E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Frietsch Poesie trifft Resilienz
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-911069-07-6
Verlag: resilienz-verlag.de
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über die Heilkraft des Poetischen
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-911069-07-6
Verlag: resilienz-verlag.de
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Alltag ist Prosa. Der besondere Moment im Alltag ist Poesie. Poesie wirkt wie ein Gespräch unter guten Freunden und wie Trost für die Seele. Deshalb kann von der heilenden Kraft des Poetischen gesprochen werden.
Alle Literatur entspringt der Lebenswelt. Somit basiert jeder Text und jedes Gedicht auf Lebenserfahrung, die lesbar ist. Das Lesen erfolgt hier mit dem Schlüssel der Resilienz. Resilienz ist Widerstandskraft und Strategie in schwierigen Lebenssituationen. Dieses Buch ist kein Ratgeber, sondern ein Buch über gelebte Resilienz-Erfahrungen, die dazu beitragen, sich in der Welt wieder geborgen zu wissen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Ginkgo
Gedichte . Lyrik . Poesie
Gedicht und Poesie
Brücken bauen
Aufbau des Buches
Reise in das Seelenland
Wie hängen Poesie und Resilienz zusammen?
Interpretatorische Ansätze
Resilienz und der Andere
Wolle die Wandlung
Poesie trifft auf Resilienz:
Zuversicht
Böse und Gut
Trost und Hilfe
Resilienz der Zuversicht
Selbstbestimmung:
Vergänglichkeit und Leben
Prometheus
Selbstbestimmung
Resilienz der Selbstbestimmung
Gestaltung:
Gestaltung und Resilienz
Begriff und Wirklichkeit
Gesundung durch Abschied
Resilienz der Gestaltung
Spiritualität:
Nicht getrennt sein
Im Ganzen sein
Resilienz der Spiritualität
Angst überwinden:
Überwindung durch Treu und Redlichkeit
Jahrmarkt der Eitelkeit
Angst vor dem Beherrschenden
Resilienz der Vermeidung
Miteinander:
Geborgenheit aus der Natur
Zeitloser Ort
Resilienz des Miteinander
Ein Plädoyer für die Dichtkunst
Abschließendes zu Poesie und Resilienz
Was ein Gedicht ist
Wegdichten
Überforderung des Lesers
Noch ein Wort
Woraus ein Gedicht besteht
Resilienz ist mehr als ein Begriff
Tabelle der Resilienzfaktoren
Resilienzfaktoren aus der Forschung
Nachwort
Literaturliste
Gedichte . Lyrik . Poesie
Auf dem Tische Brot und Wein.
Georg Trakl Mein Großvater war keiner, dem Poesie in die Wiege gelegt worden war. Er hatte kein leichtes Leben, machte aber das Beste aus seinen Möglichkeiten. Früh wurde seine Familie auseinander gerissen und die Kinder auf Onkel und Tanten verteilt. Er wuchs bei einem Onkel auf und sah seine Geschwister erst nach Jahren wieder. Manche ihrer Namen hatte er sogar vergessen. Mein Opa erlebte den Ersten und Zweiten Weltkrieg, war Aushilfsbriefträger, machte eine Lehre und heiratete. Gemeinsam mit meiner Oma wurde ein Geschäft aufgebaut, das Jahrzehnte bestand. Er erlebte den Zusammenbruch mehrerer Währungssysteme, den Niedergang des Kaiserreiches, die Wirren der Weimarer Republik, die NS-Diktatur und die Entwicklung Deutschlands zur Demokratie. Er besaß religiöse Bücher, ob er sie gelesen hat, weiß ich nicht; er war ein geschickter Handwerker, saß einige Jahre im Gemeinderat, gehörte örtlichen Vereinen an und lebte sein Leben als Vater von drei Töchtern und Großvater von drei Enkelkindern. Er war nüchtern und stur. Ein echter Schwarzwälder. Große Gefühlsregungen waren ihm fremd. Nach seinem Tod fand ich in einem seiner Briefe an meine Großmutter folgende Zeilen, die eine ganz