E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Frietsch Resilienz und Literatur
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-911069-05-2
Verlag: resilienz-verlag.de
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Methodisch-theoretische Grundlagen
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-911069-05-2
Verlag: resilienz-verlag.de
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Resilienz ist die Fähigkeit, sich schwierigen Lebenssituationen zu stellen und gestärkt daraus hervorzugehen. Literatur (Romane, Geschichten oder Gedichte …) basiert auf Lebenserfahrung. So treffen sich Resilienz und Literatur in der ihnen gemeinsamen Lebenswelt. Dieses Buch bereitet den Weg für die Verbindung von Resilienz und Literatur. Es schafft die theoretischen und methodischen Grundlagen, wobei Hermeneutik, Dekonstruktion, Postmoderne und ihre Vordenker eine wesentliche Rolle spielen.
Das Thema ist es, ein anderes Textverständnis zu ermöglichen, ohne dass der Text von seiner Eigenart entfremdet wird.
Literatur und Resilienz ermöglicht es, unser eigenes Leben zu überdenken und neu auszurichten. Am Beispiel von Goethes Faust, Rainer Maria Rilke, Corpus Delicti von Juli Zeh und Woyzeck von Georg Büchner sowie Der Mann mit den Bäumen von Jean Giono wird dies anschaulich gezeigt.
Mit diesem Buch lege ich die methodisch-theoretischen Grundlagen dar, die es ermöglichen, Resilienz und Literatur zu verbinden. Die zu stellenden Fragen beru¨hren den Kern eines philosophischen und literaturwissenschaftlichen Diskurses. Mein Thema ist es, ein anderes Textverständnis zu ermöglichen, mit der Öffnung des Textes hin zur Lebenswelt und zu einem anderen Diskurs wie der Resilienzforschung, ohne dass der Text von seiner Eigenart entfremdet wird.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Vorwort
1?. Dasein und Resilienz
Antworten erzählen
Lebensgeschichte
Kairos
Lebendige Literatur
Vorüberlegungen zur Resilienz
Ausblick
2?. Theorieteil: Text – Interpretation – Resilienz
Strategie des Textes
Polysemisches Textgewebe
Perspektive und Welt
Perspektive und Netz
Netz, Geflecht, Ordnung
Flüssiger Sinn
Rudimentäre Metaphysik
Dynamisierung der Interpretation
Metapher
Bestandsaufnahme
Literaturinterpretation und Lebenswelt
Ähnlichkeit, Entsprechung, Differenz
Diskurshoheit
Sprechen über Grenzen
Sprachspiel
Familienähnlichkeit
Gleichsetzung
Evidenz
Kontext und Entsprechung
Analogie und Kontext
Methode und Kritik
Kritik der Hermeneutik
Verstehen und Dekonstruktion
Rückblick
Resilienz im Kunstwerk
Dekonstruierte Hermeneutik
Lebenswelt
Ort der Geborgenheit
Heterotopie
Zusammenfassung
Resilienz und Schutzfaktoren
Elf Schutzfaktoren
Resilienzstrategie als Ausblick
3?. Praxisteil: Resilienz als literarische Hieroglyphe
Faust und das Offene
Faust, die geschlossene Hand
Goethes Faust – das deutsche Nationalepos
Quellen zu Goethes Faust
Was hat das mit mir zu tun?
Das Wort und die Tat
Warum Faust?
Mephisto ist Resilienz
Rückblick
„Ist dir Trinken bitter, werde Wein“ Bewältigungsstrategie am Beispiel: Die Sonette an Orpheus von Rainer Maria Rilke
Orpheus als mythologische Gestalt
Gesang und Sonett
Hermeneutische Geschlossenheit als Programm
Dasein als Gesang
Ist dir Trinken bitter
Psychoanalytische Deutung
Resilienz-Schutzfaktoren
Resilienzstrategie
Corpus Delicti – Überwachung als Volkswille
Der Roman
Die ideale Geliebte
Moritz und die Folgen
Die Methode und ihre Methodik
Hexenjagd?
Themen Corpus Delicti
Justiz und Gesundheit
Recht auf Krankheit
Volkswille und Einzelinteressen
Flog einer über das Kuckucksnest
Suizid und Sterbehilfe
Kramer der „Fanatiker“
Resilienzstrategien
Nachbemerkung
Woyzek – Das Ende der Resilienz?
Der historische Woyzeck
Georg Büchner: 26 Jahre alt
Kohärenzgefühl (7)
Selbstwertgefühl (5)
Hardiness (8)
Wahn als Coping (10)
Resilienz ohne Resilienz
Der Mann mit den Bäumen: Immer wieder lockt die Resilienz
Trostlosigkeit, die Veränderung bedingt
Resilienzfaktoren als Resilienzstrategien
4?. Anhang: Inhaltsübersicht der Texte
Faust I
Corpus Delicti
Woyzeck
Literaturliste
Literaturwissenschaft
Literatur zum Thema Resilienz
1 Dasein und Resi lienz „Ja, das ist gewiß: 's ist gefährlich, den Schnupfen zu kriegen, zu schlafen, zu trinken; aber ich sage Euch, Mylord Narr, aus der Nessel Gefahr pflücken wir die Blume Sicherheit.“ „Das Unternehmen, das Ihr vorhabt, ist gefährlich; die Freunde, die Ihr genannt, ungewiß; die Zeit selbst unpaßlich; und Euer ganzer Anschlag zu leicht für das Gegengewicht eines so großen Widerstandes.“
Shakespeare, König Heinrich der Vierte Ein Kunstwerk beantwortet keine Fragen,
es provoziert sie;
und sein wesentlicher Sinn ist die Spannung
zwischen den widersprüchlichen Antworten.
