird.“ Soll ne Art Herberge für Kaufleute gewesen sein, die mit ihrer Ware, na, Tuchballen und volle Fässer, über die Emsbrücken rüber unterwegs gewesen sind. „Damals“, hat dein Vatti gesagt, „war Krieg, der nicht aufhören wollte, auch wenn schon seit Jahren in Münster und Osnabrück der Frieden verhandelt wurde.“ Und deshalb soll dieser Brückenhof, den es früher mal gegeben hat, voll belegt mit Dichtern gewesen sein, die sich genau da treffen wollten, wo jetzt der fast leere Parkplatz … (18, S. 115f.)1 Während die heutige Tourismus-Homepage der Stadt das vor dem Emstor gelegene Gasthaus „Im Wilden Mann“ als Vorbild für den Tatort der Erzählung empfiehlt, nimmt Grass für sich die Freiheit der Phantasie in Anspruch, die bei der Ortsbesichtigung gleichsam alles, was Kunst ist, aus dem Nichts entstehen lässt, den „Brückenhof“ und den dort tagenden Club der barocken Dichter. Die „Zauberbox“, das Instrument der poetischen Einbildungskraft, macht’s möglich. Selbstverständlich ist auf den Photoabzügen des Zauberers nicht die triste Betonfläche, sondern das barocke Wirtshaus samt Stallgebäuden und Wirtin Libuschka zu finden. Es durfte wirklich nicht irgendein real existierendes Gasthaus zum „Wilden Mann“, sondern es musste ein Ou-topos sein, ein Nirgendwo inmitten einer zivilisationsfernen „Uferwildnis“ (S. 14), in einer imaginären Welt, die umbrandet ist vom Wahnwitz eines nicht enden wollenden Krieges. Von hier, vom sogenannten Emshagen aus gesehen, zerfließen auch die historisch-realen Konturen der Stadt Telgte zu einer vagen Phantasmagorie. Während ein westfälischer Rezensent beklagen zu müssen glaubte, Telgte sei allenfalls „eine hin- und hergeschobene Papp-Kulisse“ und letztlich ein eher zufälliger Schauplatz (Wallmann 1979, S. 370), durfte es hingegen nur das Örtchen Telgte und kein anderes sein. Gleichzeitig hat aber auch die Entmaterialisierung dieses temporal und lokal fixierbaren Tatortes Methode. Es sind nämlich nur bestimmte Attribute der historischen Stadt, die Grass für sein Motivgewebe braucht, isoliert und gleichsam emblematisch mit Bedeutung auflädt. Bei der alten Hansestadt, verkehrsgünstig an einer Furt über die Ems gelegen, gabelte sich einstmals der Handelsweg, die von Münster kommende Fernstraße, die zum einen an die Nord-, zum anderen an die Ostsee führte (Heimatbuch 1938, S. 147). Zu diesem Schnittpunkt eilen nun dank der Evokation durch die Zauberbox die Poeten aus allen Richtungen der Windrose herbei: aus Franken im Süden, aus Sachsen im Osten, aus Hamburg im Norden und aus Amsterdam im Westen. Das südwestliche Straßburg, das nordöstliche Königsberg oder das nordwestliche London nicht zu vergessen. Die da im Brennpunkt „Telgte“ entgegen aller historischen Wahrscheinlichkeit zusammentreffen, repräsentieren das uneinige Deutschland als ganzes, das sich in seiner Zersplitterung als kulturelle Einheit verstehen und weiterhin bewahren will. So wird die kleine Hansestadt kurzerhand umfunktioniert in einen geistig-literarischen Knotenpunkt des politisch, religiös und sprachlich zerrissenen Landes; weshalb man die Kaufleute, die hier einquartiert sind, weil sie in historischer Betrachtung hierhin, in die Hansestadt, gehören, kurzerhand auslagert, um dem „morbiden Haufen“ (S. 16) der erdichteten Kulturträger Platz zu machen. Strategisch überaus günstig befand sich Telgte