andere Seite von ihm offenbaren: Du bist mein, ich bin dein. Dessen sollst du gewiss sein. Du bist eingeschlossen in meinem Herzen, verloren ist das Schlüsselchen: Du musst auch für immer darinnen bleiben. Dû bist mîn, ih bin dîn. a des solt dû gewis sîn. a dû bist beslozzen b in mînem herzen, b verlorn ist das sluzzellîn: a dû muost ouch immêr darinne sîn. a Die Originalverse wurden 1180, also vor über tausend Jahren, verfasst. Es ist bis heute eines der bekanntesten Liebeslieder. Den Verfasser kennen wir nicht. Ob es sich tatsächlich um ein Liebesgedicht oder ein religiöses Gedicht handelt, kann nicht eindeutig entschieden werden. Es ist aber bemerkenswert, dass so wenige Zeilen so viele Jahrhunderte überdauert haben und die Menschen immer noch berühren. Es ist möglich, dass mein Großvater mit diesen Zeilen, die er aus einem Schützengraben des Ersten Weltkriegs schrieb, das Herz meiner Großmutter erobert hat. Immerhin waren die beiden fast 40 Jahre lang verheiratet, bevor meine Oma starb. Mein Großvater überlebte sie um fast 20 Jahre. Geheiratet hat er nicht mehr. Aber was macht dieses Gedicht zu einem so besonderen und die Zeit ignorierenden Gedicht? Es berührt durch seine Einfachheit das Herz. Sehen wir näher hin. Es findet sich ein schlichtes Reimschema (aa bb aa) und nur eine Strophe. Das langgezogene und betonte „î“ lenkt eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich. Ansonsten sind keine besonderen Merkmale auszumachen außer einer rhythmisierten Grundmelodik, in der sich Jambus und Daktylus abwechseln. Wird das Metrum mitbetrachtet, dann zeigt sich das Gedicht komplexer als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Es hat eine originelle Form, die mit dem eher simpel gehaltenen Inhalt kontrastiert. Das angesprochene Reimschema kennt man von Büttenreden oder launigen Versvorträgen. Bekannt ist es beispielsweise aus Goethes Faust: Da steh ich nun, ich armer Tor! a Und bin so klug als wie zuvor; a Heiße Magister, heiße Doktor gar b Und ziehe schon an die zehen Jahr b Herauf, herab und quer und krumm c Meine Schu¨ler an der Nase herum c Genau so stellt man sich ein Gedicht vor und versucht dies nachzuahmen, beispielsweise für einen Geburtstagsspruch: Wir wünschen dir, noch viele Jahr und dass du kommst mit uns gut klar. Du bist ein Freund, den wir gern seh’n sonst würden wir zu ’nem andern geh’n. Zweierlei fällt auf. Zuerst der überaus simple Reim (Jahr / klar; seh’n / geh’n) und die Hilflosigkeit beim Versmaß (statt „gerne“ heißt es „gern“ und statt „einem anderen“ heißt es: „’nem andern“). Die Verse sind nicht das, was künstlerisch wertvoll genannt werden kann, aber sie erfüllen ihren Zweck. Nur wenige von uns sind zum Dichter berufen. Alle anderen schreiben Gedichte, wenn überhaupt, nur zu besonderen Anlässen wie einer Hochzeit oder einem Geburtstag. Einfach sollen sie sein und unterhaltsam bis witzig; dennoch, es ist eine Aufgabe, die so manchen ins Schwitzen bringt. Das Wichtigste ist der Reim, heißt es. Gedichte müssen sich reimen. Das mag stimmen oder auch nicht, denn ein Gedicht ist weit mehr als Reim und Metrum, ein Gedicht ist Poesie. Im Film Der Club der toten Dichter von 1989 lässt der Englischlehrer John Keating, gespielt vom legendären Robin Williams, seine Schüler sämtliche Seiten aus einem Lehrbuch herausreißen, die Anweisungen zum Verständnis eines Gedichts enthalten. Keating plädiert für die Unmittelbarkeit, Kraft, Schönheit und Macht von