Fried | Mitunter sogar Lachen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Fried Mitunter sogar Lachen

Limitierte Geburtstagsausgabe Ergänzt mit Bildern aus seinem Leben
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8031-4309-9
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Limitierte Geburtstagsausgabe Ergänzt mit Bildern aus seinem Leben

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-8031-4309-9
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Erich Fried erinnert sich und erzählt Geschichten aus seinem Leben: Von den kompliziert zusammengesetzten Flüchen der Großmutter, die der Enkel schneller singt, als sie fluchen kann. Von seiner Laufbahn als Wunderkind und der ersten Einführung in Grundzüge politischen Wissens nach dem »blutigen Freitag« in Wien, die er dem Vater zu verdanken hat, der befürchtet, sein Sohn könnte in »kommunistisches Fahrwasser« geraten. Vom Einmarsch Hitlers in Österreich, der Flucht nach London und den verzweifelten Versuchen, die Familie und andere zu retten. Und nicht zuletzt von den zarten Erinnerungen an das Kindermädchen Fini.

Erich Fried, geboren 1921 in Wien, floh 1938 nach London, wo er bis zu seinem Tod 1988 lebte. Wegen seines Gedichtbands »und Vietnam und« (1966) zunächst heftig umstritten, wurde er spätestens mit den »Liebesgedichten« (1979) zum meistgelesenen deutschsprachigen Lyriker seit Bertolt Brecht. Ausgezeichnet mit vielen Literaturpreisen und gewürdigt als ?idealer Übersetzer? Shakespeares.
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Wenn ich von meiner Großmutter erzähle, fangen fast alle Geschichten, ganz gleich wie sie enden, irgendwie komisch an.

Vielleicht schon, weil diese grauhaarige, später weißhaarige, sehr kleine und zierliche Frau, die mich in meinen ersten Jahren erzog, die ich lieber hatte als Vater und Mutter und die sich halbnackt oder doch nicht anständig angezogen fühlte, wenn sie nicht ihr schwarzes Samtband um den Hals gelegt hatte, so phantasievoll und ausführlich schimpfen konnte, daß sie oft sogar meine keineswegs auf den Mund gefallenen Eltern zum Schweigen brachte. Nur ich hatte mir meine Beobachtung, daß die ärgsten Verwünschungen und Schimpfreden sich immer genau derselben Redensarten und Worte bedienten, zunutze gemacht, indem ich ihr ihre ewig gleichen Flüche, die ich natürlich längst auswendig wußte, viel schneller vorsagte, als sie selbst sie schleudern konnte. Ja, einige Zeit später, als ich etwas größer geworden war, sang ich meiner Großmutter ihre eben erst angefangenen Schimpfreden zur Melodie der Serenade von Toselli vor, wobei ich nur wenige Worte weglassen mußte. Dann versuchte meine Großmutter, sich das Lachen zu verbeißen, aber vergeblich. Zuletzt prustete sie doch heraus, worauf sie sofort wegen dieses ihres Loslachens wütend auf sich war und sich und alle Familienmitglieder einzeln verfluchte.

Gewiß, schon bei kurzem Nachdenken kann man sich fragen, warum sie sich nur noch durch ihr Schimpfen Luft machen konnte, und das ist dann nicht mehr so lustig, aber trotzdem, sogar ich finde es einen Augenblick lang heute noch komisch, wenn mir ihre vielsilbig zusammengesetzten Schimpfwörter unversehens wieder einfallen, die sich an Länge sogar mit dem bei uns in Österreich berühmten oder berüchtigten Wort Donaudampfschiffahrtsgesellschaftsdampfer messen konnten.

Die Geschichten von meiner Großmutter sind auch nicht nur komisch, weil sie noch an allerlei altes Zeug glaubte, zum Beispiel, daß man, wenn man ein Katzenhaar schluckt, Epileptiker wird oder, wie sie es nannte, die Hinfallende Krankheit kriegt, oder daß man unweigerlich sterben muß, wenn man einen Kirschkern verschluckt, weil einem dann im Magen oder im Blinddarm ein Kirschbaum zu wachsen beginnt. Nein, sie hatte auch ihre ganz besonderen Eigenheiten, von denen mich eine allerdings mehr zu halbentsetztem Kichern als zum Lachen brachte. Sie konnte sich nämlich ganz unglaublich eindrucksvoll totstellen, was sie immer am Morgen tat, wenn ich am Abend zuvor nicht brav gewesen war und sie mich zuletzt noch mit den Worten bedacht hatte: »Wart nur, das wird dir schon leidtun, wenn ich erst tot bin.«