Leonard Bernstein Wie soll ich leben? Sokrates soll der Erste gewesen sein, der die Frage stellte.4 Sie hat ihre Anziehungskraft bis heute nicht verloren. Bislang ist eine umfassende Antwort darauf noch nicht gefunden worden. Im Gegenteil: Auf die Frage nach dem „Wie“ des Lebens gibt es so viele Antworten wie Fragende. Warum aber sollte ich mir diese Frage überhaupt stellen? Ein Grund lautet: weil ich ein Mensch bin und es in meiner Natur liegt, Fragen zu stellen. Ein anderer, weil ich verstehen will, warum ich manche Schicksalsschläge erleben musste. Ein dritter Grund liegt darin, einen Weg zu finden, den Widerständen in meinem Leben zu begegnen. Ob ich entscheidende Antworten bei mir oder bei anderen finde, ist unerheblich, denn alle haben eines gemeinsam, sie betreffen mein Leben. Leben ist nichts Abgeschlossenes, sondern verändert sich. Die verschiedenen Antworten zu kennen, hilft mir, meine eigene Antwort zu finden, um mein Leben neu auszurichten. So war die Frage nach dem richtigen Leben bei antiken Philosophen wie den Epikureern und Stoikern äußerst beliebt. Das Streben nach Glückseligkeit unter der Prämisse von Vernunft (Epikur), das Vertrauen auf das Schicksal (Seneca) oder die Eindämmung von Vernunft und Leidenschaft galt ihnen als Schlüssel zu einem wahren Leben. Der Essayist und Philosoph des 16. Jahrhunderts, Michel de Montaigne, meint nun, dass in der eigenen Individualität die Möglichkeit liege, „seine“ Antworten auf diese Frage zu finden. Sie solle zu „Seelenruhe“ und Glück führen. Für den zeitgenössischen Philosophen Wilhelm Schmid liegt die Antwort im Innehalten und Nachdenken, das er als „Lebenskunst“ bezeichnet (Philosophie der Lebenskunst). Michel Foucault nimmt eine Ästhetik der Existenz an, die zum Leben gehört. Schmidt und Foucault berufen sich beide auf Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche, deren Antworten ebenfalls im Subjekt zu finden sind, oder wie es bei Nietzsche ausdrücklich heißt, der zu werden, der man selbst ist. Karl Marx fordert die Aufhebung der Entfremdung des Menschen von sich selbst und von der Umwelt als Antwort ein (Das Kapital ). Peter Sloterdijk sieht die Möglichkeit einer Lebensgestaltung und Lebensänderung darin, an sich zu arbeiten und ein Übender oder Olympionike des Geistes zu werden (Du musst dein Leben ändern). Weitere Antworten sind im Laufe der Jahrhunderte gegeben worden und reichen von: abstrakt-denkerisch („Wiener Kreis“) bis zu religiös-gläubig (Augustinus). Eine allgemeine Antwort auf die Frage: Wie soll ich leben? kann es nicht geben. Das lehrt der kurze Überblick. Ich muss selbst entscheiden, was ich möchte. Es liegt an mir, den Herausforderungen meines Daseins zu begegnen und dabei Erfahrungen zu sammeln. Diese kann ich, wenn ich das möchte, an andere weitergeben. Auch kann ich davon erzählen, was ich wurde, welche Fehler ich machte und welche Entscheidungen ich traf. Eine Antwort auf die Frage wie ich leben soll besteht also darin, mein Leben zu leben und über das Wie zu erzählen bzw., sollte ich besonders mutig sein, sogar davon zu schreiben. Die romanhaften Lebenserinnerungen Leben, um davon zu erzählen (Vivir para contarla) von Gabriel García Márquez tragen Leben und Erzählen im Titel. Márquez hat erkannt, dass beides zusammengeht. Auch Goethe weist in seinen Lebenserinnerungen Dichtung und Wahrheit in diese Richtung, denn er verbindet Erzählung mit Wahrheiten. Beide Werke handeln von Schicksalsschlägen und Leid ebenso wie von Glück und Zufriedenheit. Ihre Bücher geben uns zudem Einblick in ein anderes Schicksal. Autoren schreiben, um an ihrem Leben teilhaben zu lassen und ihr „Wie“ zum Leben offenzulegen. Dass dies auf verschlüsselte Art und Weise geschehen kann wie in Gullivers Reisen (Gulliver's Travels) von Jonathan Swift oder distanziert wie in Gustav Flauberts Roman Madame Bovary oder brutal selbstoffenbarend und exhibitionistisch wie bei Karl Ove Knausgård, dessen sechsbändiges, mehrere tausend Seiten umfassendenes Opus magnum mit den Buchtiteln Sterben, Lieben, Spielen, Leben, Träumen und Kämpfen die Fülle an Möglichem