Versen. Es geht ihm um das persönliche Erleben und nicht um das Auswendiglernen von Stoff. Im Film werden Gedichte von Walt Whitman, Henry David Thoreau oder Robert Frost zitiert. Keating, ganz in seinem Element als Anwalt der Poesie, lässt sich von seinen Schülern mit dem Vers O Captain! My Captain! ansprechen, ein Vers aus Walt Whitmans gleichnamigem Gedicht von 1865. Der Film stellt der konservativen Lehrmeinung eine revolutionäre Selbstbestimmung gegenüber. Oder um es mit Walt Whitmans Versen auszudrücken: „Du bist hier, damit das Leben blüht / und die Persönlichkeit [...]“ Gedicht und Poesie
Poesie ist eine kulturelle Errungenschaft, die sich von bloßer Meinungsäußerung unterscheidet. Wir sprechen nicht: „Oh Edler, reiche mir die Butter fein .. . “, sondern sagen: „Bitte gib mir die Butter.“ Wir sagen nicht: „Du freundlicher Geselle, wie du uns kutschierest in aller Schnelle zum nächsten Haus der weinseligen Freude, soll ein Geschenk für Gaumen und Herzen sein!“ Sondern wir instruieren den Taxifahrer, uns zur nächsten Kneipe zu fahren. Das klingt nicht nur prosaisch. Das ist es auch. Der Alltag ist Prosa. Der besondere Moment im Alltag ist Poesie. Und doch ist es nicht ganz so einfach. Denn jeder von uns hört jeden Tag Gedichte und erfreut sich daran. Wir hören mehr Reime als Generationen früher, nehmen mehr Poesie in uns auf, als Menschen vor hundert Jahren und wir fühlen uns von Poesie getröstet, gestärkt, berührt, inspiriert oder herausgefordert. Die Rede ist von all den Liedern und Songs, die wir im Radio oder über eine Streaming-App empfangen. Jedes Lied ist ein Gedicht. Und manchmal ist ein Dichter auch Sänger oder Nobelpreisträger wie Robert Allen Zimmermann, besser bekannt als Bob Dylan. Sobald wir bei Liedern mitsingen, werden wir zu Mit-Dichtern. Vielleicht verändern wir sogar einige Verse, damit sie unterhaltsamer klingen oder singen „alberne“ Schlager nach, um ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Wie sonst könnten Bierzeltmelodien („Oans, zwoa, gsuffa“) oder Ballermann-Hits („Hölle, Hölle, Hölle“) oder Songs wie „Atemlos“ überleben? Im Prinzip sind es Gedichte, über deren Qualität man gar nicht erst urteilen sollte. Gedichte begegnen uns jeden Tag, nicht nur zu bestimmten Anlässen. Sind Gedichte zu einem Teil unseres Lebens geworden? Auf jeden Fall! Sie sind nicht nur Teil davon, sondern begleiten uns als Ratgeber, Spaßmacher, Taktgeber, Helfer in der Not oder Inspiratoren. Es gibt auch Gedichte, die etwas Besonderes ausdrücken, sodass sie für uns eine wichtige Bedeutung bekommen. Nehmen wir an, wir haben als Kind vor dem Einschlafen gebetet: „Müde bin ich, geh’ zur Ruh’, Schließe meine Äuglein zu. Vater laß die Augen dein über meinem Bette sein. [...]“, dann hat das nicht nur unsere Kindheit geprägt, sondern gibt uns auch heute noch einen Moment an Geborgenheit zurück. Außerdem hat jeder ein Gefühl dafür, ob ein Gedicht ihn anspricht oder nicht. Man muss mit dem Dichter nicht übereinstimmen. Ja, wir müssen überhaupt nichts von Reim, Versmaß oder Metrik verstehen. Allein die Aussage „das gefällt mir“ zeigt eine Verbindung, die man zwar benennen, aber nicht näher begründen kann. Ich weiß, dass es Zweckgedichte gibt, also solche für einen bestimmten Anlass. Ich weiß, dass es auch Gedichte gibt, die etwas ausdrücken, das nicht an eine Absicht gebunden ist, sondern mehrdeutig und vielschichtig wirkt. Sobald wir uns fragen, warum das so ist, werden wir...