Das alles war eigentlich in Wirklichkeit so wenig komisch wie das Fluchen, und doch erinnere ich mich heute noch, daß in der Zeit bis etwa zwei Jahre vor dem letzten Krieg alle Geschichten, die mit meiner Großmutter zusammenhingen, komisch anfingen, auch wenn es nicht darum ging, daß sie mit den Ohren wackeln konnte, ohne das Gesicht auch nur im mindesten zu verziehen, oder daß sie mit ihrem blinden Auge nach einer ganz anderen Richtung zu schauen schien als mit dem sehenden. Die erste komische Geschichte war schon der Bericht von der Geburt meiner Großmutter.

Nämlich, als sie geboren wurde, am 27. Mai 1864, da war sie ein Zwilling und ein Siebenmonatskind, und als Siebenmonatskind am Leben zu bleiben, das war damals noch gar keine so einfache Sache, sagte sie.

Ja, und der andere Zwilling, auch ein Mädchen, war tot oder während der Geburt gestorben, und im Haus herrschte große Verwirrung (meine Urgroßmutter bekam ihre Kinder natürlich nicht im Krankenhaus, wo damals noch das Kindbettfieber die jungen Mütter dutzendweise umbrachte, sondern in ihrem eigenen Haus und in ihrem eigenen Bett). Im Haus also herrschte große Verwirrung und Aufregung; die Hebamme, einige weibliche Familienangehörige und Dienstboten und meine Ururgroßmutter eilten hin und her, hatten alle Hände voll zu tun oder machten sich doch allerlei zu schaffen, schon um sich ihre Wichtigkeit zu bestätigen. Nun, eine oder zwei von ihnen ersuchten einen Onkel meiner neugeborenen Großmutter, doch von einem Stuhl, auf den er sich gerade gesetzt hatte, möglichst schnell wieder aufzustehen, er habe nämlich soeben auf meiner Großmutter Platz genommen, die damals natürlich noch nicht meine Großmutter war, die aber dadurch, daß ihr Onkel sich auf sie gesetzt hatte, um Haaresbreite nie mehr meine Großmutter geworden wäre.

Wie gesagt, alle Geschichten von meiner Großmutter fangen irgendwie komisch an, was jedoch durchaus noch nicht heißt … Aber ich will nicht vorgreifen.

Ihr Onkel stand natürlich sofort wieder auf und entschuldigte sich, und zwar in seiner Verwirrung mit den Worten, er habe geglaubt, das Kind, das auf dem Stuhl lag, sei das tote Kind gewesen und nicht das lebende. Aber das sagte er offenbar nur, um irgendetwas zu sagen, denn schließlich war es ja auch nicht Sitte, sich auf ein herumliegendes totes Kind zu setzen, und außerdem kann eigentlich ein neugeborenes Kind, tot oder lebendig, keine besonders bequeme Sitzgelegenheit gewesen sein. Wie immer dem auch gewesen sein mag, meiner Großmutter scheint der kleine Vorfall weiter nicht geschadet zu haben, obwohl der psychologisch aufgeklärte Mensch unserer Zeit, der weiß, was ein frühes Kindheitstrauma ist, sich natürlich verpflichtet fühlen muß festzustellen, daß die Komik dieser Episode Spätfolgen keineswegs ausschließt. Zum Beispiel könnte die bis in ihr hohes Alter in beträchtlichem Maß feststellbare Bereitschaft meiner Großmutter, sich trotz ihrer geringen Größe lautstark und durch heftiges Schimpfen gegen allerlei Mißlichkeiten und vor allem gegen größere oder mächtigere Menschen zur Wehr zu setzen, durchaus mit diesem ersten, wenn auch unfreiwilligen Unterdrückungsversuch eines viel größeren Menschen zusammenhängen oder doch einigermaßen einleuchtend in Zusammenhang gebracht werden. Überhaupt sagt die Tatsache, daß die Geschichten von meiner Großmutter immer so komisch anfangen, weiter gar nicht viel.

