E-Book, Deutsch, 280 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 190 mm
Frisch Was fehlt der evangelischen Kirche?
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-374-05032-1
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Reformatorische Denkanstöße
E-Book, Deutsch, 280 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 190 mm
ISBN: 978-3-374-05032-1
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die evangelische Kirche in Deutschland hat Substanz. Dennoch kehren ihr immer mehr Menschen den Rücken. Sagt ihnen die Kirche nichts mehr? Was sollte sie ihnen sagen? Was fehlt der evangelischen Kirche, um als hilfreich und lebensfördernd betrachtet zu werden? Oder geht es gar nicht nur um die Kirche? Hat sich die Gottesliebe verflüchtigt?
Ralf Frisch ist davon überzeugt, dass die evangelische Kirche die Menschen deshalb immer weniger anspricht, weil sie in spiritueller und metaphysischer Hinsicht sprachlos geworden ist und sich statt- dessen in politischer Bewusstseinsbildung und sozialer Arbeit erschöpft. Sie ist kein Ort mehr, an dem man die Erfahrung des Heiligen machen kann. Die evangelische Kirche der Gegenwart – so die These dieses leidenschaftlichen und persönlichen Buches – droht sich selbst zu banalisieren. Dennoch gibt es Hoffnung. Vielleicht, so Frisch, hat die evangelische Volkskirche ihre beste Zeit sogar noch vor sich, wenn sie sich wieder auf die letzten Dinge besinnt.
Ralf Frischs reformatorische Denkanstöße sind ein kühnes Plädoyer für die Wiederentdeckung des Glaubensfundaments in einem freiheitlich-demokratischen Denk- und Lebensraum, der seine christlichen Wurzeln nicht verleugnet. Eine selbstkritische und selbstbewusste evangelische Kirche darf künftig die Kritik am Islam ebensowenig scheuen wie die Auseinandersetzung mit totalitären und reduktionistisch-naturwissenschaftlichen Welt- und Menschenbildern.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Christentum und Gesellschaft, Kirche und Politik
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christliche Kirchen, Konfessionen, Denominationen Protestantismus, evangelische und protestantische Kirchen
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3. RELIGION: Berauschende Bewusstseinserweiterung
In unserer Gegenwart pflegen viele Menschen ihre christliche Religiosität in unterschiedlichsten Facetten und Schattierungen auch außerhalb der Kirche. Dennoch ist und bleibt die Kirche der sichtbarste Ort, an dem die christliche Religion kommuniziert wird. Ebenso wie der Mensch und ebenso wie die Kirche ist auch die Religion eine durchwachsene Angelegenheit. Religiöse Gefühle können durchaus gemischte Gefühle sein. Die Brille des Glaubens taucht – auch, wenn manche sich dies wünschen und genau deshalb religiös sind – nicht alles in ein rosarotes Licht. Religion kann uns Trost, Geborgenheit und tiefe Gelassenheit spenden. Aber sie ist kein Opium des Volkes. Und auch die Volkskirche ist nicht das Opium des Volkes. Sie erfüllt – jedenfalls aus evangelischer Sicht – nicht die Funktion, Menschen mit Morphinschwaden in ein Jenseits ihres Alltagsbewusstseins zu versetzen und wegdämmern zu lassen. – Oder doch? Ich will im Folgenden zumindest mit dem Gedanken spielen, dass sich die christliche Theologie die Religionskritik des Philosophen Karl Marx (1818–1883) vielleicht zu unhinterfragt zu eigen gemacht und die bewusstseinserweiternden und berauschenden Wirkungen der Religion vergessen haben könnte. Es war bekanntlich Marx, der Religion als Opium interpretierte, dessen Konsum soziale und politische Veränderung verhindere, weil es den Menschen ruhig stelle, ihn sich bis zu seiner Befreiung am Sankt-Nimmerleinstag