Frischmuth Vom Fremdeln und vom Eigentümeln
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-85420-868-6
Verlag: Droschl, M
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Essays, Reden und Aufsätze über das Erscheinungsbild des Orients
E-Book, Deutsch, 152 Seiten
ISBN: 978-3-85420-868-6
Verlag: Droschl, M
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Kaum eine unserer SchriftstellerInnen ist so berufen, das komplexe Verhältnis von Orient und Okzident, von Westen und Nahem Osten kompetent zu durchleuchten, wie Barbara Frischmuth – deren Initiation in die Welt der Bücher, wie sie sagt, durch die Märchen aus 1001 Nacht stattfand. Die Faszination durch die reichhaltige Kultur des Islams durchzieht seither ihr eigenes Werk auf vielfältige Weise.In den letzten Jahren sind der Orient, die Türkei und der Islam in unsrerer öffentlichen Wahrnehmung aber weniger kulturell, sondern politisch präsent, die Angst vor dem Fremden erlebt bis dahin unvorstellbare Ausformungen; Abgrenzungen und Identitätspolitiken (aber auch Ahnungslosigkeit und Ignoranz) bestimmen das politische Gespräch über Migration und Europäische Union.Dieser Band versammelt nun eine Auswahl der Aufsätze, Vorträge und Essays zu ›orientalischen Fragen‹. Es geht darin um das Kopftuch, um das Europäische an Europa, um die EU und die Türkei, um islamische Frauen, aber vor allem geht es um den Reichtum an Kultur, der uns durch die Literatur des Orients zur Verfügung stünde (wüssten wir dieses Angebot nur zu schätzen!), um islamische und christliche Mystiker oder um geniale Übersetzer wie Friedrich Rückert. Ihre Aufsätze sind Musterbeispiele für die Fruchtbarkeit unabhängigen Denkens; mit Witz, Skepsis und Klugheit rücken sie die Vorurteile und verfestigten Ansichten der deutschen (oder österreichischen) Zeitgenossen zurecht, auch wenn die sich selbst für durchaus offen und vorurteilsfrei halten.
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Die Türkei und Europa Seit dem 17. Dezember 2004 steht fest, dass mit der Türkei Verhandlungen über ihren Beitritt zur EU aufgenommen werden. Wir brauchen uns also nicht mehr darüber zu unterhalten, ob das sein darf oder nicht. Genausowenig steht in Frage, dass der Islam nicht nur als Religion, sondern auch als Kultur und als Lebenspraxis längst in Europa angekommen ist. Es leben bereits an die 10 Millionen Muslime in Europa, ob uns das zu Gesicht steht oder nicht. Es kann also nur mehr darum gehen, sich zu überlegen, wie man mit diesen Muslimen lebt. Darüber sind Tausende von Artikeln, Essays und Reportagen geschrieben worden, so dass man meinen müsste, es wäre alles klar, man wüsste Bescheid und könnte darangehen, die Vorschläge in die Tat umzusetzen. Dem ist aber nicht so, wie an den meist negativen Reaktionen aus der Bevölkerung abzulesen ist. Was ist also falsch gelaufen? Was hindert die Menschen daran, in der Türkei nicht nur einen strategischen Partner zu sehen (dem man vor allem übelnimmt, dass die Amerikaner ihn in die EU hineinreklamieren), sondern auch einen wirtschaftlichen und kulturellen, dessen Akzeptanz die einmalige Chance bedeuten könnte, mit dem Islam, besser gesagt, mit einem muslimischen Land in der EU zu leben und die Hardliner auf beiden Seiten Lügen zu strafen, die da behaupten, Orient und Okzident seien keinesfalls miteinander kompatibel. Allerdings wäre das ein Vorhaben, für dessen Gelingen auch Europa einiges an visionärer Energie freisetzen müsste, denn so wenig man Kreuzzüge gewinnen kann (das zeigt die Geschichte und das zeigt die irakische Gegenwart), so sehr hilft man sich und anderen mit Ideen, Aufmerksamkeit und Entgegenkommen. Die Frage, die man sich wohl immer wieder stellen muss, noch bevor man über die Möglichkeiten der Integration spricht, ist die, welche Art von Europa wir überhaupt wollen. Adolf Muschg, der Schweizer Schriftsteller und Essayist, hat in einer seiner Vorlesungen zum Thema ›Was ist europäisch?