in den Jahren 1643 bis 1648 überdies – hier stimmen Ort und Zeit wiederum bestens zusammen – im Epizentrum der Weltgeschichte, zwischen zwei ländlichen Bischofsstädten, in denen beim internationalen Friedenskongress nahezu alle europäischen Mächte versammelt waren und in zähem, fünf Jahre währendem Ringen über den Frieden verhandelten. Damit noch nicht genug: Telgte lag direkt an der „Friedensroute“, jener Reichspostlinie, die eigens für die reitenden Boten eingerichtet wurde, die zwischen den feindlichen Lagern – den spanischen, niederländischen, französischen Parteien in Münster und den deutschen und schwedischen Gesandtschaften in Osnabrück – mit Botschaften und Verhandlungspapieren hin und wider verkehrten (vgl. S. 13). Nicht nur der Brückenhof, in dem die Dichter tagen, hat eine Brückenfunktion, sondern auch die Stadt selbst, weil sie zwischen den Orten wie den Konfessionen wie auch den politischen Interessen vermittelt. Die deutschen Barockdichter wollen nun ebenfalls, wenn auch nur auf ihre Weise, das heißt mit dem einzigen Rüstzeug, das Dichter besitzen, mit dem Wort, an der Staatsaktion des Friedenskongresses teilhaben (vgl. S. 21). Im europäischen Zentrum „Telgte“ agieren sie in einem Spagat zwischen Politik und Kunst, der ihr ganzes Tun und Treiben während der drei Exerzitientage im Münsterland bestimmen wird: Hier nahe am Puls des Zeitgeschehens, bergen sie sich dort in ihrem hortus conclusus, ihrem ringsum vom Fluss umflossenen Dichter-Garten auf der Emsinsel. Dass die „musisch wallfahrenden Herren“ (S. 12) schließlich auch noch in einem Marienwallfahrtsort landen, rundet die Finesse der Ortswahl ab. Der skeptische und allen Ideologien abholde Erzähler wird aus dieser Konstellation seine mehr oder weniger blasphemischen und obszönen Boshaftigkeiten ableiten. Ob aber die literarischen Pilgrime in Telgte, dem Ort der Heilungen, ein wahres Wunder erleben werden, muss erst einmal bezweifelt werden. Wenn in diesem so beschaffenen Örtchen ein „Treffen“ stattfindet, dann sollte der kulturelle Prätext, auf den sich die Erzählung zurückbezieht, vorerst wenigstens, angedeutet werden. Denn Hans Werner Richter, der Widmungsträger der Erzählung und spiritus rector der Gruppe 47, nannte deren Versammlungen dezidiert „Treffen“, weil er jede Assoziation an geschäftsmäßige „Konferenzen“ oder „Tagungen“ ausschließen wollte (Richter 1974, S. 89). Hätte nun aber ein deutschsprachiger Leser des ausgehenden Mittelalters oder der Frühen Neuzeit diesen Buchtitel gelesen, er hätte alles andere darunter verstanden als eine harmlose oder literaturkritische Zusammenkunft. Insbesondere für das Jahrhundert der Kriege und Schlachten war ein „Treffen“ ausschließlich ein militärischer Begriff und bezeichnete ein Kampfgetümmel, einen mörderischen Zusammenprall feindlicher Heere. Kaum jemandem dürfte bewusst sein, dass des Wortes heutige Bedeutung sich erst seit jüngerer Zeit herausgebildet hat, und das wohl unter dem unheilvollen Einfluss der nationalsozialistischen Großveranstaltungen und der Reichs- und Frontkämpfertreffen der nationalsozialistischen Horden (DWb 21, Sp. 1667f.). In barocker Beleuchtung liefern sich die Barock-Dichter dann auch in Telgte ein Treffen, das über ein bloßes alltägliches Zusammentreffen oder gar ein Veteranentreffen hinausreicht (vgl. S. 22) und, wenn nicht einen...