ins gesellschaftliche Jammertal fügen lasse und ihn am revolutionären, gesellschaftsverändernden Handeln hindere. Die absolutistischen Preußenkönige konnten nach dem Motto »Brot, Spiele und Religion« nicht genug von Pfarrern bekommen, die die Untertanen bei Laune hielten und auf das Jenseits vertrösteten, damit sie ja nicht auf die Idee kämen, dieses Jenseits schon im Diesseits zu verwirklichen und etwas an ihrer sozialen Lage ändern zu wollen. Ein solches Verständnis von Religion hielt Marx für fatal. Ihm zufolge gilt es vielmehr, das sozialrevolutionäre Potenzial des jüdisch-christlichen Glaubens politisch, ökonomisch und gesellschaftlich so zu verwirklichen, dass das Seufzen der Kreatur verstummt und dass es keiner religiösen Vertröstung auf ein jenseitiges Reich Gottes und infolgedessen überhaupt keiner Religion mehr bedarf. Nach der Revolution aller gesellschaftlichen Verhältnisse muss, so Marx, der Mensch kein religiöses Opium mehr konsumieren, weil das, worüber er seufzt und was der christliche Glaube ersehnt, verwirklichte gesellschaftliche Realität ist. Marx notierte zwischen den Jahren 1843 und 1844 folgende berühmt gewordenen Sätze: »Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.«6 Hat Karl Marx etwas Wesentliches und Wahres erkannt und sich zugleich am Ende grundlegend getäuscht? Hatte er Recht, als er die Religion Opium des Volkes nannte? Und hatte er Unrecht, als er forderte, man müsse dem Volk dieses Opium rauben, das Proletariat auf die Barrikaden treiben und dazu nötigen, für einen Zustand zu kämpfen, in dem es sich nicht mehr nach Opium sehnt? Hatte er Unrecht, weil das Volk eben – auch, wenn es ihm den Verstand trübt und es dumpfsinnig macht – lieber Opium konsumiert, statt Revolution zu machen? Wenn dem so sein sollte, dann täuscht sich aber die evangelische Kirche genauso wie Karl Marx, wenn sie meint, ihr Auftrag bestehe ausschließlich darin, Anwältin gesellschaftlicher und politischer Zustände zu sein, in welchen Religion, weil ihre Ideen verwirklicht sind, nicht mehr notwendig ist. Die evangelische Kirche täuscht sich, wenn sie meint, ihr Auftrag bestehe weniger in religiöser, sondern vielmehr in politischer Bewusstseinsbildung. Könnte es sein, dass das Problem des gegenwärtigen Protestantismus darin liegt, dass er die marxistische Religionskritik so verinnerlicht und so als Wesenszug der Kirche äußerlich sichtbar gemacht hat, dass Religion in der evangelischen Kirche zum Bedauern vieler religionssehnsüchtiger Christen und Nichtchristen kein Thema mehr ist und keinen selbstständigen Ort neben Politik, Sozialromantik, Ökonomiekritik, politischer Bildung und Ethik mehr hat? Wenn dies stimmt, dann wäre das fatal. Denn einer Kirche, die sich nicht mehr an der Religion berauscht und die ihr Trost- und Spiritualitätspotenzial geringschätzt, weil sie meint, das Heil allein durch Pädagogisierung und sozioökonomische Systemveränderung erzwingen zu können, ist ihr Lebenselixier abhanden gekommen7. Politik, Pädagogik, soziale Arbeit und Ökonomiekritik können Religion nie und nimmer ersetzen. So sehr Religion zweifellos eine soziale, eine politische und eine ökonomiekritische Dimension hat, so sehr sollte sich das institutionalisierte Christentum davor hüten, in sozialer Arbeit, Politik und Ökonomiekritik aufgehen und sich darin erschöpfen zu wollen. Kirche ohne Religion, ohne metaphysischen Anspruch und ohne den Glauben an die Wahrheit Gottes ist blutleer und kann keine Antworten mehr auf die letzten Fragen des Lebens geben. Ich plädiere also nachdrücklich dafür, dass die evangelische Kirche wieder zu einem Ort wird, an dem ernstgenommen und sichtbar wird, dass – wie es in