‹, die er auf Einladung des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen gehalten hat, Folgendes zu denken gegeben: »Europa wird ein kulturelles Projekt, oder es wird sich auch politisch nicht halten lassen. Die wirtschaftliche Logik vermag keine der Kräfte freizumachen, die eine Kohäsion jenseits der Prosperität und auch ohne sie, ja sogar im Notfall sichern. Ich betrachte Europa als exemplarischen Testfall, ob es einer national und regional fundierten, aber auch entsprechend geteilten Gesellschaft gelingen kann, eine gemeinschftlich bestimmte Größe zu entwickeln, die der planetarischen Gesellschaft den Beweis ihrer Möglichkeit liefert.« Genau das wäre es, wofür die bereits erwähnte visionäre Energie vonnöten ist. Dass es in der Türkei enorme, ja geradezu unglaubliche Anstrengungen gegeben hat, die Kriterien zur Verhandlungsaufnahme zu erfüllen, hat sich herumgesprochen. Das heißt unter anderem, dass der Wille der Türken, zu diesem Europa zu gehören, groß ist und dass den meisten Türken die Bringschuld bekannt ist, die für eine Aufnahme zu entrichten ist. Natürlich dauert es noch, dieses Land tatsächlich europakompatibel zu machen, aber wer hätte 1950 in einem Europa, das sowohl physisch wie psychisch noch voller Kriegsschäden war, geglaubt, dass die damals erst vage angedachte Vereinigung im Jahr 2005 bereits 25 Mitglieder zählen würde, von denen alle der Meinung sind, sie hätten in irgendeiner Weise von dieser Vereinigung profitiert (bis auf die Österreicher, die sich dessen noch immer nicht sicher zu sein scheinen). Robert Schuman, damaliger französischer Außenminister, formulierte es 1963 so: »Wir müssen das geeinte Europa nicht nur im Interesse der freien Völker errichten, sondern auch, um die Völker in diese Gemeinschaft aufnehmen zu können, wenn sie von den Zwängen, unter denen sie leiden, befreit um ihren Beitritt und unsere moralische Unterstützung nachsuchen werden.« Weder Wertorientierungen, seien es muslimische oder westliche, noch politische Konstellationen sind wie die Zehn Gebote in Stein gemeißelt. Man braucht sich nur an die eigene Befindlichkeit zu erinnern. Deutschland und Österreich, die nicht erst seit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, sondern schon mindestens eine Generation davor von faschistischem und rassistischem ›Gedankengut‹ durchdrungen waren, das letztlich zur Ermordung von Millionen Menschen und dem größten aller bisherigen Kriege geführt hat, waren bald nach ihrer Befreiung und nicht ohne Erfolg damit beschäftigt, sich als Demokratien neu zu entwerfen und zu gestalten. Eine Entwicklung, die so nachhaltig war, dass die beiden Länder mittlerweile zu den wohlhabendsten der Welt zählen und sich auch im Hinblick auf Kultur wieder Geltung zu verschaffen wussten. Doch auch dieser Zustand ist ein veränderbarer, und wenn wir uns nicht weiterhin anstrengen, das Niveau zu halten und dafür zu sorgen, dass das Niveau für alle in der Union angehoben wird, werden wir mit unseren Vorstellungen von Niveau nicht mehr durchkommen. Wir haben Veränderbarkeit in der Geschichte unseres eigenen Landes erfahren, und so sollten wir sie auch anderen zugestehen. Manchmal hat man nämlich den Eindruck, dass vor allem die Österreicher die Türkei wie ein einziges an die 800 000 Quadratkilometer großes Kopftuch betrachten, vor dem sie mehr Angst haben, als in irgendeiner Weise realistisch ist. Wenn ich mir die Herren Cap und Schlögl bei einer Diskussion im Fernsehen ansehe, in der es um einen möglichen Beitritt der Türkei zur EU geht, frage ich mich, warum gerade österreichische Politiker sich in puncto Abfälligkeit gegenüber der Türkei mehr als die Politiker der anderen EU-Länder hervortun müssen. Dass im Augenblick in Ankara vor dem ›Yüce Divan‹, einem Staatsgerichtshof, der die Vergehen von Politikern und hochrangigen Beamten ahndet, sich