Gewiß, ihr Bericht, wie einmal, lange vor dem Ersten Weltkrieg, als sie einen kleinen Schokoladenladen führte, ein richtiger, leibhaftiger Erzherzog vor dem Schaufenster stehenblieb, die Pralinen und Bonbonnieren eingehend betrachtete und ihr sogar durch das Fenster zulächelte, entbehrt nicht einer gewissen Komik, besonders, weil sie dann – immer mit den gleichen Worten, genau wie beim Schimpfen – jedes Mal hinzufügte, wenn er wirklich eingetreten wäre und etwas gekauft hätte, dann hätte das Leben der Familie eine ganz neue Wendung genommen, denn dann wären sie Kaiserlich-Königliche Hoflieferanten geworden, was sie auch auf ihr Ladenschild geschrieben hätten, und dann wäre alles anders gekommen; dann hätte mein Großvater sich nicht so zu plagen brauchen und wäre sicher nicht so jung gestorben, und wer weiß, wo wir heute alle schon wären, vielleicht in Paris oder gar in Glasgow. Glasgow, wo sie als ganz jungverheiratete Frau einmal mit meinem Großvater gewesen war, war aus irgendeinem Grund, den ich nie herausgefunden habe, so etwas wie das Ziel ihrer Wünsche. Und tatsächlich hätte eine Übersiedelung nach Glasgow, von der ich allerdings nicht weiß, wie eine Österreichische Hoflieferantenlaufbahn dorthin hätte führen sollen, ihr Schicksal wirklich ganz anders gestaltet und ihr eine andere Reise erspart.

Nun, der Erzherzog überlegte es sich anders und ging weiter, ohne einzutreten. Aber das war nicht die einzige Erinnerung meiner Großmutter an die österreichisch-ungarische Monarchie. Nein, komischerweise und gelegentlich, als ich noch ein Kind war, zu meiner nicht unbeträchtlichen Verwirrung, hatte meine Großmutter auch der längst abgeschafften Währung des alten kaiserlichen Österreich die Treue gehalten: Sie rechnete nicht wie andere Menschen in Schillingen und Groschen, sondern immer noch in Gulden, Kronen, Kreuzern und Hellern, wobei besonders ihre Rechenmünzen wie Fünferl und Sechserl mir unlösbare Rätsel aufgaben.

Nicht, daß meine Großmutter in dieser Hinsicht völlig unelastisch gewesen wäre. Als die Inflation, die in meine ersten Kindheitsjahre fiel, vorüber war, hatte sie sich nachträglich entschlossen, in Inflationsbeträgen zu rechnen. Hundert Schilling zum Beispiel waren in ihrem Sprachgebrauch damals eine Million, ein Zehngroschenstück waren tausend Kronen. Zum richtigen Gebrauch der Worte Schilling und Groschen ging sie erst viel später über, gerade als diese Schillingwährung durch den Einmarsch der Hitlerarmee, den sogenannten Anschluß Österreichs an das Dritte Reich, abgeschafft und durch Reichsmark und Reichspfennige ersetzt worden war. Nun ja, auch diese Umstellung meiner Großmutter könnte man vielleicht zur Not noch komisch nennen, obwohl die politischen Entwicklungen, die sich in den Währungsänderungen spiegelten, keineswegs sonderlich komisch waren.

Auch an sich wenig komische Eigenschaften meiner Großmutter, wie ihre Ungeduld sich selbst gegenüber, konnten sich in komisch anmutender Form äußern. Daß sie zum Beispiel, wenn sie nur einmal oder zweimal niesen mußte, »Helf Gott!« zu sich sagte, beim dritten Mal aber: »Helf … Ach was, zerspring!« Und auch die Geschichte von dem nach einer Staroperation blindgebliebenen Auge, mit dem sie im Alter immer nach einer ganz anderen Richtung Ausschau zu halten schien als mit seinem lebenden Zwilling, dem sehenden Auge, und das sie, wann immer sie sich im Spiegel sah, wegen seines »blöden Blickes« beschimpfte, ist eigentlich gar nicht...


Erich Fried, geboren 1921 in Wien, floh 1938 nach London, wo er bis zu seinem Tod 1988 lebte. Wegen seines Gedichtbands 'und Vietnam und' (1966) zunächst heftig umstritten, wurde er spätestens mit den 'Liebesgedichten' (1979) zum meistgelesenen deutschsprachigen Lyriker seit Bertolt Brecht. Ausgezeichnet mit vielen Literaturpreisen und gewürdigt als ›idealer Übersetzer‹ Shakespeares.



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