Johannes 18,36 heißt – Jesu Reich nicht von dieser Welt ist. Christen haben den Auftrag, zum Guten zu ändern, was zum Guten zu ändern ist. Sie müssen sich aber darüber im Klaren bleiben, dass dies immer nur punktuell und vorläufig geschehen kann. Niemals werden sie die Ursachen von Leid und Trauer abschaffen und alle Tränen von allen Augen abwischen können. Sie sind nicht Christus selbst. Und das, was Christen »Sünde« nennen, wird aus den Erfahrungsräumen dieser Welt ebensowenig verschwinden wie Glaube, Liebe und Hoffnung. Denn in ihnen kommt zum Vor-Schein, dass die Welt nicht das Reich Gottes ist und dass sie sich auch nicht aus eigener Kraft in das Reich Gottes verwandeln kann. Auch die Kirche ist nicht das Reich Gottes – selbst jene Kirche nicht, in die ich ungetrübt glücklich verliebt wäre. Wenn die evangelischen Kirchen in Deutschland dennoch mit dem Status quo nicht zufrieden wären, sondern zu Orten des Vor-Scheins einer ganz anderen Wirklichkeit werden wollten, müssten sie ihre spirituellen Wurzeln freilegen und ein neues Gefühl dafür gewinnen, dass der christliche Glaube ein Medium des Kontakts zu den letzten Dingen und zu den Tiefenschichten des menschlichen Daseins ist und nicht nur eine religiöse Gestalt der sozialen, politischen und moralischen Verbesserung der Lebensumstände von Menschen.8 Keine Revolution wird das Seufzen der Kreatur je verstummen lassen. Denn viele Menschen sehnen sich nach mehr als nach einer Gesellschaft, in der ihre materiellen Bedürfnisse erfüllt sind. Es ist eben nicht wahr, dass nur jene Menschen die Sinnfrage stellen, die kein leiblich oder seelisch erfülltes Leben führen – so sehr es auch wahr ist, dass keineswegs alle Menschen die Sinnfrage stellen und sich nach Spiritualität sehnen. Religion ist mehr als der Schrei nach diesseitiger Erfüllung. Sie ist mehr als Ethik. Sie stellt uns vor letzte Fragen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wozu sind wir da? Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Ganzen? Gibt es Gott? – Es kann einem schwindlig werden, wenn man diese Fragen meditiert – auch in einer vermeintlich aufgeklärten Welt. Die Suche nach Antworten auf diese sogenannten metaphysischen Fragen, auf die uns die Naturwissenschaften keine Antworten geben können, kann aber auch berauschend sein. Das muss allerdings nicht heißen, dass Religion und Metaphysik uns den Blick und den Sinn für die Tiefenschärfe der Wirklichkeit trüben oder gar vernebeln. Im Gegenteil: sie erweitern unser Bewusstsein. Den Geistlichen unserer Kirche wächst, wenn Religion im kirchlichen Raum tatsächlich eines Tages wieder als eine im besten Sinne bewusstseinserweiternde Droge wirken sollte, eine hohe Verantwortung zu. Sie müssten nämlich zu spirituellen Mentoren, Mediatoren und Tutoren werden – mit anderen Worten: zu guten Hirten und Hirtinnen. So sehr das Evangelium Jesu Christi nüchtern macht für eine illusionslose Wahrnehmung realer Unterdrückungs-, Ungerechtigkeits- und Benachteiligungsverhältnisse und eine ungeheuere ethische Energie zur Veränderung dieser Verhältnisse freisetzt, so sehr kann es uns allein dadurch begeistern und berauschen, weil es uns den letzten Sinn und das letzte Geheimnis des Seins offenbart. Das Evangelium entrückt, wenn wir es wirklich als Offenbarung des Geheimnisses Gottes und der Welt ernstnehmen, unser Bewusstsein den Normativitäten, Gravitationskräften und Wirklichkeitswahrnehmungsweisen der Alltagserfahrung und führt uns in die Tiefe der Dinge. Das Evangelium schläfert uns also nicht ein. Es schärft unsere Wahrnehmung. Unser durch das Evangelium tiefengeschärfter Blick bohrt Löcher in den Boden der Tatsachen und sprengt Öffnungen...