Leute wie der frühere Ministerpräsident Mesut Yilmaz, der in Österreich immer besonders willkommen war, sowie acht weitere ehemalige Minister wegen Korruption verantworten müssen, während das Vermögen des früheren Bautenministers Koray Aydin bereits beschlagnahmt wurde, ist immerhin ein Zeichen, das, bei aller Skepsis gegenüber einer islamischen Regierung, doch auch für sie spricht. Noch weniger bekannt, aber umso ermutigender sind die Bestrebungen an der theologischen Fakultät Ankara, an der bereits in der zweiten Generation muslimische Modernisten forschen und lehren, die bei der Exegese des Korans auf hermeneutische Methoden zurückgreifen, wobei die Quellen der anderen monotheistischen Religionen in den Originalsprachen gelesen werden. Ebenfalls ein Projekt, das noch lange nicht abgeschlossen sein wird, geschweige denn, dass ihm sofort größte Breitenwirkung beschert ist, doch es bewegt sich etwas. Ist ein Aufschwung in Sicht, setzt meist auch eine Beschleunigung ein, die gelegentlich unverhofft rasch zu Ergebnissen führt. Die Angst vor muslimischen Mitbürgern, die hierzulande auch Intellektuelle in die Defensive treibt, was diese jedoch nicht daran hindert, den Türken immer wieder mit erhobenem Zeigefinger aufzuzeigen, wohin und wie sehr sie sich noch zu entwickeln hätten, hat die hiesigen Menschen vergessen lassen, dass es auch die Möglichkeit gibt, zumindest die hier ansässigen Türken, die zu einem Teil bereits österreichische Staatsbürger sind, als solche anzuerkennen. Was bedeuten würde, dass man sie vermehrt in den öffentlichen Dienst nimmt, wo sie, da sie ja meist noch der Sprache ihres Herkunftslandes mächtig sind, viel Aufklärungsarbeit leisten könnten. Die Stigmatisierung, ›Ausländer‹ zu sein, geht oft weniger auf konkrete Anpassungsschwierigkeiten der als ›Ausländer‹ bezeichneten Bürger dieses Landes zurück als auf unser eigenes unseliges Erbe, das uns Menschen noch immer vordringlich aufgrund ihrer ethnischen Herkunft taxieren lässt, auch wenn wir uns dessen gar nicht mehr immer bewusst sind. Das soll nun keineswegs heißen, dass es keine Schwierigkeiten beim Miteinander von Türken und Einheimischen gibt – die gibt es allemal und die sollen auch nicht kleingeredet werden. Dennoch kommt es bei vielen dieser liebsamen oder unliebsamen Begegnungen sehr darauf an, mit welcher Einstellung man einander gegenübertritt und wie groß das Wissen voneinander ist. Da liegt noch vieles im Argen, mit weitreichender Wirkung, u.a. auch der, dass man aufgrund ungünstiger Erfahrungen mit zugewanderten Anatoliern auf die Bevölkerung der Türkei insgesamt schließt. Was mir aber während der ganzen Zeit, in der das Für und Wider der Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei tobte und die Medien mit Berichten, Dokumentationen und Diskussionen überschwemmt wurden, am meisten gefehlt hat, waren die Versuche einer Vermittlung der türkischen Kultur. Wo ist die Initiative der Verlage geblieben, die türkische Literatur, die es ja in gar nicht so geringem Ausmaß auch auf Deutsch gibt, unter diesem Aspekt gesondert zu bewerben? Wo sind die Bestrebungen unserer vielen Museen geblieben, türkische Kalligraphie oder Miniaturenmalerei und – ja, warum nicht? – moderne türkische Kunst, die es natürlich gibt, im Hinblick darauf, dass die Türkei einmal zu uns gehören könnte, zugänglich zu machen? Hat auch nur ein einziges Theater oder eins der Filmfestivals auf einen zukünftigen Beitritt reagiert und uns gezeigt, wie Türken in der Türkei sich auf dem Theater oder im Film zu ihren Lebensproblemen äußern? Hat auch nur irgendwer hier in Salzburg, wo die Musik angeblich zu Hause ist, oder anderswo in diesem Land versucht, türkische Musik in größerem Rahmen hörbar zu machen? Hat es irgendeine nennenswerte öffentliche Diskussion zu diesem Thema gegeben? Meines Wissens nicht. Und was sagt uns das? Ist es vielleicht mit unserem Anspruch,...