zeigt. Schreiben und Leben sind so miteinander verzahnt, dass sie nicht voneinander getrennt werden können. Literatur, Leser und Autor haben eine gemeinsame Beziehungsebene, die alles miteinander verbindet: die Lebenswelt. Wie fremd der Text auch sein mag, er gehört zum gleichen Universum, in dem wir uns alle befinden. Literatur kann dann zu einem Wegweiser werden, um mich in meiner Welt und der Lebenswelt zurechtzufinden. Das bedeutet, dass ich in Handlungen nicht nur einen Sinn sehen kann, sondern auch eine Absicht oder ein Mittel, um etwas zu erreichen. Was aber mache ich, wenn mein Gegenüber, hier der Text, stumm ist? Wie bringe ich ihn zum Sprechen? Indem ich in einen Dialog mit ihm trete und dadurch meine Stimme leihe. Ich spreche also mit dem Text und mache ihn durch mich lebendig. Das geschieht im Allgemeinen durch Fragen, die ich an ihn richte. Im übertragenen Sinne werde ich zu Parzival, der zum Gralshüter aufsteigt, sofern er die richtige Frage stellt. Doch gelingt ihm das nicht sofort. Erst bei der zweiten Begegnung mit seinem Oheim, dem Gralshüter Anfortas, bringt er das nötige Einfühlungsvermögen mit und stellt die entscheidende Frage: „Oheim, was fehlt dir?“ (Oheim, was wirret Dir?)5 Zunächst kümmerte er sich nicht um das Wohlergehen seines Gegenübers, was angesichts des schlechten Zustands von Anfortas, der an einer unheilbaren Wunde litt, angemessen gewesen wäre. Parzival versäumt es, Höflichkeit („höveschkeit“), Anteilnahme und Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, genau das aber könnte Anfortas aus seiner misslichen Lage retten. Der Gral, der Anfortas jedes Jahr feierlich präsentiert wird, hilft und verdammt ihn gleichzeitig dazu, am Leben zu bleiben. Anfortas ist weder in der Lage angemessen zu leben noch zu sterben. Er wartet auf Erlösung. Parzival wird, nachdem der die erlösende Frage nicht stellt, von der Burg gewiesen und erhält erst nach langer Irrfahrt eine weitere Gelegenheit, Anfortas nach seinem Befinden zu befragen. Danach tritt Parzival das Erbe an und wird zum Gralshüter. Wenn ich sinnbildlich in der Rolle eines Parzival agiere, muss ich die richtige Frage an den Text stellen, damit er sich mir öffnen und mitteilen kann. In diesem Sinne bedarf es auch eines zweiten Lesens (!), denn erst denn kann ich einen Text für mich und in Bezug auf mein Befinden deuten. Erst wenn der Lesende mit dem Text kommuniziert, erschließt sich dieser. Literatur ist aber nicht Philosophie oder Psychologie.6 Sie gibt keine Antworten, selbst wenn sie den Eindruck vermittelt, es zu tun. Literatur besteht aus Geschichten, verwendet Metaphern und Allegorien bzw. gibt Hinweise in Form von Gedanken und Gesprächen oder sie teilt Erfahrungen mit, beispielsweise in Form von Aphorismen oder Spruchweisheiten. Literatur ist aber keineswegs zweckgebunden, vielmehr entzieht sie sich als Kunstwerk der Zweckhaftigkeit. Selbst wenn es den Anschein erweckt – das ist das Paradoxe an ihr –, dass sie aus Antworten bestünde, trifft das nicht zu, weil sie die Fragen nicht kennen kann, die an sie gestellt werden. Jede Lektüre ist also von meinem Interesse und meiner Frage gelenkt. Jeder Text aber lebt aus der Differenz zu seinem Interpreten, der ihm nachgerichtet ist, denn die Interpretation kommt immer einen Schritt zu spät, weil die Literatur bereits dort war, wo sich die Interpretation abspielt. Antworten erzählen Selbst wenn ein Text als Versuchsanordnung um ein bestimmtes Thema geschrieben wurde, bedeutet es nicht, dass ich der Intention des Autors folgen muss. Es handelt sich um ein literarisches Werk und nicht um einen wissenschaftlichen Text. Literatur ist frei in ihrer Intentionalität. Und Literatur ist gebunden, wenn ich mit ihr in Interaktion trete. Aber auch das ist ein freier Akt des Lesens. Und die Lektüre wird sich, auch nachdem ich sie genügend befragt habe, sofort wieder von der Last meiner Fragen befreien. Schließlich gibt es einen gemeinsamen Nenner: Jede Antwort erzählt eine Geschichte. Ich selbst muss entscheiden, ob ein Text mir eine Antwort auf meine Frage gibt oder nicht. Wenn nicht,...




